60 Jahre Goethe-Institut Schwäbisch Hall

Sehr geehrte Frau Hecklau-Brümmer,
sehr geehrter Herr Dr. Döring (als Vorsitzender des Freundeskreises des Goethe-Instituts),
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Bullinger,
sehr geehrte Frau Cordes,
liebe Gäste,
meine Damen und Herren:
Seit Menschengedenken
machen sich Menschen Gedanken,
was Sprache bedeutet,
und was es bedeutet,
neue Sprachen zu lernen.
Oft haben sie ganz ähnliche Bilder dafür gewählt:
Voltaire sagte etwa:
„Kennst du viele Sprachen – hast du viele Schlüssel für ein Schloss.“
Und der irische Dichter Frank Harris fand:
„Jede neue Sprache ist wie ein offenes Fenster,
das einen neuen Ausblick auf die Welt eröffnet und die Lebensauffassung weitet.“
Mehrsprachigkeit bedeutet Öffnung und Offenheit,
Zugang und Zugänglichkeit,
die Einsicht in
und die Aussicht auf
die Vielfalt der Welt.
All das ermöglicht auch
das Goethe-Institut in Schwäbisch Hall,
all das ermöglichen Sie!
„Weltoffen seit 60 Jahren“,
lautet das Motto des Jubiläums,
hier – in der „Kleinsten Metropole der Welt“.
An dieser augenzwinkernden
Selbstbezeichnung der Stadt,
an ihrer Weltoffenheit,
hat das Goethe-Institut einen großen Anteil:
als einziges Goethe-Institut in einer deutschen Kleinstadt – das zwischendurch sogar das bundesweit größte war!
So locken Sie jährlich viele Menschen hierher,
die die deutsche Sprache und Kultur
vor Ort kennenlernen möchten
– in einer typisch schwäbischen
und besonders schönen Umgebung.
Das 60. Jubiläum fügt sich wunderbar ein in das
große Kulturjahr von Schwäbisch Hall:
• 450 Jahre Ratsbibliothek
• 100 Jahre Freilichtspiele und 100 Jahre Marionettentheater
• 75 Jahre Großer Siedershof
• 40 Jahre Städtepartnerschaft mit dem finnischen Lappeenranta
• 30 Jahre freies Radio StHörfunk
• 20 Jahre Internationales Jugendtheaterfestival.
Alle Achtung!
Und vor allem:
Herzlichen Glückwunsch an alle Jubilare und an
ganz Schwäbisch Hall für Ihr
beständiges, facettenreiches Kulturangebot!
Ich finde es großartig,
dass die Einrichtungen dieses Jubiläumsjahr gemeinsam feiern und dass auch der Festakt heute
Teil dieser Stadtfeier ist:
weil Kultur von Austausch lebt,
von Synergie.
Gerade das Goethe-Institut dient ja
Menschen aus aller Welt dazu,
die Kultur hier zu erleben.
Deshalb gehört die Kulturlandschaft
zu diesem 60. Geburtstag einfach dazu,
so wie auch umgekehrt
das Institut zur hiesigen Kultur gehört.
60 Jahre sind eine ordentliche Zeit,
die viele wertvolle Erinnerungen und Begegnungen möglich gemacht hat:
Ich kann ein Lied davon singen
– mein 60. Geburtstag steht nämlich auch bald an!
60 Jahre lang öffnet das Institut in Schwäbisch Hall nun die Schatzkammer der deutschen Sprache
– oder:
Vielmehr gibt es einem den Schlüssel in die Hand und
an die Hand,
um den Schatz zu entdecken.
Der Reichtum der Sprache fängt bereits beim
schönen Begriff des Wortschatzes an:
Vielleicht staunen viele Kursteilnehmende ja über Worte,
die es nur im Deutschen gibt:
„Fernweh“
„Vorfreude“
Oder:
„Geborgenheit“.
Vielleicht zerbrechen sie sich die Köpfe,
warum es
„die Gabel“, „der Löffel“ und „das Messer“ heißt,
oder sie stolpern über das Plusquamperfekt.
Vielleicht verwundert es sie,
dass wir im Deutschen
• Haare auf den Zähnen,
• Flausen im Kopf oder
• einen Frosch im Hals
haben können.
Vielleicht schätzen sie die klare Struktur der
deutschen Sprache,
ihren zuverlässigen Satzbau,
lauschen Betonungen und Melodien.
Und womöglich staunen sie dann,
wie facettenreich auch die deutsche Sprache klingen kann:
sehr zärtlich, kraftvoll oder weich,
furchtbar sperrig oder hinreißend poetisch.
Sperrigkeit und Poesie entstehen im Deutschen dadurch, dass es Worte nach Lust und Laune verknüpft.
Und so
kommen die uns ganz eigenen Begriffe zustande:
• Weltschmerz.
• Zeitgeist … oder
• Abendbrot.
„Die Sprache bleibt ein reiner Himmelshauch“,
schrieb der Namensgeber dieses Instituts,
Johann Wolfgang von Goethe.
Auch der Landtag von Baden-Württemberg beteiligt sich regelmäßig am sprachlichen Himmelshauch:
zum Beispiel gibt es so schöne Wortschöpfungen wie
„Landesverwaltungszustellungsgesetz“.
Aber die deutsche Sprache ist für viele Menschen
viel mehr als bloße Faszination.
Mehr als ein Schlüssel zu einer neuen Kultur:
Sie ist eine Chance auf ein neues Leben!
Hier, am Goethe-Institut, gibt es Deutschkurse mit Zertifikatsabschlüssen, für das Studium, oder für den Beruf;
teilweise sind die Kurse verbunden mit Praktika und Firmenkontakten in der Region.
Das trägt einer Tatsache Rechnung,
die viele reaktionäre Kräfte im Land
immer noch nicht wahrhaben wollen:
Nämlich,
dass dieses Land,
dass unsere Bundesrepublik,
ein Einwanderungsland ist.
Schon immer gewesen ist.
1965
– im Gründungsjahr des Instituts –
verabschiedete die Bundesregierung das sogenannte „Ausländergesetz“.
Es war damals die überfällige rechtliche Grundlage für die getätigten „Anwerbeabkommen“ zwischen Deutschland und mehreren anderen Staaten.
Die Grundlage also für die sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter,
die dieses Land mitgeprägt haben:
Menschen wie meine Eltern!
Ich bin mit 12 Jahren nach Deutschland gekommen
– ohne ein Wort Deutsch zu können!
Meine Muttersprache
– Kurdisch –
war in meiner alten Heimat verboten.
In Deutschland
habe ich die Freiheit kennen und lieben gelernt
– wie auch die neue Sprache, die neue Kultur.
Ich weiß aus eigener Erfahrung,
wie das Lernen einer neuen Sprache Teilhabe bedeutet:
• im Privaten,
• im Beruflichen und
• im Politischen.
Ohne all das könnte ich heute gar nicht als Landtagspräsidentin vor Ihnen stehen.
Die Schriftstellerin Lena Gorelik,
die mit ihrer Familie als sogenannter „Kontingentflüchtling“ aus der Sowjetunion nach Deutschland kam,
beschreibt ganz ähnliche Erfahrungen.
Im Roman „Wer wir sind“ schreibt sie über
Herkunft und Ankunft und die Bedeutung der Sprachen.
Ich kann dieses Buch nur allen ans Herz legen:
es spricht mir tief aus der Seele!
Als Landtag haben wir
mehrere Lesungen mit Lena Gorelik durchgeführt und dabei immer auch das Publikum gefragt:
„Was heißt für Sie Heimat?
Was bedeutet Sprache für die Identität?“
Und das war immer sehr inspirierend!
Lena Gorelik hat 2011
– kurz nach Thilo Sarrazin –
ein Sachbuch zur Migrationsdebatte geschrieben.
Es heißt:
„Sie können aber gut Deutsch“.
Dieser Satz ist in der Regel nicht böse gemeint,
aber er stößt vielen Menschen mit Migrationsgeschichte bitter auf,
weil er fremdklingende Namen oder dunkle Hautfarbe vom Deutsch sein und Deutsch sprechen unterscheidet.
Mich selbst hat der Satz lange auch gestört.
Inzwischen denke ich jedoch,
wir müssen nachsichtiger und humorvoller mit einander umgehen.
Meine Damen und Herren,
Deutsch, diese wundervolle Sprache,
die mir so sehr ans Herz gewachsen ist,
ist für viele Menschen
– auch als Zweit- oder Drittsprache –
längst ihre eigene geworden:
wenn sie auf Deutsch
flirten, scherzen und sogar träumen,
wenn sie längst ihre Persönlichkeit ins Deutsche übertragen und übersetzen können.
Im Begriff der „Fremdsprache“
bleibt die neue Sprache immer fremd.
Aber Mehrsprachigkeit ist eigentlich das Gegenteil: Man lernt sich noch einmal anders,
noch einmal besser kennen,
wenn man neue Sprachen lernt:
Vielleicht sprechen wir in einer anderen Tonlage, vielleicht verhalten wir uns auch ein wenig anders.
Und entdecken dabei neue Seiten an uns.
Der Sprachgelehrte Friedrich Rückert,
der angeblich über 40 Sprachen erforschte, sagte:
„Mit jeder Sprache, die du erlernst,
befreist du einen bis daher in dir gebundenen Geist.“
Vielleicht meinte Voltaire auch das mit den
vielen Schlüsseln für ein Schloss!
Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein
formulierte es umgekehrt:
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“.
Ein Satz,
der sich eigentlich auf das Zusammenspiel von Sprechen und Denken bezieht,
auf das Verstehen und Verständigen;
der aber auch geografisch etwas Wahres enthält:
Wo mein Sprachraum endet,
wo meine Sprachgrenze verläuft,
dort verstehe ich die Welt nicht mehr!
Sprachgrenzen sind unsichtbar:
Kaum ein Atlas weist sie auf.
Kein Stacheldraht umzäunt sie,
und kein Grenzschutz überwacht ihren Übergang.
Und doch können Sprachgrenzen darüber entscheiden, ob wir uns geborgen oder einsam fühlen,
zugehörig oder fremd.
Für Millionen von Menschen
bedeutet ein Deutschkurs die Hoffnung,
dort Wurzeln zu schlagen,
wo es zu leben aussichtsreicher und sicherer ist.
Sicherer als im Land ihrer Muttersprache.
Sie besuchen Deutschkurse
weniger aus Vergnügen als aus Verheißung,
weniger aus Neugier als aus Not.
Aus einer Sehnsucht,
als Mensch in Freiheit zu leben.
Und je mehr sie von unserer Sprache verstehen,
desto eher verstehen sie,
wer ihnen offen begegnet und wer nicht.
Sprache hat eine integrative und inklusive Kraft:
Sie kann ein Schlüssel sein,
der im wahrsten Sinne für Aufgeschlossenheit steht.
Sie kann aber auch aus der Gesellschaft aussperren.
Sie kann Brücken bauen oder Barrieren errichten.
Sprache ist deshalb immer auch politisch!
Das beginnt schon bei der Verständlichkeit:
irgendwo zwischen Leichter Sprache,
die alle teilhaben lässt,
und Behördendeutsch,
bei dem selbst Muttersprachler ins Schwitzen kommen.
Das „Ausländergesetz“ von 1965 etwa
unterschied zwischen
• Aufenthaltserlaubnis,
• Aufenthaltsbewilligung, -befugnis und -berechtigung.
Und auch heute gibt es bürokratische Sprachungetüme, die kaum jemand sofort durchdringt.
Ein Beispiel:
Das Magazin Der Spiegel hat vor kurzem aus einer Berliner Ausländerbehörde berichtet und Formulierungen wie diese zitiert:
„Aufenthaltserlaubnis für die Durchführung einer Qualifizierungsmaßnahme einschließlich der sich daran anschließenden Prüfungen,
um damit die Anerkennung der Gleichstellung der im Ausland erworbenen Berufsqualifikation von einer im Bundesgebiet dafür zuständigen Stellen zu erreichen“.
Da könnte man auf gut Deutsch fragen:
Wer bitte soll das kapieren?
Gute Integration bedarf doch auch integrativer Sprache!
Aber auch unter denen,
die deutschsprachig aufgewachsen sind,
ist Sprache ein Politikum.
Ja, ein regelrechter Kulturkampf ist entbrannt um die Frage,
was „gutes Deutsch“ ist.
Und das betrifft dann auch jene,
die Deutsch lernen und lehren.
Es entzündet sich, zum Beispiel, der Kulturkampf
am Gendern.
Ich persönlich verwende keinen Genderstern.
Mich verwundert aber die hitzige Debatte sehr,
weil niemand so viel übers Gendern redet wie jene,
die sich darüber aufregen!
Niemand ist dazu gezwungen!
Es mag gute Gründe dagegen geben
– zum Beispiel,
dass manche Menschen mit Behinderung diese Schreibweise schlechter verstehen.
Oder dass die Veränderung von Sprache Zeit braucht.
Aber die gute Absicht zu verhöhnen,
möglichst alle Gruppen der Gesellschaft zu berücksichtigen, dafür habe ich kein Verständnis!
Fakt ist:
Sprache wirkt!
Viele Gesetzestexte etwa sind rein maskulin formuliert.
Das war auch in der Geschäftsordnung des Landtags so.
Als ich 2016 als erste Frau an die Spitze des Landtags gewählt wurde,
stand da nur „Der Präsident“:
„Der Präsident erteilt das Wort.“
Das habe ich geändert:
Jetzt steht da ganz einfach:
Der Präsident / Die Präsidentin!
So kompliziert ist es nicht!
Die ganze Aufregung über das Gendern ist übertrieben.
Bereits im Mittelalter gab es Bemühungen um geschlechtergerechte Sprache
– mit Worten wie „Gästin“.
Und auch zu Goethes Zeiten gab es Formulierungen wie „Studierende“
– das weiß ich übrigens von einem Post des
Goethe-Instituts!
Auch jenseits des Genderns oder geschlechtergerechter Sprache gibt es hitzige Debatten um die korrekte Sprache:
Etwa um koloniale, rassistische Begriffe,
wie das N-Wort in Schulbüchern.
Oder andere Worte,
die verletzen, ausgrenzen oder
einfach nicht mehr zeitgemäß sind.
Dass Sprache
menschenfeindlich und brandgefährlich sein kann, wissen wir in Deutschland nur zu gut!
Die vernichtende Sprache der Nationalsozialisten hat etliche Begriffe und Redewendungen für immer verbrannt.
Diese Sprache verbietet sich! Zurecht!
Aber Rechtsextreme verwenden den NS-Jargon heute bewusst, um Tabus zu brechen und ihr
menschenfeindliches Weltbild wieder zu verbreiten.
Ihre feindselige Sprache führt längst wieder zu
Spaltung und Gewalt.
Deshalb muss man bereits diese Sprache zurückweisen, wann und wo immer sie gesprochen wird!
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Kosmopolit Goethe,
der diverse Sprachen sprach,
sagte :
„Wer fremde Sprachen nicht kennt,
weiß nichts von seiner eigenen.“
Und auch deshalb,
– weil man so viel über die eigene Kultur lernt –
ist es ein Geschenk,
sich international zu begegnen,
zu versuchen,
die Eigenarten und Ähnlichkeiten der Sprachen abzugleichen und zu beschreiben,
den Humor und die Poesie
in den Wörtern und Sprichwörtern zu entdecken,
voneinander zu lernen,
auf Augenhöhe,
statt nur Anpassung einzufordern!
Ich finde,
das wäre nicht nur in den
Sprachkursen und Sprachcafés grandios,
sondern überall!
Wir würden viel gewinnen,
wenn wir alle ein paar Worte lernten in den Muttersprachen der Menschen um uns herum,
sei es aus Syrien, aus der Ukraine oder der Türkei etwa
– nicht,
weil wir müssen,
sondern weil es uns bereichert und
uns als Gesellschaft zusammenbringt!
Goethe ging sogar noch weiter:
Er schrieb:
„Der Deutsche soll alle Sprachen lernen
– damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem,
er aber in der Fremde überall zu Hause ist.“
In diesem weltbürgerlichen Geiste steht auch das Goethe-Institut,
steht die Stadt Schwäbisch Hall.
Sie zeigen,
dass Sprache nicht nur das Tor ist,
durch das die Welt nach Deutschland kommt,
sondern durch das Deutschland auch in die Welt gelangt!
Dafür sage ich von Herzen:
vielen Dank!
Es ist, liebe Gäste,
an uns allen:
• Nehmen wir die Schlüssel in die Hand.
• Öffnen wir die Schatzkammern der Sprache.
• Öffnen wir die Fenster zur Welt,
und bleiben auch wir offen
• als Gesellschaft,
• als Menschen,
• als Weltbürger*innen.