30 Jahre LAGG

Meine Damen und Herren,
Gedenkarbeit bedeutet: unermüdliches Wachrütteln.
Unermüdlich, weil Gedenkarbeit nie endet, nie ganz getan sein kann. Unermüdlich ist sie, weil sie erst durch eine Mauer des Schweigens und des Leugnens hindurch wachsen musste und – und bis heute – oft auf Abwehr trifft. Unermüdlich, weil ein fast schon detektivischer Drang zur Wahrheit dazugehört, ein Sinn für Gerechtigkeit, um allen Opfern eine späte Würdigung zuteilwerden zu lassen. Und eine Leidenschaft, die über die Abgründe all der herzzerreißenden Geschichten hinwegträgt: Tag für Tag.
Ein Wachrütteln ist Gedenkarbeit wiederum, weil sie uns allen vor Augen führt, zu welchem Grauen Menschen fähig waren und sind; vor Augen führt, wie gut wir es doch eigentlich hier in unserer heutigen Demokratie haben, und was es mit ihr zu verteidigen gilt: nämlich allem voran die Achtung und den Schutz der Würde aller Menschen. Das Wachrütteln soll verhindern, dass wir gleichgültig werden.
Dieser gigantischen Aufgabe, die Gesellschaft über die Vergangenheit aufzuklären, auch in Zukunft immer wieder aufzurütteln und dabei stets auf der Höhe der Zeit zu bleiben, dieser Aufgabe hat sich vor 30 Jahren auch die LAGG, haben Sie sich angenommen. Den riesigen Sprung, den die Gedenkarbeit in Baden-Württemberg gemacht hat, verdanken wir ganz wesentlich Ihnen; verdanken wir jeder einzelnen Person, die sich – ehren- oder hauptamtlich – in jeder einzelnen Gedenkstätte einbringt, verdanken wir allen, die die großartigen Projekte und all das Engagement bündeln, wie die LAGG es tut: Ihnen gilt der Dank des Parlaments – und auch mein persönlicher, aufrichtiger Dank!
Ebenfalls ein riesiger Dank gilt der Landeszentrale für politische Bildung, stellvertretend Direktorin Frau Thelen und Frau Dr. Hammerstein, für die grandiose Begleitung und Bestärkung der Gedenkstättenarbeit!
Wo einst Tatorte waren, Tatorte der Vernichtung, des Mordens und der Vertreibung, sind heute Orte der Erinnerung. Wo immer wir uns im Land bewegen, sind wir in unmittelbarer Nähe eines ehemaligen Tatorts. Unsere heutige Zusammenkunft im „Hotel Silber“ ist dafür der beste Beweis.
Inzwischen gilt aber auch: Wo immer wir uns im Land bewegen, sind wir in der Nähe einer Gedenkstätte! Und das ist Ihr großer Verdienst: Wo sich noch vor 30 Jahren weniger als 20 Gedenkstätten zur LAGG zusammengeschlossen haben, sind es inzwischen über 80. Plus Initiativen. Ein Netz also, das nicht nur geografisch ganz Baden-Württemberg umspannt, sondern auch thematisch die Bandbreite des Gedenkens umfasst. Ein Netz, das sich allen Opfergruppen widmet: mehr als 80 Leuchttürme, die nun überall im Land Licht ins Dunkel bringen.
Viele dieser Gedenkstätten und -initiativen durfte ich bereits persönlich erleben – und das Herzblut all jener, die sie betreiben. Auf meiner jährlichen Gedenkstättenreise geht es mir darum, Ihre Arbeit zu würdigen, aber auch, von Ihnen zu lernen, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen und gemeinsam zu überlegen, wie die Zukunft des Erinnerns gestaltbar ist.
Dieses Jahr geht die Reise unter anderem zum Ursprungsort der LAGG, nach Vaihingen/Enz, zur KZ-Gedenkstätte Vaihingen/Enz. Sie sind alle herzlich eingeladen: Am Abend des 17. Juli werde ich mit Herrn Dr. Frankenberger vom neuen Tübinger Institut für Rechtsextremismus-Forschung über die Geschichtspolitik der Neuen Rechten im Zusammenhang mit Erinnerungsarbeit diskutieren.
Auf jeder der bisherigen Reisen gab es Momente, in denen mir der Atem stockte; bei dem mir ein Schauer über den Rücken lief: Momente, die mich tief berührten und die ich nicht vergessen werde. Man denkt immer, man weiß schon so viel über die NS-Zeit, aber es kommen immer noch grausame und unfassbare Details hinzu, die einen einfach nur entsetzen. Und ich vermute, es geht allen Besucherinnen und Besuchern so: dass sie das Erlebte nicht kalt lässt. Dass es sie schaudert, egal wie viel man zu wissen glaubt. Das unermüdliche Wachrütteln: Es funktioniert! Es funktioniert vor allem, weil engagierte Menschen wie Sie diese Details erforschen, aufbereiten und persönlich vermitteln.
Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Erinnerungskultur ist nicht vom Himmel gefallen, und sie war ganz sicher nicht immer gesellschaftlich erwünscht. Die Gedenkarbeit ist vielerorts auf massiven lokalen Widerstand gestoßen. Auch politisch fehlte anfangs oft jedwede Unterstützung. Anders gesagt: Unsere Gedenkkultur ist eine Errungenschaft, die allen voran von Ehrenamtlichen ausging; von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit dem Vergessen und dem Verleugnen nicht abgefunden haben, die eben nicht „endlich mal gut sein“ lassen wollten, was noch nie gut war.
Sich privat in derartige Abgründe zu begeben, bedarf großer Kraft, und es bedarf großen Mutes, dies gegen den Druck der eigenen Gemeinde zu tun. Diese Pionierarbeit kann gar nicht hoch genug geschätzt werden! Ich finde, sie verdient kollektiv die allergrößte Anerkennung!
Und ich freue mich, dass ein Teil dieser Anerkennung im Herbst dieses Jahres erfolgt: Denn – wie Sie es teilweise bereits wissen:
Kommenden Herbst verleiht der Landtag von Ba-Wü, gemeinsam mit der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg der LAGG die Joseph-Ben-Issachar-Süßkind-Oppenheimer-Auszeichnung! Und als Mitglied des Beirates darf ich sagen, dass ich das von Herzen gerne unterstützt habe und mich über die Entscheidung persönlich sehr freue.
Mir ist bewusst, dass es mit Anerkennung allein nicht getan ist: Es braucht auch Unterstützung, nicht zuletzt finanziell. Seit 2011 hat der Landtag die Gedenkstättenförderung mehr als verzehnfacht! Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Betrag vorher mickrig war. Ohne Frage: Es gibt noch Luft nach oben. Aber ich kann versichern, dass ich mich persönlich aus tiefster Überzeugung und mit aller Kraft dafür einsetzen werde, dass die Unterstützung und die Entlastung vorangeht und die LAGG weiter gedeihen kann.
Und eines muss ich wirklich glasklar feststellen, auch im Namen aller Abgeordneten der Grünen-, CDU-, SPD- und FDP/DVP-Fraktionen: Bei aller politischen Differenz, bei allen Meinungsverschiedenheiten, stehen die demokratischen Parteien im Landtag felsenfest und wie eine Eins hinter den Gedenkstätten und -initiativen des Landes Baden-Württemberg!
Meine Damen und Herren,
so unermüdlich Sie die Erinnerung wachhalten, gibt es sicher Momente, in denen auch Sie unglaublich müde sind. Gerade weil Gedenkarbeit nie getan sein kann, gerade weil mit jedem Jahr die Herausforderungen stärker werden:
Wenn es im Ehrenamt an Nachwuchs mangelt, der den Staffelstab des Erinnerns für die nächste Generation entgegennimmt.
Wenn auch die letzten Überlebenden der NS-Verbrechen von uns gehen, und womöglich die Aufgabe hinzukommt, das Gedenken zu digitalisieren, vielleicht sogar mithilfe von KI.
Wenn sich die Frage stellt, ob überhaupt noch ein Weg an den Sozialen Netzwerken vorbeiführt, trotz aller berechtigter Bedenken, da man nur noch dort bestimmte Zielgruppen erreicht.
Wenn sich trotz des unermüdlichen Einsatzes dennoch wieder vermehrt Jugendliche radikalisieren und der Rechtsextremismus erstarkt.
Wenn Schülerinnen und Schüler den Hitlergruß zeigen und Menschen selbst an KZ-Gedenkstätten nicht vor Nazi-Symbolik zurückschrecken.
Wenn das Programm der AfD unsere Gedenkkultur bedroht, und sich der von rechtsextremistischer Seite entfachte Hass Bahn bricht.
Wenn an vielen Orten in Deutschland die Mitarbeitenden von Gedenkstätten angefeindet und bedroht werden.
Wenn die Forderung nach einem Schlussstrich wieder lauter wird – und mehrheitsfähig:
Dann kann das unglaublich müde machen.
Ich kann das gut verstehen. Man kann ob der schlechten Nachrichten manchmal schier verzweifeln.
Was mir in diesen Situationen hilft: Die Gemeinschaft mit Menschen wie Ihnen. Gespräche mit jungen Menschen, die dafür brennen, die Welt zu verbessern. Die Millionen von Ehrenamtlichen im Land, die sich – ja, auch für Gedenkarbeit, aber auch in anderen Bereichen engagieren. Denn davon bin ich überzeugt: Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen, das im Miteinander seine größte Kraft entfaltet.
Trotzdem kommen wir nicht umhin, uns damit zu beschäftigen, was genau dazu führt, dass der Mensch andere Menschen erniedrigt, hasst, tötet und im schlimmsten Fall gar keine Reue dafür empfindet. Wir werden nicht umhinkommen zu erinnern und zu mahnen, dass faschistische Systeme genau diese schlechtesten Eigenschaften aus den Menschen hervorholen. Und dass wir deswegen alles dafür tun müssen, dass Geschichte sich nicht wiederholt.
Wie tun wir das? Indem wir verdeutlichen, veranschaulichen, vermitteln, dass die Erinnerung an die NS-Zeit jede und jeden Einzelnen persönlich etwas angeht. Dass es nicht um abstrakte Daten geht, um längst Vergangenes, sondern um das Hier und Jetzt und Für Immer. Dafür setzen wir uns alle hier im Saal ja ein. Und gerade deshalb ist es so wichtig, das Engagement fürs Erinnern zu vernetzen, zu verstärken und nach vorne zu richten.
Trotz all dem Gegenwind der Gegenwart weiß ich, dass es Lichtblicke gibt, bin ich überzeugt, dass unsere Erinnerungskultur Früchte trägt.
Es gibt ja auch erfreuliche Beispiele für junges Engagement: Bei einer der Gedenkstättenreisen zeigte mir ein beindruckend engagierter Jugend-Guide die KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen. Und es hat mich begeistert zu hören, dass dieser junge Mann nun der Vorstandsvorsitzende des Gedenkvereins ist: Das ist großartig!
Ich habe außerdem mit eigenen Augen gesehen, wie Sie als Gedenkstätten so vielen Menschen und auch so vielen Orten die Würde zurück-gegeben haben! Wenn ich etwa an die Ehemalige Synagoge Haigerloch denke – da war zwischendurch ein Kino drin, ein Supermarkt mit Fleischtheke! Es war die Gedenkarbeit, die diesen Ort wieder würdevoll macht.
Und ohne eine engagierte Zivilgesellschaft gäbe es übrigens auch dieses Gebäude hier nicht mehr!
Meine Damen und Herren,
Sie alle hier machen einen Unterschied.
Die größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik, gegen den Rechtsextremismus, für die Demokratie, wären vermutlich nicht möglich gewesen, wenn sich nicht derartig viele Menschen an die NS-Zeit erinnert gefühlt hätten: Es war somit auch Ihr Engagement, das dazu beigetragen hat, dass Millionen von Menschen für eine offene Gesellschaft auf die Straße gegangen sind. Ich bin sicher: Darunter waren Menschen, die bei einem Besuch einer Gedenkstätte wachgerüttelt wurden.
Und für all das, meine Damen und Herren, danke ich Ihnen von Herzen.
Danke für Ihr unermüdliches Wachrütteln seit nunmehr 30 Jahren!