Einführung
Einführung
Dieses Gedenkbuch ist den Abgeordneten aus Südwestdeutschland gewidmet, die von 1919 bis 1933 und nach 1945, demokratisch gewählt (mit Ausnahme der von den Besatzungsmächten eingesetzten vorläufigen Volksvertretungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs), in den diversen Parlamenten im Südwesten, in Berlin und Bonn saßen. Sie alle hatten unter nationalsozialistischer Verfolgung zu leiden, wenn auch in unterschiedlicher Form. Diese Verfolgung musste quellenmässig nachweisbar sein und durfte nicht nur auf Selbstzeugnissen beruhen.
Die wichtigsten Quellengattungen waren dabei die Entnazifizierungs- und die Wiedergutmachungsakten in den diversen Archiven auf Landes- und auf Bundesebene. Zeitgenössische Zeitungsberichte, Briefe aber auch andere Überlieferungen wurden ebenfalls in akribischer Kleinarbeit ausgewertet. Eine besondere Herausforderung stellte die Suche nach Photographien der einzelnen Abgeordneten dar. Hier sieht die Quellenlage für den alten badischen Landtag sehr viel besser aus als für den früheren württembergischen Landtag. Trotzdem ist es gelungen, für fast alle Abgeordnete ein Photo zu finden. Vielleicht finden wir durch diese Veröffentlichung noch die restlichen 36 fehlenden Photos. Es wäre schön, wenn wir den verfolgten Abgeordneten im wahrsten Sinne des Wortes wieder ein Gesicht geben könnten.
Allerdings müssen wir uns angesichts der Quellenlage darüber im klaren sein, dass wir nicht mit letzter Sicherheit sagen können, dass wir alle verfolgten Abgeordneten erfasst haben. Gleichzeitig haben wir alle Abgeordneten nicht in das Gedenkbuch aufgenommen, die zwar eindeutig verfolgt worden waren, sich aber aus den verschiedensten, für uns heute nicht mehr bestimmbaren und zu bewertenden Gründen dem NS-Regime zugewandt haben, indem sie beispielsweise in die NSDAP eingetreten sind oder einen Aufnahmeantrag gestellt haben, der aber abgelehnt wurde.
Im Einzelfall führte dies durchaus zu kontroversen Diskussionen. Wenn allerdings ein politisch verfolgter Abgeordneter im Zweiten Weltkrieg selbst die Gestapo einschaltete und mit antisemitischen Vorwürfen agierte, um einen Nachbarschaftsstreit zu lösen, haben wir uns gegen eine Aufnahme entschieden. Dasselbe galt für einen mutigen Abgeordneten, der sich in einer Elternversammlung Ende der dreißiger Jahre offen gegen die Schulpolitik des Regimes äußerte und dafür gemaßregelt wurde. Allerdings begleitete er dann gegen Ende des Zweiten Weltkrieges einen Deportationszug von jüdischen Holländerinnen und Holländern nach Theresienstadt.
Welche 'Verfolgungskriterien' haben wir dem Gedenkbuch zugrundegelegt? Wir haben uns dabei am Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vom 18. September 1953 orientiert. In der amerikanischen Besatzungszone hatte es bereits kurz nach Kriegsende entsprechende Gesetze in den einzelnen Ländern gegeben, darunter auch in Württemberg-Baden, die nun auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt wurden. So hatte z.B. der Stuttgarter Landtag das Gesetz Nr. 29 vom 31. Mai 1946 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege verabschiedet.
Das Bundesergänzungsgesetz definierte drei wesentliche "Schadenstatbestände":
"Erster Titel: Schaden an Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit
Zweiter Titel: Schaden an Eigentum und Vermögen
Dritter Titel: Schaden im beruflichen und wirtschaftlichen Fortkommen."
Selbstverständlich wurden auch Abgeordnete aufgenommen, die aufgrund der nationalsozialistischen Rassenpolitik emigrieren mussten oder Abgeordnete, die aus berechtiger Sorge um einen "Schaden an Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit" rechtzeitig das Gebiet des Deutschen Reiches verlassen hatten.
Die Einschätzung des Parlamentarismus durch die Nationalsozialisten konnte man eindrücklich in dem entsprechenden Artikel in Meyers Lexikon von 1940 nachlesen: "So wurde der P(arlamentarismus, T.S.) geradezu zu dem Forum, vor dem die verschiedenartigsten Meinungen sich gegeneinander austobten und jede Einigkeit praktisch verhinderten. Er blieb ein totes, konstruiertes Schema, das es in der Weimarer Republik ermöglichte, daß im Reich und in den dt. Ländern Regierungen der verschiedensten Parteirichtungen gleichzeitig am Ruder waren und, da die Minister von diesen Länderparlamenten völlig abhängig waren, sich gegenseitig aufs heftigste befehdeten. In Preußen hatte man eine sozialdemokratische, in Baden eine zentrumsparteiliche, in Bayern eine volksparteiliche, in Mecklenburg eine deutschnationale und in Thüringen eine nationalsozialistische Regierung. Das Gegeneinander der Regierungen gefährdete die Einheit des Reiches und vereitelte von vornherein jede Hingabe eines einigen Volkes an seine geschichtl. Sendung."
Wie immer in Diktaturen legitimierte ein Zitat des jeweiligen Herrschers die inhaltlichen Positionen. In diesem Fall war es Adolf Hitler, der das Führerprinzip gegen den Parlamentarismus stellte: "Indem das parlamentarische Prinzip der Majoritätsbestimmung die Autorität der Person ablehnt und an deren Stelle die Zahl des jeweiligen Haufens setzt, sündigt er wider den aristokrat. Grundgedanken der Natur."
Unter diesen Umständen war es klar, dass die Vertreter des Parlamentarismus und der sie tragenden Parteien zu Hauptzielscheiben der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik wurden. Dies begann unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Die beiden von Reichspräsident Hindenburg am 4. Februar 1933 und am 27. Februar 1933 nach dem Reichstagsbrand erlassenen Notverordnungen zum "Schutz des deutschen Volkes" und zum "Schutz von Volk und Staat" hoben wesentlich Grundrechte auf. Dies führte vor allem in Preußen zu ersten Verhaftungswellen von politischen Gegnern, zunächst in erster Linie Mitglieder der KPD.
Mit den letzten Mehrparteienwahlen vom 5. März 1933, die der NSDAP allerdings nicht die erhoffte absolute Mehrheit gebracht hatte, sondern eine Koalition mit den deutschnationalen Steigbügelhaltern erforderte, begann die rasante Gleichschaltung des politischen und gesellschaften Lebens in Deutschland, auch im Südwesten. Spätestens die Verabschiedung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes ("Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich") mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit am 23. März 1933 im Reichstag beendete die parlamentarische und demokratische Regierungsform. Nur die SPD hatte das Gesetz abgelehnt, die KPD war de facto schon ausgeschaltet und ihre Abgeordneten konnten an der Abstimmung nicht mehr teilnehmen, da sie bereits inhaftiert oder untergetaucht waren.
Zu diesem Zeitpunkt hatte auch schon im deutschen Südwesten die massive Verfolgung der Abgeordneten von KPD und bald auch von der SPD begonnen. Ab dem 10. März 1933 wurden im Land zahllose politische Gegner verhaftet. Die NS-Presse berichtete täglich ausführlich darüber, um in erster Linie weitere Anhänger und Unterstützer der jeweiligen Partei einzuschüchtern. Nach wenigen Tagen waren die Gefängnisse überfüllt. Am 20. März 1933 wurde im Stuttgarter NS-Kurier erstmal die Errichtung eines Konzentrationslagers auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Heuberg erwähnt. Bis Mitte April hatten die württembergischen Nationalsozialisten rund 3000 Personen in Schutzhaft genommen, eine weit über dem Reichsdurchschnitt liegende Zahl.
In Baden hatte ein tragischer Vorfall in Freiburg die Ausschaltung der Arbeiterparteien beschleunigt. Am 17. März 1933 erschoß der seit Sommer 1932 in psychiatrischer Behandlung befindliche SPD-Landtagsabgeordnete bei einer Hausdurchsuchung zwei Polizisten. Die badische NS-Führung bezeichnete die Tat als "marxistischen Terrorakt". Nach den führenden KPD-Leuten wurden nun sämtliche Freiburger SPD-Vertreter in "Schutzhaft" genommen, die SPD-Zeitungen in ganz Baden verboten, die Parteiorganisationen von SPD und KPD sowie ihnen nahestehende Wehr- und Jugendverbände aufgelöst. Bald darauf folgten die Sport- und Kulturvereine der Arbeiterparteien.
Wenige Wochen später, am 16. Mai 1933, wurden führende badische Sozialdemokraten, darunter die Abgeordneten und früheren badischen Regierungsmitglieder Ludwig Marum und Adam Remmele, unter lebhafter Beteiligung der Bevölkerung im offenen LKW vom Gefängnis Karlsruhe zum Polizeipräsidium Karlsruhe und von dort in das Konzentrationslager Kislau transportiert. Dort wurde Ludwig Marum am 29. März 1934 ermordet.
Die öffentliche Demütigung führender Vertreter der parlamentarischen Demokratie gehörte zu den bevorzugten, perfiden Methoden der Nationalsozialisten 1933. So wurde der langjährige württembergische Innenminister und Staatspräsident Eugen Bolz am 19. Juni 1933 zur politischen Polizei ins Hotel Silber in Stuttgart einbestellt. Während seines Verhörs organisierten die Nationalsozialisten einen Massenprotest von 'empörten Volksgenossinnen und Volksgenossen'. Als Bolz das Gebäude mit SA- und SS-Führern verließ, begannen massive Bedrohungen und Beschimpfungen vor dem Hotel Silber. Dies nahmen die Nationalsozialisten zum Anlass Eugen Bolz in sogenannte Schutzhaft zu nehmen. Anschließend wurde er für einige Wochen auf dem Hohenasperg eingesperrt.
Die Mehrzahl der betroffenen Abgeordneten saß für einige Tage oder Wochen in sogenannter Schutzhaft und wurde dann meist wieder freigelassen. Andere wie z.B. der spätere Vorsitzende der bundesdeutschen SPD und Stuttgarter Landtags- und Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher oder der Gmünder KPD-Abgeordnete Alfred Haag verbrachten fast die gesamte Zeit des Nationalsozialismus in KZ-Haft.
Die zweite große Verhaftungswelle gab es nach dem gescheiterten Staatsstreich vom 20. Juli 1944, als die Nationalsozialisten angesichts des sie völlig überraschenden Breite des Widerstandes in der sogenannten Aktion Gewitter oder Gitter. Dabei wurden nach einer schon lange angelegten Liste am Morgen des 22. August 1944 reichsweit etwa 5.000 Personen verhaftet, die früher der SPD, der KPD oder anderen Parteien der Weimarer Republik angehört hatten. Teilweise war die Haft nur von kurzer Dauer, andere wie der württembergische SPD-Landtagsabgeordnete Jakob Weimer starben vermutlich an den Folgen der Haft.
Neben diesen breit angelegten Aktionen zu Beginn und am Ende der nationalsozialistischen Diktatur, kam es immer wieder zu Einzelaktionen, in erster Linie natürlich gegen weiterhin politisch aktive ehemalige Abgeordnete, wie z.B. der Mannheimer Widerstandskämpfer und ehemalige KPD-Abgeordnete Georg Lechleiter, der zum Tode verurteilt und am 15. September 1942 im Lichthof des Stuttgarter Justizgebäudes hingerichtet wurde.
Der Freiburger SPD-Reichstagsabgeordnete Stefan Meier fiel 1941 der Denunziation einer neidischen Nachbarin zum Opfer. Man verurteile ihn zu drei Jahren Zuchthaus, die er in Bruchsal absaß. Nach deren Verbüßung kam er nicht frei, sondern wurde in das Konzentrationslager Mauthausen gebracht, wo er nach wenigen Wochen unter ungeklärten Umständen starb.
Viele verloren ihre Stelle, mußten den Beruf und/oder den Wohnort wechseln, wurden zwangsversetzt, öffentlich gedemütigt oder schikaniert. Vereinzelt saßen sogar Ehepaare in Haft wie z.B. Albert und Erika Buchmann, die in während der dreißiger und zu Beginn der vierziger Jahre getrennt in Konzentrationslagern einsaßen.
Insgesamt hatten wir 1475 Abgeordnete die zwischen 1919 und 2003 den verschiedenen Parlamenten angehörten und vor dem 8. Mai 1945 geboren worden waren, betrachtet. Intensiver untersucht wurden etwa 450 Abgeordnete. 120 Abgeordnete kamen davon nicht in das Gedenkbuch, da sie entweder nicht verfolgt oder die Verfolgung nicht hinreichend dokumentiert worden war. Wobei in beiden Bereichen angesichts der häufig schwierigen Quellenlage Fragen offen bleiben. Möglicherweise erhalten wir durch die Veröffentlichung des Gedenkbuches auch noch Hinweise auf weitere Verfolgungsschicksale. 19 der 120 nicht aufgenommenen Abgeordneten waren nach 1933 NSDAP-Mitglieder oder hatten Aufnahmeanträge gestellt, die jedoch abgelehnt worden waren.
Von den 327 ins Gedenkbuch aufgenommenen Abgeordneten handelt es sich um 19 Parlamentarierinnen und 308 Parlamentarier. In dieser Zahl spiegelt sich einerseits der geringe weibliche Anteil in den Parlamenten der Weimarer Republik und der unmittelbaren Nachkriegszeit wider, aber auch die vergleichsweise geringe Rolle, die Parlamentarierinnen in ihren jeweiligen Fraktionen spielten. Sie waren in keiner herausragenden Position vertreten, z.B. als Landtagspräsidentin, Ministerin oder Fraktionsvorsitzende, und verkörperten deshalb nie das Gesicht einer Partei, wie dies heute bei einigen Parteien der Fall ist. Dazu kommt, dass die Nationalsozialisten, von wenigen Ausnahmen bei KPD und SPD einmal abgesehen sowie den aus NS-Sicht jüdischen Abgeordneten, von Frauen keinen politischen Widerstand erwarteten. Der Verfolgungsdruck dürfte hier prinzipiell kleiner gewesen sein, als bei den männlichen Fraktionskollegen.
Wie setzten sich nun die 327 Abgeordneten parteipolitisch zusammen? Bei den drei Arbeiterparteien der Weimarer Republik SPD, USPD und KPD ist die Zuordnung nicht immer einfach, da es zahlreiche Parteiwechsel gab. So gehörten 29 der USPD an, einer 1917 gegründeten linken Abspaltung der Sozialdemokraten, die die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD abgelehnt hatten. Im September löste sich die Partei wieder auf. Der radikale Flügel wechselte zur KPD, der Rest zurück zur SPD. 12 später verfolgte Abgeordnete wechselten sofort zur SPD und 17 zunächst zur KPD. Nur in der SPD waren 128 verfolgte Abgeordnete. Ausschließlich der KPD hatten 36 Abgeordnete angehört. Insgesamt waren 203 Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus den Arbeiterparteien verfolgt worden. Zeitweise waren 165 verfolgte Abgeordnete Mitglieder der Sozialdemokratie und 63 verfolgte Abgeordnete Mitglieder der KPD. Insgesamt hatten 39 verfolgte Abgeordnete der Arbeiterparteien ihre Partei ein- oder gar zweimal gewechselt.
Die Kommunisten gehörten zu den ideologischen Hauptgegnern der Nationalsozialisten. Deshalb zählten sie zu den ersten Opfern des NS-Terrors. Die dafür notwendigen Listen hatte die Polizei bereits in der Weimarer Republik erstellt. Sie wurden bis zum Kriegsende konsequent verfolgt. Dabei waren die illegalen Strukturen der Partei in Baden und Württemberg von der Gestapo bereits Mitte der dreißiger Jahre weitgehend zerschlagen worden. Die Mitglieder dieser illegalen Organisationen wurden hingerichtet oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Bei den Kommunisten kommt noch hinzu, dass die Abgeordneten, denen eine Flucht in die Sowjetunion gelungen war, zumeist in den dreißiger Jahren den Stalinschen Säuberungsprozessen zum Opfer fielen, wie z.B. Hermann Remmele. Oder sie starben unter ungeklärten Umständen wie der württembergische KPD-Landtagsabgeordnete Karl Schneck 1942 in Kasachstan.
Bei den christlichen Parteien hatten 82 Abgeordnete, die dem katholischen Zentrum oder dem, in Württemberg relativ starken, evangelischen Christlich-sozialen Volksdienst angehört hatten, unter nationalsozialistischer Verfolgung zu leiden. Auch hier reichte das Spektrum von beruflicher Benachteiligung über zeitweise Verhaftung bis zur Hinrichtung des ehemaligen württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz am 23. Januar 1945.
Auch die liberalen Parteien hatten aufgrund ihrer starken demokratischen Traditionen im Südwesten erhebliche Reibungsflächen mit den Nationalsozialisten und gerieten deshalb ebenfalls vergleichsweise stark in das Visier der Verfolger. 39 Abgeordnete im Gedenkbuch gehörten liberalen Parteien an. So hatte sich z.B. Theodor Heuss schon 1932 in einem Buch mit "Hitlers Weg" auseinandergesetzt, das nach dem Regierungsantritt zu den verbotenen Büchern gehörte. Fritz Elsas verlor aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1933 sofort seine Stellung und wurde später wegen seiner Kontakte zum Widerstand ohne Gerichtsverfahren vor dem 4. Januar 1945 im Konzentrationslager Sachsenhausen ermordet. Ein genaues Todesdatum und ein Grab kennen wir nicht.
Besonders beeindruckend und zugleich bedrückend ist der Anteil der von den Nationalsozialisten verfolgten Abgeordneten in den einzelnen Parlamenten. Wenn man die badischen Landtage von 1925 bis 1929 und von 1929 bis 1933 betrachtet, so wurden jeweils fast die Hälfte der Abgeordneten nach 1933 verfolgt. Wenn man vom letzten frei gewählten Landtag die 12 Vertreter von NSDAP, den Deutschnationalen und dem sehr weit rechts stehenden Badischen Landbund abzieht, dann waren nicht weniger als 42 (oder 55%) der restlichen 76 Abgeordneten Opfer nationalsozialistischer Repressionen.
Im württembergischen Landtag fiel der Anteil geringer aus, da der Württembergische Bauern- und Weingärtnerbund und die Deutschnationalen zusammen sehr viel stärker waren als in Baden. Beide Parteien koalierten 1933 mit der NSDAP. Deshalb finden wir hier nur einen Verfolgten. Trotzdem schwankte der Anteil der nach 1933 verfolgten Abgeordneten auch in den drei Landtagen von 1924, 1928 und 1932 zwischen 30 und 38%. Wenn man auch in Stuttgart NSDAP, DNVP und Bauernbund abzieht, ergibt sich ein ähnliches Bild wie in Karlsruhe. Von knapp 44% der Abgeordneten von 1924 über mehr als 48% der Abgeordneten von 1928, steigerte sich der Anteil der nach 1933 drangsalierten Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf 66% oder zwei Drittel.
Die Volksvertretungen und die sie tragenden Parteien waren aus nationalsozialistischer Sicht der Hauptfeind der neuen Diktatur.
Inzwischen gibt es in der Bundesrepublik einige Veröffentlichungen, die sich mit dem Schicksal der Reichstagsabgeordneten und der Landtagsabgeordneten beschäftigen. Vor allem die Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien hat sich dazu große Verdienste erworben. Daneben gibt es umfangreiche Veröffentlichungen zu Hessen und zu Hamburg sowie einen entsprechenden Internetauftritt zu Bayern. Allen Publikationen ist gemein, dass sie sich auf die Abgeordneten konzentrieren, die bis 1933 in den Parlamenten gesessen hatten.
Der Landtag von Baden-Württemberg geht nun darüber hinaus. Er betrachtet auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die erst nach 1945 in eine Volksvertretung eingezogen sind, aber als politisch aktive Menschen davor von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Neben der Würdigung der betroffenen Menschen geht es auch um die Frage, welche Rolle politisch Verfolgte beim Wiederaufbau der südwestdeutschen Demokratie nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 gespielt haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine namhafte Zahl von Abgeordneten, die ermordet, gestorben, vertrieben, krank oder zu alt waren, für den Wiederaufbau nicht mehr zur Verfügung standen.
Umso beeindruckender sind die Zahlen. In allen Parlamenten der unmittelbaren Nachkriegszeit in den zunächst drei Ländern im deutschen Südwesten stellten die politisch Verfolgten eine dominierende Gruppe dar, besonders im stärker industrialisierten Württemberg-Baden, wo die SPD und KPD traditionell deutlich stärker waren, als in den damals mehrheitlich landwirtschaftlich geprägten südlichen Ländern Baden und Württemberg-Hohenzollern. Trotzdem schwankte ihr Anteil in den beratenden Landesversammlungen und den Landtagen 1946 und 1947 zwischen mehr als 38% und knapp 47%.
In den württembergisch-badischen Parlamenten von 1946 lag der Anteil der politisch verfolgten Abgeordneten bei 53% bzw. sogar 62%. Erst bei den Landtagswahlen von 1950 sank der Anteil deutlich auf 23%. Aber noch im ersten baden-württembergischen Parlament stellten die politisch Verfolgten der NS-Zeit noch beinahe 30% der Abgeordneten. Oder anders ausgedrückt: Die südwestdeutsche Nachkriegsdemokratie wurde in hohem Maße von Menschen geprägt, die für ihre politischen Überzeugungen im sogenannten Dritten Reich schwer zu leiden hatten.
Jedem der 327 Abgeordneten sind im Gedenkbuch zwei Seiten gewidmet, unabhängig von der politischen Bedeutung oder der Schwere der Verfolgung. Allen verfolgten Menschen steht dieselbe Würdigung zu. Neben einem Photo werden Geburtsdatum und Geburtsort sowie Sterbedatum und Sterbeort aufgeführt. Außerdem werden die Konfession, der Beruf, der Name der Ehepartnerin oder des Ehepartners, das Jahr der Heirat und die Anzahl der Kinder genannt. Dazu kommen die jeweilige Parlamentszugehörigkeit, die Parteizugehörigkeit vor 1933 und nach 1945 sowie die Verfolgungsereignisse und ein Lebenslauf. Den Abschluß bilden Rezeption und Ehrungen sowie Literatur und Quellen.
Zu 102 Abgeordneten, also etwa 30%, haben wir darüber hinausgehende interessante Dokumente, die im Internet auf der Homepage des Landtags zugänglich sein werden. Es handelt sich dabei z.B. um Meldebögen, Auszüge aus den Wiedergutmachungsakten, Briefe, Zeitungsartikel oder Haftbefehle. Sie sollen der vertiefenden Beschäftigung mit den betroffenen Abgeordneten dienen. Vielleicht führt die Veröffentlichung auch dazu, dass neue Dokumente auftauchen, die dann selbstverständlich in die Datenbank aufgenommen werden.
Ein solches Projekt, das ca. sechs Jahre umfasste, bedarf akribischer Bearbeiterinnen und Bearbeiter. Ich danke deshalb vor allem Grit Keller und Rainer Linder, die das Projekt begonnen und schließlich abgeschlossen haben. In diesen Dank möchte ich auch die studentischen Hilfskräfte Lisa Kemle, Sarah Rommel und Laura Boga einschließen.
Angesichts der schwierigen Quellenlage und der nicht immer einfachen Entscheidung, wer in das Gedenkbuch aufgenommen wird, ist die Unterstützung durch die Projektgruppe nicht hoch genug einzuschätzen. In engagierten, gelegentlich kontroversen, aber immer konstruktiven Debatten haben wir die 'Problemfälle' entschieden. Ich danke Dr. Nicole Bickhoff, Dr. Martin Furtwängler, Prof. Dr. Robert Kretzschmer, Dr. Clemens Rehm und Prof. Dr. Wolfgang Zimmermann für ihre großartige Unterstützung, auch bei der Suche nach Quellen.
Das Gedenkbuch ist ein Projekt des Landtags von Baden-Württemberg. Für die nicht nur finanzielle Unterstützung, sondern auch das große Interesse an diesen nicht einfachen Recherchen und ihren Ergebnissen, danke ich den Landtagspräsidenten Guido Wolf MdL, Wilfried Klenk MdL und Muhterem Aras MdL. Die Landtagsdirektoren Hubert Wicker und Berthold Frieß unterstützten die Arbeit nachhaltig. Für die Mitarbeit in der Projektgruppe danke ich Herrn Sopper, Frau Puchan und Herrn Schneider-Helling. Ich kenne kein Projekt an dem alle Beteiligten mit einem so hohen Interesse an einem positiven Ergebnis zusammengearbeitet haben. So macht Arbeit richtig Spaß.
Jetzt bleibt zu hoffen, dass die verschiedenen Präsentationsformen des Gedenkbuchs im Landtag, in der Publikation und im Internet rege genutzt werden. Sie sollen einerseits die Abgeordneten ehren, die für ihre politischen Überzeugungen in der nationalsozialistischen Diktatur verfolgt wurden, aber auch Ansporn dafür sein, dass es nie wieder zu solchen Verfolgungen von frei gewählten Volksvertretern in unserem Land kommen wird.
Prof. Dr. Thomas Schnabel
Leiter des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg (1989 - 2018)