03. Juni 2025

80 Jahre nach Flucht und Vertreibung: Wie aus Vertreibung Versöhnung wurde

Landtagspräsidentin Muhterem Aras am Redepult

Liebe Gäste,

Bundespräsident Richard von Weizsäcker nannte den 8. Mai 1945 einen Tag der Befreiung. Der Befreiung vom Nationalsozialismus. Es gelang ihm 1985 in seiner wegweisenden Rede ein neues Kapitel der Erinnerungskultur aufzuschlagen. Er vermochte auch darzulegen, dass mit dem 8. Mai für viele Menschen erst schwere Leiden begannen und noch folgen sollten. 

Die Ursache dafür verortete er in der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Er sagte: „[…] wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

Seine klaren Aussagen schlugen 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs große Wellen. Sie waren damals nicht unumstritten. In demokratischen Kreisen sind sie mittlerweile Konsens: Durch den Zweiten Weltkrieg, durch Pogrome, Erschießungen und Vergasungen, forderte der Nationalsozialismus weltweit mehr als 60 Millionen Tote. Darunter auch die Opfer der Genozide an Jüdinnen und Juden, sowie an Sinti und Roma. Und der Nationalsozialismus führte auch dazu, dass nach seinem Zusammenbruch 12 bis 14 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat im mittleren und östlichen Europa vertrieben wurden. Das dürfen wir nie vergessen. Beides sind unumstößliche Bestandteile der deutschen Geschichte.

Es gab schon früh Warnungen, dass der Eroberungs- und Vernichtungskrieg die Existenz der deutschen Gemeinschaften – innerhalb und außerhalb des deutschen Reichsgebietes – aufs Spiel setzen würde: Etwa von Wenzel Jaksch, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik. Er warnte kurz vor dem Anschluss des Sudetenlandes als Folge des Münchner-Abkommens 1938: „Die sudetendeutsche Heimat würde im Zusammenprall der Weltkräfte vernichtet, ihre Zukunft ausgelöscht.“

Ab 1944 wurde aus der Warnung bittere Realität, nicht nur für das Sudetenland: Aus Pommern, aus Preußen und Schlesien; aus dem Banat, aus Siebenbürgen und Bessarabien, aus dem Wolgagebiet, dem Baltikum und weiteren Regionen östlich der Oder mussten Deutsche vor der anrückenden sowjetischen Armee fliehen. Es begannen wilde Vertreibungen; es folgten behördliche Anordnungen und Maßnahmen und damit die Legitimierung der Gewalt. Tausende Menschen überlebten die Trecks in Hunger und beißender Kälte nicht. Andere wurden in Arbeitslager verschleppt, Männer willkürlich erschossen, Frauen vergewaltigt. 

„Stolz ist das, was die anderen über die vergangenen Monate beerdigt haben. Sie waren verrückt geworden. Ihr Leben war Ihnen abhandengekommen, ihre eigenen Interessen, Sehnsüchte, ihr Verlangen, das, was ihnen Freude bereitete. Von ihnen waren bloße Hüllen übriggeblieben.“ So beschreibt Kateřina Tučková, aus Sicht ihrer Romanheldin Gerta Schnirch, den Zustand der Vertriebenen, die den Brünner Todesmarsch überlebt hatten. Mehr als 5.000 Menschen überlebten diese Vertreibung jedoch nicht. Das war jeder Zehnte der deutschen Bevölkerung in Brünn.

Wer Flucht und Vertreibung überlebt hatte, traf auf eine kriegszerstörte und kriegsversehrte deutsche Gesellschaft, der es fast an allem mangelte. Und während einige Vertriebenenfamilien gut in der Gesellschaft aufgenommen wurden, erfuhren andere aufgrund ihrer Herkunft, ihres Erlebten und ihrer Sprache immer wieder Diskriminierung im Alltag und im Beruf. Ein amerikanischer Offizier notierte 1947, dass kein Unterschied gemacht würde zwischen Nationalsozialisten und ihren Gegnern, zwischen Sozialisten und Konservativen, Katholiken oder Protestanten. Der einzige Unterschied bestünde „zwischen Einheimischen und Geflüchteten.“

Wenige Jahre später hatte schon mehr als jeder achte Einwohner Baden-Württembergs eine Vertriebenengeschichte. Die Vertriebenen organisierten sich ab 1949 teilweise schnell in Verbänden und taten beides – sie pflegten ihr Brauchtum und integrierten sich Schritt für Schritt in die Mehrheitsgesellschaft. Und wirkten so am Wiederaufbau Deutschlands aktiv mit! Eine bewundernswerte Leistung von Millionen Frauen und Männern, denen dafür unser aller Dank gebührt. 

5 Jahre nach Kriegsende wurde mit der Charta der deutschen Heimatvertriebenen ein Zeichen der Versöhnung gesetzt: „Wir verzichten auf Rache und Vergeltung.“ Nur gut 100 Meter von hier, vor dem Neuen Schloss, wurde die große Botschaft des Aufeinander-zu-gehens, des gemeinsamen Wiederaufbaus und der europäischen Kooperation verkündet. Stuttgart hatte man sich unterdessen nicht zufällig ausgesucht: Die württembergische Landeshauptstadt trug im sogenannten Dritten Reich stolz den Titel ‚Stadt der Auslandsdeutschen‘. 

Es gab natürlich nicht ‚DIE Vertriebenen‘, und nicht alle Vertriebenen organsierten sich in Verbänden. Man teilte zwar den Verlust der Heimat. Wie damit umgegangenen wurde, war jedoch höchst unterschiedlich.

Deutlich wurde dies am 6. August 1950, als die Charta auf dem Stuttgarter Schlossplatz vor zehntausenden von Menschen verlesen wurde. Es gab nicht nur Zustimmung, und Redner, die für Verständigung und Integration warben, wurden teilweise ausgebuht. Man sah Transparente, die unter anderem forderten: „Gebt uns unsere Heimat wieder!“ Durchgesetzt hat sich am Ende die Versöhnung: Die Oder-Neiße-Linie als östliche Grenze Deutschlands wird mittlerweile nur von Rechtsextremisten in Frage gestellt. 

Die Romanfigur Gerta stirbt als alte Frau, nachdem sie in ihre alte Heimat zurückkehrte, „ohne Gefühle, gefangen in ihrem Hass auf diese Gesellschaft und am Ende festgefahren in ihrem Verlangen nach einer Entschuldigung.“ Die erste Entschuldigung sprach 1989 der erste Staatspräsident der demokratischen Tschechoslowakei, Václav Havel, aus. Eine offizielle Entschuldigung für das begangene Unrecht beschließt die tschechische Regierung erst im Jahr 2005. 10 Jahre später sprach der damalige Oberbürgermeister von Brünn, Petr Vokřál, unterstützt von einer Mehrheit im Stadtrat, eine Entschuldigung für den Brünner Todesmarsch aus. Ebenfalls 2015 strich die Sudetendeutsche Landsmannschaft die unmittelbare „Wiedergewinnung der Heimat“ aus ihren Satzungszielen. 

Es zeigt uns: Gräben zu überwinden dauert. Aber es kann gelingen. Bis heute wächst die Versöhnung mit jeder ausgestreckten Hand über die Grenze, mit jeder Städtepartnerschaft, mit jedem Zeichen des Friedens. Nicht, weil sie vergangene Konflikte unter den Tisch kehrt. Sondern gerade, weil es diese Konflikte gab und wir daraus gelernt haben, dass wir nur miteinander in der Welt bestehen können. Ein wichtiger Treiber im östlichen Europa ist die junge Generation, die Fragen stellt: Fragen nach der Geschichte eines Ortes markieren ein Ende des Schweigens. Und ermöglichen eine Aufarbeitung dort, wo Vertreibung stattfand. So waren es junge Studierende, die vor fast 20 Jahren in Brünn einen Gedenkmarsch initiierten, um der vertriebenen Deutschen zu erinnern. Am vergangenen Samstag fand der ‚Versöhnungsmarsch‘, wie er heute heißt, nun zum 20. Mal statt. Und viele von Ihnen waren bei diesem großen emotionalen Erlebnis des gemeinsamen Erinnerns und der Verständigung dabei.

 

Meine Damen und Herren, die Vertriebenen, ihre Familien und Nachkommen sind aufgrund ihrer leidgeprüften Lebensläufe in vielen Welten zuhause. Und sie wissen, wie schwer es ist, in einer neuen Heimat Fuß zu fassen. Das macht sie zu geborenen Brückenbauern: Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Heilbronn teilt sich zum Beispiel das Vereinsheim mit der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft und unterstützt Geflüchtete aus der Ukraine im Alltag. Ein Engagement, das im Dezember mit dem Heilbronner Bürgerpreis ausgezeichnet wurde. 

Die Flucht- und Vertreibungserfahrung, selbst erlebt oder in der Familie verankert, kann auch helfen, in der heutigen Zeit Verständnis und Fürsorge aufzubringen: für Menschen, die ihre Heimat aus vielfältigen Gründen verlassen müssen und bei uns in Deutschland Schutz suchen. Wer sich an all die Verfolgung, Vertreibung und Kriegsgräuel erinnert, begreift, warum das Recht auf Asyl in Deutschland ein Grundrecht ist. 

Liebe Gäste, Verständigung über Grenzen hinweg ist der wichtigste Schritt in eine gemeinsame, europäische, friedliche Zukunft. Der Racheverzicht in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen erinnert seit 75 Jahren genau daran: Daran, Teufelskreise aus Vergeltung und Vertreibung zu durchbrechen. Daran, den langen Weg der Versöhnung zu gehen, gegen alle Widerstände.

Richard von Weizsäcker hielt seine Rede 40 Jahre nach Kriegsende. Für ihn markiert diese Zeitspanne einen Generationenwechsel. Eine Zeitspanne, nach der Erinnerung und Wachsamkeit zu verblassen drohen. Für seine These sehen wir auch heute – 40 Jahre später – wieder Anzeichen: Wir spüren, wie der Geschichtsrevisionismus zunimmt. Wir sehen, wie der Rechtsextremismus erstarkt, die nationalsozialistischen Verbrechen verharmlost werden und eine völkische Sprache auch in Parlamenten gesprochen wird. Ehrenamtliche in der Gedenkstättenarbeit sehen sich rechtem Hass und Hetze ausgesetzt. 80 Jahre nach der Befreiung gilt es daher mehr denn je, nicht einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen, sondern die richtigen Schlüsse daraus. Nämlich: Schützen wir die Menschenwürde. Verteidigen wir Rechtsstaat und Demokratie!

Auch deswegen sind wir heute Abend hier: Um ein Zeichen zu setzen für Versöhnung. Und gegen Extremismus. Denn wir wissen, dass der Weg des Extremismus in Wahrheit eine Spirale ist. Eine Spirale aus Hass und Gewalt. Ich bin überzeugt: Wenn wir unsere Heimat lieben, bedeutet das, dass wir uns für eine friedliche Heimat einsetzen. Ich danke dem Bund der Vertriebenen und allen Menschen, die sich aktiv dafür engagieren. Indem sie statt Gräben aufzureißen, statt zu spalten und zu polarisieren, Brücken bauen und die Erinnerung hochhalten. Ganz im Sinne des BdV-Jahresmotto: Erinnern, um zu bewahren und die Zukunft so zu gestalten, dass sich die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten mit ihren weltweiten Folgen nie wiederholen. Nicht heute. Und auch nicht in 40 Jahren, wenn der nächste Generationenwechsel stattfindet.