70 Jahre Verfassungsgerichtshof BW

Als im Sommer 1955 der Landtag von Baden-Württemberg zu einer Sondersitzung zusammentrat, jährte sich an diesem Tag das versuchte Attentat Graf von Stauffenbergs auf Adolf Hitler zum elften Mal. Vielleicht war es ein Zeichen, dass ein zentraler Tag des Widerstandes gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat, mit dem Tag zusammenfiel, an dem im vereinten Baden-Württemberg wieder ein höchstes Gericht vereidigt wurde.
Der erste Präsident des damaligen Staatsgerichtshofs war Walther Koransky. Als Katholik jüdischer Abstammung wurde er 1933 seines Amtes als Untersuchungsrichter in Karlsruhe enthoben. Nach dem Krieg kehrte er dorthin als Landgerichtsdirektor zurück. 1948 wurde er in Württemberg-Baden unter Ministerpräsident Maier geschäftsführender Minister für politische Befreiung. Als solcher setzte er das Gesetz Nummer 104 in Württemberg-Baden um, besser bekannt als das ‚Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus‘. Ihm oblag damit über Beschäftigungsverbote zu wachen, wenn ehemalige NS-Funktionäre in ihren Spruchkammerverfahren als ‚belastet‘ eingestuft wurden.
1955 jedoch waren längst wieder viele Schalthebel der Macht mit ehemaligen Nationalsozialisten besetzt. Als der erste Präsident des Landtags im alten Landtagsgebäude in der Heusteigstraße die Sitzung eröffnete, sprach er von der Bedeutung der Gewaltenteilung; er sprach von Montesquieu, von der Herrschaft des Volkes und vom ‚unverbrüchlichen Recht‘. Er sprach von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Als der erste Landtagspräsident sprach, da sprach ein langjähriges NSDAP-Mitglied. Es sprach Carl Neinhaus.
Als Oberbürgermeister von Heidelberg war er bei der Machtübernahme 1933 im Amt verblieben – was eine Seltenheit war. Nach anfänglichem Zögern trug er nicht nur alle Beschlüsse aus der Reichshauptstadt mit; sondern er zeichnete sich auch durch vorauseilenden Gehorsam aus: Er diskriminierte die jüdische Bevölkerung bei der Vergabe von städtischen Aufträgen – noch vor den Rassengesetzen oder anderweitigen Anweisungen aus der Reichshauptstadt. Neinhaus verstand es, in Diktatur und Demokratie gleichermaßen Karriere zu machen. Eine Karriere im Landtag von Baden-Württemberg, die neben anderen Aspekten übrigens zurzeit in einem von mir initiierten Forschungsprojekt näher untersucht wird.
Jeweils im höchsten Amt der Legislative und der Judikative standen sich so am 20. Juli 1955 zwei höchst unterschiedliche Männer im frei gewählten Landtag des neuen und demokratischen Bundeslandes Baden-Württemberg gegenüber.
70 Jahre ist das nun her. Seit 70 Jahren garantiert der Verfassungsgerichtshof die verfassungsmäßigen Rechte. Er ist eine Instanz, die jeder Bürgerin und jedem Bürger offensteht, wenn er oder sie sich in den verfassungsgemäßen Rechten eingeschränkt sieht. Eine Instanz, die auch die parlamentarische Opposition anrufen kann, wenn sie mit Verfahren und Prozessen nicht einverstanden ist oder sie die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen überprüfen lassen möchte. Eine Instanz, die Wahlen und Volksabstimmungen rechtsicher beurteilt.
Lieber Herr Professor Graßhof, Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen sind die diskreten Schiedsrichter des politischen Prozesses; Sie selbst stehen nur selten im Mittelpunkt, sind aber für Fairness und Vertrauen unerlässlich. Allein das Wissen um diese unabhängige Institution stärkt das Grundvertrauen in den demokratischen Rechtsstaat als Ganzes.
Indem Sie ihren verfassungsgemäßen Aufgaben nachgehen, sind Sie nicht nur der rechtsstaatliche Fels in der Brandung. Von großer Bedeutung ist auch, wie Sie es tun. Sie hören einander zu. Sie respektieren den Beitrag anderer. Sie wägen ab. Ihr Urteil gewinnt dadurch an Stärke, dass die vielfältigen Meinungen und Expertisen der beteiligten Richterinnen und Richter darin einfließen. Sie durchbrechen damit polarisierte Filterblasen und kommen dadurch der Wahrheit so nahe, wie es in unserer komplexen Welt möglich ist.
Unsere Wahrheit heißt Landesverfassung. Unsere Wahrheit sind die verbrieften Grundrechte. Und wir alle wissen, dass es mehr als diese wichtigen Worte von Menschenwürde und Freiheit auf Papier braucht: Es braucht starke und wehrhafte Institutionen, die diese Werte im Alltag hochhalten. Es braucht Menschen, die sie mit Leben füllen und not-falls auch verteidigen.
Meine Damen und Herren,
wir können den Verfassungsgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht nicht vergleichen. Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle einen kurzen Exkurs: Unsere Verfassung trennt die Gewalten, damit sie sich gegenseitig kontrollieren. Sie eint jedoch die Verteidigung unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Dafür kommt es auf alle drei Gewalten gleichermaßen an. Die im ersten Anlauf gescheiterte Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht macht mich deshalb mehr als nachdenklich:
Wie einfach hat es eine gezielte Desinformationskampagne geschafft, dass sich Parlamentarier der demokratischen Mitte in Kulturkämpfe verstricken, anstatt sich miteinander in der Sache auseinander zu setzen? Wie schnell konnte eine versierte und abwägende Richterin mit dem Label einer Aktivistin und Plagiatorin versehen werden, die sich nun ihre Person, ihren Ruf, ihre Integrität gegen gezielte Desinformationen verteidigen muss? Wie schnell ist die Verantwortung für ein konstruktives Miteinander, stabile demokratische Institutionen und die Karriere von fachlich versierten Juristinnen und Juristen vergessen?
In diesen Zeiten brauchen wir die überparteiliche Stimme der Vernunft unserer Verfassungsgerichte umso mehr: Als institutionelles Korrektiv und als Vorbild. Damit wir nie vergessen, wofür wir – alle Gewalten – im Sinne des Grundgesetzes arbeiten: Für ein Leben in Würde. Für alle Menschen. Als Landtagspräsidentin werde ich deshalb alles tun, um diese Quellen unabhängiger Vernunft zu schützen und zu stärken.
Meine Damen und Herren,
als Vertreterin der Legislative freut es mich außerordentlich, heute so viele Menschen versammelt zu sehen, die unseren Rechtsstaat verkörpern, vertreten und verteidigen. Ihre Arbeit an den Arbeitsgerichten, den Verwaltungsgerichten, den Sozialgerichten, den Finanzgerichten, den ordentlichen Gerichten und den Verfassungsgerichten ist elementar für ein Miteinander in Freiheit, Gleichheit und Würde.
Das Primat des Rechts, für das Sie stehen, ist das Fundament unserer Demokratie. Für Ihre tägliche Arbeit gilt Ihnen deshalb meine Hochachtung und mein aufrichtiger Dank!
Meine Damen und Herren,
der Nationalsozialismus hat uns gezeigt, wohin es führt, wenn Politik und Gerichte die Wände einreißen, die sie voneinander trennen. Unsere Judikative heute ist nicht politisch, und das ist auch gut so. Politisch neutral heißt jedoch nicht haltungslos zu sein gegenüber Verletzungen von Demokratie und Menschenwürde, gegenüber Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung. Die Erkenntnisse der Geschichte sollten uns stets leiten, diese Werte gemeinsam zu verteidigen.
Sehr geehrter Herr Präsident Graßhof, sehr geehrter Herr Vizepräsident O’Sullivan, sehr geehrte Richterinnen und Richter am Verfassungsgerichtshof: Frau Professorin Abels, Herr Czisch, Herr Gneiting, Frau Leßner, Herr Professor Seiler, Herr Suliman, und Frau Professorin Vöneky. Sie stärken mit Ihrer wichtigen ehrenamtlichen Tätigkeit unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat.
Dafür danke ich Ihnen von ganzen Herzen im Namen des Landtags von Baden-Württemberg!