Neujahrsempfang IRG Baden - Rosch ha-Schana

Sehr geehrter Herr Suliman,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Mentrup,
sehr geehrter Herr Präsident Dr. Schuster,
liebe Mitglieder der jüdischen Gemeinden,
liebe Gäste,
Rosch ha-Schana ist ein Fest des Neuanfangs: ein Moment des Innehaltens, der Rückschau und der Hoffnung. Ich danke Ihnen für die Einladung, heute an Ihrer Seite sprechen zu dürfen. Es ist mir eine Ehre und es ist ein starkes Zeichen, dass wir hier in Karlsruhe anlässlich des Neujahrsfestes gemeinsam zusammenkommen: jüdisches und nicht-jüdisches Leben, im Geist des Respekts, des Gedenkens und des friedlichen Zusammenlebens.
[Begrüßung]
Der jüdische Kalender lädt uns Jahr für Jahr ein, nicht nur zurückzublicken, sondern Verantwortung zu übernehmen: Verantwortung für das, was war und für das, was kommt. Diese Haltung ist auch für unsere demokratische Gesellschaft unverzichtbar. Denn Demokratie lebt vom Erinnern. Und von der gemeinsamen Verantwortung für das, was kommt. Auch dafür, jeglichen Verführungen durch Hass, Ausgrenzung und Gewalt jeden Tag eine klare Absage zu erteilen.
Meine Damen und Herren, in diesen Tagen jährt sich ein dunkles Kapitel badischer Geschichte zum 85. Mal: Am 22. Oktober 1940 wurden über 6.500 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Baden, der Pfalz und dem heutigen Saarland in das Internierungslager Gurs deportiert. Einen erbarmungslosen Ort am Fuß der Pyrenäen, wo viele von ihnen unter menschenunwürdigen Bedingungen starben. Die meisten, die Gurs überlebten, wurden später in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Nur etwa 40 Überlebende kehrten nach der Befreiung 1945 in ihre alte Heimat Baden zurück.
Diese Deportation war kein Akt der Willkür: sie war Teil eines industriellen Vernichtungsprogramms. Eines „Verwaltungsmassenmordes“, wie es die Philosophin Hannah Arendt ausdrückte, die nur wenige Monate vor der Deportation der badischen Juden in Gurs eingesperrt worden war. Ein Massenmord, geplant, organisiert und durchgeführt von deutschen Behörden. Auch viele Nachbarn, Kollegen, frühere Freunde schauten weg – oder halfen sogar mit.
Das ist durch nichts wieder gut zu machen. Doch, um Verantwortung zu zeigen, dafür ist es nie zu spät. Die diesjährigen Preisträger der Verdienstmedaille der IRG Baden machen genau das deutlich: Ich danke allen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft zur Unterhaltung und Pflege des Deportierten-Friedhofs in Gurs für ihren jahrzehntelangen Einsatz gegen das Vergessen. Dass die Stadt Karlsruhe und der Oberrat der IRG Baden nach 1957 gemeinsam die Initiative dazu ergriffen, ist beachtenswert. Und ist gerade heute, anlässlich Rosch ha-Shanas, erwähnenswert.
Liebe Gäste, das Gedenken ist kein Blick zurück aus Pflichtgefühl: Es ist ein Blick nach vorn aus Verantwortung. Denn: Antisemitismus ist leider kein Phänomen der Vergangenheit. Antisemitismus ist heute wieder – oder besser gesagt: noch immer – hör- und spürbar: auf Schulhöfen, im Netz, auf der Straße. In Parolen, in Verschwörungsmythen, in tätlicher Gewalt. Oder erst vergangene Woche in Form eines verstörenden Schildes in Flensburg, mit dem ein Ladenbesitzer Juden Hausverbot erteilen wollte.
Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober vor zwei Jahren hat sich die Bedrohungslage für jüdisches Leben in Deutschland nochmals massiv verschärft. Viele Jüdinnen und Juden sagen heute: „So verletzlich haben wir uns hier seit Jahrzehnten nicht mehr gefühlt.“ Diese Worte dürfen uns nicht gleichgültig lassen. Sie müssen uns aufrütteln: politisch, gesellschaftlich und menschlich.
Meine Damen und Herren, man darf in diesem freien Land scharfe Kritik an Regierungen üben, ob an der eigenen oder an einer fremden. Man darf die Politik Benjamin Netanjahus kritisieren – und das tue auch ich. Man muss auch Verstöße gegen die Menschenrechte adressieren: Unabhängig davon, wer sie begeht. Denn: Würde und Rechte aller Menschen sind universell und unteilbar!
Es ist und bleibt absolut inakzeptabel, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen. Es ist und bleibt inakzeptabel, ein Volk anzufeinden – oder überhaupt auch nur einen einzigen Menschen anzufeinden! Antisemitismus – egal in welcher Form und aus welcher Ecke – ist ein Angriff auf unsere Demokratie! Und deshalb muss auch die Antwort eine demokratische sein: Klar. Unmissverständlich. Solidarisch.
Wir brauchen eine Zivilgesellschaft, die nicht schweigt, wenn Menschen wegen ihrer Religion angegriffen werden. Wir brauchen Bildung, die junge Menschen stark macht gegen Hass. Und wir brauchen einen Rechtsstaat, der konsequent handelt, wenn rote Linien überschritten werden. Aber wir brauchen auch sichtbare Zeichen der Verbundenheit. Deshalb bin ich heute hier, um gemeinsam mit Ihnen Rosch ha-Schana zu feiern und erneut zu betonen: Jüdisches Leben ist Teil unserer Vergangenheit, unserer Gegenwart – und unserer Zukunft!
Die jüdischen Gemeinden in Baden, in Deutschland, in Europa sind lebendige, vielfältige, kreative Orte des Glaubens, der Kultur, des Dialogs. Und sie verdienen unseren Schutz, unseren Respekt und unser offenes Herz.
Liebe Gäste, Rosch ha-Schana erinnert uns daran, dass jeder Mensch im Buch des Lebens zählt. Dass wir Verantwortung tragen: nicht nur für uns selbst, sondern füreinander. Es erinnert uns daran, dass Versöhnung möglich ist. Und, dass Hoffnung nie naiv ist, wenn sie mit Mut verbunden ist. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen im Namen des Landtags von Baden-Württemberg ein gesegnetes Jahr 5786!
Schana towa u'metuka! Ein gutes und süßes Jahr!
Mögen Sie und Ihre Familien Frieden, Gesundheit und Kraft erfahren. Und möge unsere Demokratie auch im kommenden Jahr eine Heimat für alle sein, die hier in Würde leben wollen.