Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist nach wie vor weit verbreitet
Stuttgart. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist in Deutschland nach wie vor weit verbreitet. Dies wurde bei einer öffentlichen Sitzung des Innenausschusses am Mittwoch, 29. Juni 2022, deutlich. Auf Antrag der SPD-Fraktion hat sich das Gremium mit dem Thema, insbesondere mit Blick auf die Behörden des Landes Baden-Württemberg, befasst. Dazu führte der Ausschuss eine öffentliche Anhörung durch, an der eine Soziologin, eine Rechtsanwältin und zwei Vertreterinnen von Gewerkschaften teilnahmen. „Die Zahlen zeigen, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz immer noch ein großes Problem darstellt. Umso wichtiger ist es, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um solche Taten zu verhindern. Dazu zählen Schulungen für Beschäftigte und professionelle Hilfe für Betroffene“, betonte die stellvertretende Ausschussvorsitzende Andrea Schwarz (Grüne), die die Sitzung leitete.
Die Leiterin des Forschungsbereichs „Gender, Gewalt und Menschenrechte“ an der Universität Erlangen-Nürnberg, Dr. Monika Schröttle, führte aus, dass neun Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren habe. Bei Frauen seien es 13 Prozent gewesen, bei Männern fünf Prozent. Bei Frauen komme Belästigung nicht nur häufiger vor, sondern die Formen der Belästigung seien zudem bedrohlicher, drastischer und erniedrigender. Sexuelle Belästigung betreffe alle Altersgruppen und alle Branchen und Bereiche, also auch den öffentlichen Dienst. Über 80 Prozent der Täter seien Männer, dazu zählten Vorgesetzte, Kollegen, Kunden oder Patienten.
„Die Statistiken zeigen nur die Spitze des Eisbergs“, verdeutlichte die die Vorsitzende des DGB-Betriebsfrauenrats, Erika Bock. Die Vorsitzende der BBW-Landesfrauenvertretung, Heidi Deuschle, wies zudem darauf hin, dass digitale Gewalt – etwa in Form von Stalking, Drohungen oder dem Erstellen von Fake-Profilen – ein zunehmendes Problem darstelle. Auch spielten äußere Faktoren eine große Rolle. „Die Pandemie hat die Menschen aggressiver werden lassen“, sagte Deuschle.
Einig waren sich alle Expertinnen, dass es in Betrieben eine Null-Toleranz-Philosophie geben müsse. So müsse etwa von Firmen- und Behördenleitungen sowie von Vorgesetzten eine deutliche Haltung gegen Belästigung gezeigt werden. Über allem steht eine Betriebskultur, die zeigt, dass sexuelle Belästigung nicht akzeptiert wird“, sagte Erika Bock. Dadurch werde ein Klima geschaffen, in dem sexuelle Belästigung weniger wahrscheinlich werde.
Als weiteren wichtigen Punkt nannten die Expertinnen Hilfsangebote mit unabhängigen Ansprechpartnern und Vertrauenspersonen, an die sich Betroffene wenden könnten. Das Problem bestehe oft darin, dass Frauen und Männer diese Angebote gar nicht kennen würden. „81 Prozent der Beschäftigten weiß nicht, dass der/die Arbeitgeber/in verpflichtet ist, vor sexueller Belästigung zu schützen“, sagte Bock. 70 Prozent kennen keine Ansprechperson und 50 Prozent seien keine Maßnahmen gegen Belästigung am Arbeitsplatz bekannt. Diese Informationslücke müsse durch Informationskampagnen und Öffentlichkeitsarbeit geschlossen werden. „Die Menschen müssen wissen, was im Fall einer Belästigung zu tun ist“, sagte Dr. Schröttle.
Hilfreich seien hierfür etwa Fortbildungen für Leitungen, Vorgesetze und Kollegen, aber auch Dienstvereinbarungen. „Dienstvereinbarungen sind ein Weg, um ein wertvolles Miteinander, eine Null-Toleranz-Strategie bei sexueller Belästigung sowie eine klare Benennung von Sanktionsmaßnahmen zu formulieren“, sagte Bock.
Die Rechtsanwältin Dr. Nathalie Oberthür wies auf die juristische Problematik bei der Aufklärung von Belästigungsfällen hin. Es gebe einen guten Rechtsrahmen, der werde aber in der Realität selten angewendet. Gerade bei sexueller Belästigung seien häufig nicht genug Beweise vorhanden, weil die Belästigung in einer Zwei-Personen-Situation vorgekommen sei. Zudem werde sexuelle Belästigung häufig verbal geäußert. Sollte es keine belastbaren Beweise geben, stehe dann Aussage gegen Aussage.
Nach Angaben des Innenministeriums gab es in den vergangenen drei Jahren bei den Behörden und Stellen der Landesverwaltung 230 Eingaben im Zusammenhang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, davon 76 durch Vorgesetzte. In 58 Fällen wurden Strafverfahren eingeleitet. Von diesen wurden 23 eingestellt. Eines wurde mit einer Verurteilung beendet. Die restlichen Verfahren sind noch nicht abgeschlossen. Darüber hinaus wurde in 55 Fällen ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Daraus folgten als disziplinarische Konsequenzen unter anderem zwei Verweise, sechs Geldbußen, vier Kürzungen der Bezüge und eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis.