Ein Tag für die Opfer der Tötungsanstalt
80 Jahre, nachdem die ersten grauen Busse Menschen mit Handicap aus Heilanstalten in die Tötungsanstalt Grafeneck brachten, und 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee, richtete der Landtag von Baden-Württemberg seine zentrale Gedenkfeier für die Opfer des nationalsozialistischen Terror-Regimes am authentischen Ort auf der schwäbischen Alb aus. Landtagspräsidentin Muhterem Aras hielt nach der Kranzniederlegung am Mahnmal eine Rede. „Gedenken ist aktuell. Gedenken ist gelebter Widerstand gegen Menschenfeindlichkeit im Hier und Heute“, sagte sie. Sie zitierte aus dem „Deutschen Ärzteblatt“, herausgegeben von der Bundesärztekammer, über Proteste gegen die Aussagen einer parlamentarischen Anfrage. Eine der Fraktionen im Deutschen Bundestag wollte wissen, welche „volkswirtschaftlichen Verluste durch die nicht genutzten Erwerbspotenziale“ von Menschen mit psychischen Erkrankungen ausgingen.
Parlamentarische Anfragen dieser Art seien nicht unzulässig. Menschen mit Handicaps als Kostenfaktor und Belastung zu sehen, sei von der Meinungsfreiheit gedeckt. Eine demokratische Gesellschaft gebe als Antwort den wichtigsten Artikel unserer Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sie gelte bedingungslos. Sie habe keinen Preis! Niemals mehr! Das heiße in der Praxis: Machen wir den wichtigsten Satz des Grundgesetzes ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ zum Leitsatz in allen gesellschaftlichen Diskussionen.
Die Gedenkstunde, musikalisch umrahmt von der Brenz-Band, war geprägt von Momenten, in denen die Opfer und Opferfamilien emotional und lebendig gewürdigt wurden. Schülerinnen und Schüler aus Münsinger Schulen lasen von Fassungslosigkeit geprägte Briefe der Verwandten an die Heimleitungen, in denen das getötete behinderte Kind zuletzt war. Die Schauspieler Julianna Herzberg und Jan Uplegger ließen in einer szenischen Collage von Texten, die kleine Greta auferstehen, die wegen ihrer Körperbehinderung als „unwertes Leben“ getötet wurde – wie gut zehntausend weitere. Die Präsidentin zitierte aus der Vernehmung eines Mitarbeiters: „Die Körper wurden in dem Schuppen aufgestapelt, in welchem drei fahrbare Verbrennungsanlagen aufgestellt waren. Die große Zahl der Toten ließ eine Einzelverbrennung nicht zu.“ Diese Sätze über das Töten wollten die Grausamkeit des Geschehens hinter der Nüchternheit eines Vermerks verbergen, so die Präsidentin. Aber gerade das mache beim Lesen und Zuhören umso fassungsloser.
In Grafeneck, so der Bielefelder Professor Hans-Walter Schmuhl im Vortrag, habe die industrielle Ermordung im Zuge der so genannten Euthanasieprogramme begonnen. Grafeneck markiere den Anfang der „planrationalen Ermordung“ und damit den Anfang der im NS-Jargon „Endlösung“ genannten Genozid an der jüdischen Bevölkerung. Der Holocaust werde immer als Zivilisationsbruch bezeichnet, so Professor Schmuhl. Präziser könne man den Massenmord an ganz bestimmten Opfergruppe eine „Möglichkeit der Moderne“ nennen.
Der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, zu der jährlich weit mehr als 30 000 Besucherinnen und Besucher kommen, erinnerte daran, wie lange Grafeneck „erinnerungspolitisches Niemandsland“ war: Erst 1990 sei die Gedenkstätte eingerichtet worden, 2015 habe sie Winfried Kretschmann als erster Ministerpräsident besucht, so Dr. Thomas Stöckle.
Der Vorstandsvorsitzende der Samariterstiftung, Pfarrer Frank Wößner, nannte Grafeneck einen „Ort des Widerspruchs“. Ein Ort, an dem die Täter die industrielle Tötung der behinderten Menschen vorantrieben, aber auch ein Ort, an dem Bildung gegen das kollektive Vergessen stattfinde und ein Bekenntnis für ein gemeinsames Leben abgegeben werde. Der Samariterstiftung gehört nicht nur das Schloss Grafeneck, sondern auch zahlreiche Häuser mit Wohngruppen von Menschen mit Handicap. Wößner fragt: "Wo war Gott in Auschwitz und in Grafeneck?", aber auch: "Wo war der Mensch in Auschwitz und in Grafeneck?".
Aus dem Landtag nahmen neben Präsidentin Muhterem Aras und Direktor Berthold Frieß auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Andreas Stoch, die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Nicole Razavi sowie zahlreiche Abgeordnete aller Fraktionen teil. Die Landesregierung war vertreten durch Staatsministerin Theresia Schopper und Innen-Staatssekretär Wilfried Klenk.