550-jähriges Jubiläum

Wolfgang Drexler: Landtag von Baden-Württemberg stammt in ziemlich gerader Linie vom Leonberger Landtag ab Stuttgart/Leonberg. „Der Landtag von Baden-Württemberg bekennt sich gerne dazu, dass er in ziemlich gerader Linie vom Leonberger Landtag abstammt. Denn was sich hier relativ unspektakulär zutrug, war die Initialzündung für einen nachhaltigen Aufbruch in die Moderne.“ Dies erklärte Landtagsvizepräsident Wolfgang Drexler (SPD) am Freitagabend, 16. November 2007, beim Festakt zum 550-jährigen Jubiläum des Leonberger Landtags. In seiner Ansprache im Theater im Spitalhof sagte Drexler wörtlich: >>Am 16. November 1457 fand in Leonberg kein Sturm auf die Bastille statt wie am 14. Juli 1789 in Paris. Die Stadt erlebte auch keine kraftvolle Massenkundgebung nach Art des Hambacher Festes am 27. Mai 1832. Und der „Schwarze Adler“ beherbergte im Herbst vor 550 Jahren – falls er es war – keine von politischen Idealen beseelte Versammlung wie die Frankfurter Paulskirche ab dem Frühsommer 1848. Trotzdem bekennt sich der Landtag von Baden-Württemberg gerne dazu, dass er in ziemlich gerader Linie vom Leonberger Landtag abstammt. Denn was sich hier relativ unspektakulär zutrug, war die Initialzündung für einen nachhaltigen Aufbruch in die Moderne. Das Bürgertum stieg zur zweiten Staatsgewalt auf. Oder wenn man den Klerus dazurechnet: immerhin zur dritten. Wir sollten freilich nichts beschönigen: Hinter dieser institutionellen Reform standen eminente Sachzwänge. Und das Bürgertum wusste sehr wohl um die materiellen Vorteile seiner neuen Stellung. Überdies setzte sich unser parlamentarischer Urahn nicht aus gewählten Abgeordneten zusammen, sondern nur aus Delegierten. Das Vorbild des klassischen Griechenlands spielte keine Rolle – wenigstens keine Hauptrolle. Von einer echten Demokratie in unserem Sinn träumte niemand. Entscheidend war: Die ersten bürgerlichen Politiker und ihre Nachfolger machten – in bestem Sinne – Staat. Und der Appetit kam beim Einflussnehmen. Die ins Werk gesetzte Idee der politischen Partizipation dynamisierte sich selbst. Manifestiert wurde der Elan im Tübinger Vertrag von 1514, der als „württembergische Magna Charta“ gilt und fast dreihundert Jahre Bestand hatte. Dieses epochale Verfassungsdokument fixierte erstmals wichtige Grundrechte für alle. Und es zementierte, was in Leonberg begonnen hatte: eben die Mitwirkung der Bürger. So durfte ein württembergischer Herzog fortan die Regierung nur antreten, nachdem er den Vertrag bestätigt und damit die Kompetenzen der Landstände garantiert hatte. Kurzum: 1457 ist eine jener Jahreszahlen, die besagen: Die Idee der Partizipation und - damit verbunden - die Idee der Freiheitsrechte sind ein Teil unserer Tradition, selbst wenn sie sich erst später in vollem Umfang durchsetzen konnte. Und es entpuppte sich nicht als Nachtteil für die gedeihliche Entwicklung des Landes, dass die bürgerschaftliche Mitbestimmung quasi zur schwäbischen Staatsräson gehörte. Das wiederum sollte für uns Heutige beides sein: eine Ermutigung und eine Verpflichtung – insbesondere mit Blick auf die zersetzenden Phänomene, die unsere Gesellschaft bedrohen. Denken wir nur an die verschärfte Umverteilung von unten nach oben; an Arbeitsverdichtung und Lohnverzicht; an das Gefühl, im Geldbeutel nicht teilzuhaben am Aufschwung; an die Existenzängste bis in die Mittelschicht hinein. Oder denken wir an die Erfahrung, den Entscheidungen ferner Konzernzentralen oder anonymer Organisationen hilflos ausgeliefert zu sein. All das beeinflusst fundamental das Verhältnis der Menschen zum Staat. Wir müssen grundlegende Fragen beantworten: • Soll der Staat in erster Line für die innere Sicherheit alles Erforderliche tun – und zulasten der Bürgerrechte auch ein bisschen mehr als Notwendige? • Soll sich der Staat hauptsächlich als großer Deregulierer und Privatisierer sehen, der die meisten Probleme – selbst im Kernbereich der Daseinsvorsorge – stereotyp mit mehr Wettbewerb lösen will? • Soll der Staat zuoberst ein betriebswirtschaftlich gesteuerter Dienstleister sein, der seinen Kunden Infrastruktur anbietet? • Oder hat der Staat - auch - den notwendigen sozialen Ausgleich zu gewährleisten und das Sozialstaatsgebot entsprechend auszugestalten? Unser Bildungssystem ist - leider - ein gravierendes Beispiel: Wir wähnten uns weit weg von der feudalen Gesellschaft und ihren durch Herkunft und Einkommen bestimmten Lebenswegen. Jetzt haben wir dank PISA-Studien den wahren Befund schwarz auf weiß: Bei uns existieren immer noch ererbte Privilegien. Denn anders kann man es nicht nennen, dass vier von fünf Akademikerkindern studieren und nur eines von fünf Kindern mit Eltern ohne akademischen Grad. Abstrakter formuliert: Wenn die Gesetze des Marktes allein regieren, wenn der ökonomische Imperativ auch Bereiche wie Erziehung, Gesundheit oder Kultur beherrscht, dann gibt es nur eine Priorität, dann wird das Abwägen unterschiedlicher Aspekte in den Parlamenten überflüssig, dann dient Politik nicht mehr dem Menschen. Dem Menschen zu dienen - genau das jedoch ist der springende Punkt! Verinnerlichen wir also die Wechselbeziehung: • Partizipation humanisiert den Staat. • Partizipation braucht aber durch Bildung befähigte und sozial unbedrängte Menschen. Die politische Anteilnahme am Gemeinwesen setzt natürlich zudem gute direkte Einflussmöglichkeiten voraus. Darum müssen wir regelmäßig prüfen, wie die unmittelbare politische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger ausgebaut werden kann. Allerdings mahnt der Rückblick auf fünfeinhalb Jahrhunderte Partizipationsgeschichte nachdrücklich, die repräsentative Demokratie und die Parteien als zentrale Akteure bei der Willensbildung nicht schlechtzureden. Die Geringachtung der Parteien in der Weimarer Republik spielte erwiesenermaßen den Nazis in die Hände. So ernteten die braunen Feinde der Demokratie allgemeine Zustimmung und offenen Applaus, als sie gegen den Reichstag hetzten und ihn eine „Schwatzbude“ nannten. Wie verbreitet dieser Ungeist war, spiegelt die lethargische Gleichgültigkeit wider, mit der das Eliminieren der demokratischen Parteien schon wenige Monate nach Hitlers Machtergreifung hingenommen wurde. Es ist natürlich ein Lebenselixier der Demokratie, kritisch, ja skeptisch zu hinterfragen, was in den Parlamenten beschlossen oder nicht beschlossen wird beziehungsweise was die Regierungen mit ihren bürokratischen Apparaten tun oder unterlassen. Die Skepsis darf jedoch nicht in Argwohn und Desinteresse umschlagen. Je mehr Menschen sich von der Politik, den Parteien, der parlamentarischen Demokratie und der Partizipation abwenden, je leichter wird das Spiel für Demagogen. Populisten ernähren sich davon, dass die politischen Entscheidungsprozesse in einer hoch komplexen Welt diffizil sind. Folglich müssen Politiker und Medien noch überzeugender erklären, warum die simplen Rezepte von rechts außen und von links außen keine Lösungen darstellen. Leugnen wir vor allem nicht, wie unverzichtbar die Grundfunktion der demokratischen Parteien ist – ich meine die Aufgabe, umfassende, in sich schlüssige Konzepte für die Steuerung des Staates zu erarbeiten. Wohlgemerkt: Konzepte, die über das Vertreten ökonomischer, sozialer, ökologischer Einzelinteressen hinausgehen. Diese Koordinationsleistung wird immer wichtiger. Denn die Summe aller Wünsche und Egoismen ist das Chaos - speziell in einer Zeit, in der die Gegensätze wachsen: die Gegensätze zwischen Familien und Kinderlosen, zwischen Alt und Jung, zwischen den Vermögenden und den normalen Arbeitnehmern. Umso mehr resultiert das Vertrauen in die Politik aus Tugenden wie Beständigkeit und Konsequenz. Ich rede damit nicht einem sturen Beharren das Wort. Im Gegenteil! Ich werbe dafür, Politik als ein intellektuell redliches Ringen um den richtigen Weg zu betreiben. Zukunftsentscheidungen fußen eben lediglich auf Prognosen und nicht auf sicherer Erkenntnis. Für mich ist es daher ein Indiz für ausgeübte politische Verantwortung, wenn nach großen Reformen irgendwann das eine oder andere korrigiert wird. Einen erfolgreichen Kurs zu halten, schließt moderate Korrekturen nicht aus - wie jetzt die Verlängerung des Arbeitslosengeldes. Politik braucht die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Politik braucht Wertungen. Das heißt aber auch: Politik muss sich im Diskurs vollziehen. Wenn in den Parlamenten gestritten wird, deutet das nicht auf Fehler in der politischen Praxis hin – sondern darauf, dass unsere Demokratie lebt. Und diese Facette zeigt – wie ich finde – idealtypisch: An Jubiläen die Gegenwart im Kontext der Zeit zu reflektieren, hilft beim rationalen Analysieren und sicheren Beurteilen. Dazu wollte ich ein bisschen beitragen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, sodass wir nun unbeschwert in das Leonberg vor 550 Jahren eintauchen können.<<