Vorwort
Vorwort
Liebe Gäste,
Gedenken motiviert uns, Angriffen auf Menschenwürde und Menschenrechte
mutig entgegenzutreten.
Das ist der zeitlose Auftrag und Sinn von Erinnerungskultur.
Wie aktuell und wichtig dieser Auftrag ist, zeigt regelmäßig eine Langzeitstudie der Universität Leipzig zu demokratiegefährdenden Einstellungen.
Rund zehn Prozent der Bevölkerung stimmen in den Befragungen folgender Aussage voll und ganz bzw. überwiegend zu: „Wir sollten einen Führer haben, der das Land zum Wohle aller mit starker Hand regiert“. Auf knapp 20 Prozent Zustimmung kommt die Aussage „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“
Das sind erschreckend viele Menschen. Umso wichtiger ist die Erinnerung daran, wohin solche Einstellungen im Extremfall führen.
Für Abgeordnete der Weimarer Demokratie führten sie in vielen Fällen ins Gefängnis, ins Konzentrationslager, in den Tod.
Zuvor hatten die Feinde der Demokratie die Parlamente – die Herzkammern der Demokratie – von innen heraus sabotiert und versucht, ihre Legitimation und ihr Ansehen zu zerstören.
Ziel der Nationalsozialisten war keine „Macht auf Zeit“, sondern ein Angriff auf das System durch das System. Adolf Hitler kam mit Hilfe deutschnationaler Eliten am 30. Januar 1933 an die Macht und schaltete innerhalb kürzester Zeit Parteien und demokratische Volksvertretungen aus. Nach Mai 1933 tagte weder in Karlsruhe noch in Stuttgart ein Parlament. Die frei gewählten Abgeordneten wurden drangsaliert, verfolgt und verhaftet: zuerst Kommunisten, dann auch Sozialdemokraten, Vertreter der katholischen Zentrumspartei und Liberale. Auch ihre Ehepartner, Familien und Freunde wurden in vielen Fällen schikaniert und inhaftiert. Vor allem Abgeordnete jüdischer Abstammung wurden besonders brutal verfolgt. Für viele Parlamentarier galt: Wer nicht fliehen konnte, wurde ermordet.
Der Landtag von Baden-Württemberg legte 2004 erstmals ein Gedenkbuch für "alle durch den Nationalsozialismus oder aufgrund der Verfolgung zu Tode gekommenen Abgeordneten des Badischen und Württembergischen Landtags" auf. 18 Leidensgeschichten sind darin portraitiert. Der frühere Landtagsvizepräsident Dr. Alfred Geisel und andere vermuteten die Zahl der Verfolgten erheblich höher. 2012 beauftragte das Landtagspräsidium das Haus der Geschichte, begleitet durch eine Projektgruppe aus Landeskundlern und Historikern, mit weiteren Nachforschungen. 2014 folgte die Entscheidung, auch jene in der NS-Zeit Verfolgte aus dem Südwesten aufzunehmen, die erst nach 1945 in Parlamente gewählt wurden. Die Experten erwarteten etwa 150 Betroffene. Es wurden 327 - eine erschreckend hohe Zahl. Dieses überraschende Ergebnis zeigt: Es gab und gibt blinde Flecken in der Aufarbeitung der NS-Diktatur. Wir brauchen weitere historische Forschung für ein umfassendes Bild unserer Geschichte, das uns dann einen umso klareren Kompass für Gegenwart und Zukunft geben kann.
Ich danke allen Beteiligten dieses Projektes - meinen Vorgängern, der Landtagsverwaltung, Vermögen und Bau, der Projektgruppe, vor allem aber Grit Keller und Rainer Linder für ihre umfangreichen Recherchen.
Dieses Gedenkbuch ist mehr als eine formale Würdigung. Es ist eine Mahnung. In diesem Gedenkbuch sind Abgeordnete versammelt, die für ihre Überzeugung, ihren freien Geist und ihren aufrechten Gang gelitten oder gar ihr Leben gelassen haben. Ich wünsche mir, dass ihre Haltung auf möglichst viele Leserinnen und Leser nachhaltigen Eindruck macht. Besonders wünsche ich mir, dass Schülerinnen und Schüler die digitalisierte Version des Gedenkbuchs nutzen, sich mit dem Schicksal dieser Menschen zu beschäftigen.
Ihre Biografien rufen uns den unschätzbar hohen Wert von freien Wahlen und Rechtstaatlichkeit, von Demokratie und Freiheit ins Gedächtnis.
Muhterem Aras MdL
Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg