Abendveranstaltung Vaihingen/Enz Gedenkstättenreise

Meine Damen und Herren,
zu Ihnen führt mich heute meine Gedenkstättenreise, die ich einmal im Jahr durchführe, um mich aus tiefstem Herzen zu bedanken bei all denen, die die Erinnerung wach-halten und unsere Erinnerungskultur stemmen: den haupt- und überwiegend ehrenamtlich Engagierten in den Gedenkstätten.
Sehr geehrter Herr Köhler, Ihnen – als Mitglied des Sprecherrats der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen – möchte ich heute – stellvertretend für alle Engagierten – diesen Dank aussprechen. Die LAGG hat ihren Ursprung hier in Vaihingen, und sie ist kürzlich 30 Jahre alt geworden. Das heißt, seit 30 Jahren arbeiten die vielen Gedenkstätten von Baden-Württemberg eng zusammen. Und Sie haben seitdem gemeinsam Großartiges geleistet und bewegt. Dafür Ihnen allen tausend Dank!
Dieses Jahr ist ein besonderes: Genau 80 Jahre ist es her, dass die Alliierten den Zweiten Weltkrieg in Europa beendeten und uns von der nationalsozialistischen Terror-Herrschaft befreiten.
In Deutschland leben noch Millionen von Menschen – Großeltern und Urgroßeltern – die in diese Zeit hineingeboren wurden: in das grausamste Kapitel, in den verheerendsten Krieg und das größte Verbrechen der Menschheit. Es ist unser gigantisches Glück, dass wir all das Leid und all den Horror heute kaum noch erahnen können, weil wir in einem der friedlichsten, freiesten, stabilsten, wohlhabendsten und demokratischsten Länder der Erde leben.
Aber es ist nur einen Wimpernschlag her, dass das Gegenteil der Fall war, und es gilt seither – und für immer – das Zitat des Holocaust-Überlebenden Primo Levi: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“ Die Gedenkstätten leisten einen elementaren Beitrag, uns genau das in Erinnerung zu rufen, uns in Erinnerung zu rufen, wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich von Hass und Fanatismus leiten lassen.
Meine diesjährige Gedenkstättenreise führt mich – neben Vaihingen/Enz –auch nach Leonberg, Brettheim, Michelbach/Lücke und Creglingen. Gedenkstätten bringen uns die Erinnerung nahe, wortwörtlich: Denn: wo immer wir uns in Deutschland befinden, ist eine Gedenkstätte ganz in der Nähe – weil überall in unserer Nähe Verbrechen stattfanden. Verbrechen, an die erinnert wird und deren Spuren wir noch heute sehen. Die Nazis haben Europa unter anderem mit über 40.000 Zwangslagern übersät: Konzentrations- und Vernichtungslager, Zwangsarbeits- und Gefangenenlager, Ghettos: 40.000 – und eines menschenverachtender als das andere!
Hier, in Vaihingen/Enz, nannten sie es „Kranken- und Erholungslager“, dabei war es nichts anderes als ein Todeslager: Hunger, Kälte, Strapazen der Zwangsarbeit und eine Epidemie rafften ca. 1600 Menschen dahin. Auch im KZ in Leonberg starben etliche Menschen an Seuchen, an Unterernährung und an der mörderischen Gewalt der SS: Jeden Tag mussten sie in 12-Stunden-Schichten schuften, um in einer Tunnelfabrik die Tragflächen eines Flugzeuges her-zustellen, das die Nationalsozialisten in ihrer Propaganda als „Wunderwaffe“ bezeichneten und von dem sie sich in ihrer Verblendung den „Endsieg“ versprachen.
Im Frühjahr 1945 – als sich dies vollends als Trugbild herausstellte und die Alliierten näher rückten – brachten die Nazis noch viele KZ-Häftlinge auf den Todesmärschen um, und ließen Massengräber zurück. Der nationalsozialistische Wahn kostete vor dem Kriegsende auch drei Männern in Brettheim das Leben.
Die SS verlangte von Brettheim, dass sich das Dorf gegen die anrollenden Panzer der US-Armee verteidigte. Um dieses sinnlose Gemetzel zu verhindern, entwaffnete der Bauer Friedrich Hanselmann – gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern – vier Hitlerjungen. Er stellte sich der SS, als einziger, um seine Bekannten zu schützen. Und wurde zum Tode verurteilt. Weil sich Bürgermeister Leonhard Gackstatter und Ortsgruppenleiter Leonhard Wolfmeyer weigerten, das Todesurteil zu unterschreiben, wurden auch sie hingerichtet. Die „Männer von Brettheim“ wurden an den Friedhofslinden erhängt. Und das Dorf wurde im sinnlosen Gefecht fast vollständig zerstört.
Der Nationalsozialismus hat tiefe Spuren hinterlassen, nicht nur in der Zerstörung der Städte, sondern auch in der Bevölkerung. In Michelbach an der Lücke gehörte die jüdische Gemeinde fest zum Ort – mindestens seit dem Jahr 1555. Zwischendurch war ein Drittel der Einwohner jüdischen Glaubens, bis der Rassenwahn entflammte. 1941 und ‘42 wurden die letzten 21 Jüdinnen und Juden aus Michelbach nach Riga und Theresienstadt deportiert. An sie erinnert heute die Gedenkstätte in der ehemaligen Synagoge.
Auch in Creglingen erinnert ein Museum an das jüdische Leben, das es über Jahrhunderte dort gab: Wo heute ein Ort der Begegnung und Versöhnung ist, war einst ein Ort der Verfolgung: Im März 1933 stürmten die Nazis die Synagoge und jagten 16 jüdische Männer ins Rathaus, wo sie sie misshandelten. Zwei der Opfer starben daran.
Es sind Geschichten wie diese, die die Gedenkstätten einem nahebringen. Und sie gehen einem nahe. Sie gehen mir nahe. Auch nach all den vielen Jahren, die ich mich sehr intensiv mit den Verbrechen des Nationalsozialismus beschäftige. Und nach den Besuchen von Erinnerungsorten und Gedenkstätten, erfahre ich immer wieder neue Abgründe.
Menschliche Abgründe, bei denen mir der Atem stockt, wo ich einfach nur fassungslos bin, wenn ich überlege, wie Menschen anderen Menschen Derartiges antun können. Auch macht es mich sehr betroffen und steigert meinen Respekt für die geleistete Erinnerungsarbeit – von Mal zu Mal – wenn ich immer wieder davon höre, wie mühselig die Gedenkarbeit vor Ort oft war und ist. Auf welche Widerstände diejenigen gestoßen sind, die unsere ungeheuerliche Vergangenheit nicht ausblenden wollten, sondern sie der Gesellschaft vor Augen führen, damit wir – nie wieder – in einen solchen finsteren Abgrund blicken.
„Wollen die Deutschen noch hinschauen?“ Das fragte eine deutsche Wochenzeitung im März dieses Jahres, als sie eine Umfrage zum Gedenken auswertete. Die Ergebnisse besorgen mich sehr: Mehr als die Hälfte der Befragten stimmte der Aussage „eher“ oder „voll und ganz“ zu, dass es Zeit für einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus sei. Rund 60 Prozent stimmten der Aussage zu, dass „die ständige Erinnerung an den Nationalsozialismus verhindert, dass die Deutschen ein gesundes Nationalbewusstsein entwickeln.“ Mehr als die Hälfte stimmte folgender Aussage zu: „Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben.“ 28 Prozent stimmten zu, dass die NS-Zeit „viel zu einseitig und negativ dar-gestellt werde“, sie habe auch „ihre guten Seiten gehabt“.
Meine Damen und Herren, liebe Jugendliche:
um es glasklar zu sagen: Nichts, nichts, aber auch gar nichts war gut an der NS-Zeit! Wer sich wirklich auseinandersetzt mit jener Zeit, wer auf die höllischen Schlachtfelder und zerbombten Städte vor 80 Jahren blickt, würde sich zu einer solchen Aussage nicht erdreisten. Es würde niemand wagen, der sich die rund 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden ins Bewusstsein ruft, die bis zu 500.000 ermordeten Sinti und Roma, die ermordeten Mitglieder der Zeugen Jehovas, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, Kriegsdienstverweigernde, Menschen, die als „asozial“ herab-gewürdigt wurden, Oppositionelle und Menschen im Widerstand.
Über 70 Millionen Menschenleben haben die NS-Diktatur und der von ihr entfachte Zweite Weltkrieg aus-gelöscht. Und als sich beides dem Ende neigte, war da ein grenzenloses Grauen, wohin man nur sah: All die Massen-Exekutionen und Todesmärsche in den Monaten vor Kriegsende – wie in Leonberg. Ausgemergelte KZ-Häftlinge, die versuchten zu fliehen, wurden auch von Zivilisten verraten und gejagt. Die Ermordung von Zivilisten, die nicht mehr kämpfen wollten, durch SS-Leute. Selbst Kinder wurden gehängt. Bis zum Schluss schickten die Befehlshaber Menschen in den sinnlosen Tod!
Jungen und Mädchen – 14 Jahre alt und jünger – wurden in den letzten Kriegsmonaten buchstäblich ‚verheizt‘ und in den Kampf geschickt, wie in Brettheim! Auch Kinder bedienten Geschütze, schaufelten Gräben und Gräber, verarzteten die Verstümmelten, sahen Leichen am Straßenrand aufgereiht, von der Hitze des Bombenfeuers auf Kindergröße geschrumpft. In den Tagen vor Kriegsende waren viele deutsche Städte fast komplett zerstört. Am Ende war der Krieg auch für diejenigen, die nicht in Lagern um ihr Überleben kämpften oder an der Front im Einsatz waren, ein einziger Albtraum, bei helllichtem Tag!
All dies war die Folge des nationalsozialistischen Wahns! Nein, daran gibt es nichts zu verleugnen, zu verharmlosen oder gar zu verklären! Nein, der Nationalsozialismus hatte keine guten Seiten. Er hat einzig und allein das Schlimmste aus den Menschen hervorgebracht. Und zwar nicht nur aus wenigen Menschen, sondern aus einem Großteil des deutschen Volkes, das sich zur „Herrenrasse“ aufschwang und der Welt den Krieg erklärte, das sich so sehr in Vorurteile und Fremdenhass verbohrte, dass es anderen Menschen das Menschsein aberkannte.
Welches „gesunde Nationalbewusstsein“ meinen die Befragten im Zeitungsartikel, wenn sie sagen, es werde durch das Erinnern gehemmt? Es ist doch vielmehr so, dass der Faschismus ein krankhaftes Nationalbewusstsein hervorrief. Eines, das sich über andere erhob und nach zwölf Jahren Herrschaft den ganzen Kontinent in Schutt und Asche gelegt hatte. Nein, einen Schlussstrich kann es nicht geben. Erinnerungsarbeit ist nie zu Ende.
Es geht dabei nicht darum, ein schlechtes Gewissen zu haben. Sondern es geht darum, ein Gewissen zu haben! Ein Gespür dafür zu haben, wo das Unrecht seinen Anfang nimmt – und nicht mitzulaufen! Es geht auch nicht darum, sich schuldig zu fühlen. Sondern darum, zu wissen, dass man Schuld auf sich nimmt, wenn man keinen Widerstand leistet im Angesicht der Unmenschlichkeit. Dass man Verantwortung trägt für die Gegenwart! Es geht nicht darum, sich zu schämen über die Geschichte des eigenen Landes. Sondern es geht darum, stolz und dankbar zu sein, heute in einem Land zu leben, in dem die Menschenwürde in der Verfassung an vorderster Stelle steht, als Fundament unserer Demokratie!
Aber dieser Fortschritt ist in Gefahr: Die gleichen Gruppen, die von den Nazis verfolgt und vernichtet wurden, werden auch heute von Rechtsextremen angefeindet und bedroht: Jüdinnen und Juden, Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderung, Queere Menschen, Obdachlose und Bedürftige, politische Gegner.
Und gerade weil uns die Erinnerung an die NS-Zeit zur Vorsicht mahnt und das Versprechen einfordert, es nie wieder so weit kommen zu lassen, sind auch die Gedenkstätten selbst ein Feindbild der Rechtsextremen. Herr Dr. Frankenberger, Sie werden darauf gleich in Ihrem Fachvortrag eingehen.
Dass zunehmend die Mitarbeitenden in den Gedenkstätten beschimpft, beleidigt oder bedroht werden, dass immer mehr Menschen, die die Vergangenheit leugnen, dies in den Gedenkstätten verlautbaren, dass immer mehr Menschen – gerade auch Jugendliche –rechtsextreme Symbole und Parolen – selbst in KZ-Gedenkstätten – verbreiten, dass Gedenkstätten attackiert, vandaliert und sogar Gräber geschändet werden – wie hier, in Vaihingen/Enz: Das ist unerträglich und inakzeptabel, es verhöhnt die Opfer, es nagt an der heldenhaften Gedenkarbeit und es ist ein Frontalangriff auf unsere Demokratie.
Und die Gedenkstätten haben die vollste Solidarität und den absoluten Rückhalt – nicht nur von mir persönlich, sondern auch von allen demokratischen Fraktionen im Landtag von Baden-Württemberg! Aber das ist nicht nur eine Sache des Landtags: Unser ganzer Rechtsstaat muss jetzt Zähne zeigen! Und auch die Zivilgesellschaft ist gefragt: Es ist an uns allen, an jeder und jedem von uns, dem Rechtsextremismus entgegenzutreten. Und mit dem Erinnern fängt es an!
Meine Damen und Herren,
wollen wir Deutsche noch hinschauen?
Ich sage: Wir müssen! Wir müssen auf die Vergangenheit schauen und wir müssen jetzt hinschauen, damit wir morgen noch in den Spiegel schauen können – und in eine Zukunft in Freiheit und Demokratie!