Anlässlich des Landesjubiläumes erste auswärtige Plenarsitzung in Karlsruhe
Landtagspräsident Peter Straub: Reverenz an die freiheitlich-demokratische Tradition Badens Karlsruhe. Zur ersten seiner insgesamt sechs Plenarsitzungen, die anlässlich des 50-jährigen Landesjubiläums außerhalb der Landeshauptstadt stattfinden, ist der Landtag von Baden-Württemberg am Mittwoch, 15. Mai 2002, in Karlsruhe zusammengetreten. Bei den weiteren Terminen an historischen Orten handelt es sich nochmals um Karlsruhe am Donnerstag, 16. Mai 2002, sowie am 17./18. Juli 2002 um Bebenhausen und am 16./17. Oktober 2002 um Freiburg. Zu Beginn der Sitzung im Karlsruher Rathaus, für die erneut keine fixen Redezeiten galten, hielt Landtagspräsident Peter Straub (CDU) folgende Ansprache: >>Wir alle haben uns seit Wochen darauf gefreut, dass unsere Plenarsitzungen heute und morgen hier in Karlsruhe stattfinden. Diese Freude ist freilich überlagert durch unsere Erschütterung über die furchtbare, unfassbare Bluttat im Erfurter Gutenberg-Gymnasium am 26. April. Es gibt keine Worte, mit denen wir unseren Gefühlen Ausdruck verleihen können angesichts des Amoklaufs, der sechzehn Menschen mitten aus ihrem Leben gerissen hat. Und es steigert unser Entsetzen, dass ein solches Verbrechen gerade an einer Schule geschehen ist. Uns ist bewusst, wie viele Fragen sich stellen. Das Entsetzen darf also nicht lähmen. Lassen Sie uns deshalb, bevor wir unsere Alltagsarbeit tun, gemeinsam einen Moment innehalten in der Trauer um die Opfer und in der Anteilnahme am Schmerz der Angehörigen. Unser Tagwerk beginnt mit dem Hinweis, dass Karlsruhe heute zum zweiten Mal eine Premiere des Landtags von Baden-Württemberg erlebt - nämlich die erste reguläre Arbeitssitzung, die wir auswärts abhalten. Die andere Premiere fand vor 33 Jahren statt: Am 22. April 1969 - dem 150. Jahrestag des ersten Zusammentritts der Zweiten Kammer der Badischen Landstände - verließ der Landtag von Baden-Württemberg erstmals Stuttgart, um hier in Karlsruhe zu tagen. Allerdings handelte es sich "nur" um eine Festsitzung. "Nur" freilich in dicken Anführungszeichen - denn diese Festsitzung führte zurück an die "Wiege der parlamentarischen Demokratie in Deutschland". Der Landtag erinnerte - auch als Lehrstunde zur eigenen Geschichte - an das weit ausstrahlende Ringen der Zweiten Kammer der Badischen Landstände um Freiheit und Gleichheit, um Demokratisierung und Parlamentarisierung. Ein Ringen, das die deutschen Demokraten des 19. Jahrhunderts mit großer, hoffnungsvoller Aufmerksamkeit hatte nach Karlsruhe blicken lassen. Unsere heutige Plenarsitzung soll daher beides sein: zum einen eine Reverenz an das alte Land Baden und an all das, was hier für die Entwicklung der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie und für die deutsche Einheitsbewegung geleistet worden ist; und zum anderen eine Geste an die Stadt Karlsruhe, die es - gerade angesichts des badischen Beitrags zur deutschen Freiheits- und Staatsgeschichte - schmerzen muss, nicht mehr zum Kreis der Landeshauptstädte zu zählen. Dass uns die Stadt Karlsruhe heute und morgen in ihrem Rathaus beherbergt und den Ratssaal als Plenum zur Verfügung stellt, ist umgekehrt gewiss ebenfalls ein politisches Zeichen - und das registrieren wir gerne. Wir danken Ihnen, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Fenrich, ganz herzlich für diese Gastfreundschaft und für die vielfältige organisatorische Unterstützung, die uns von Ihnen zusammen mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gewährt worden ist. Ich habe es bereits angedeutet: Deutschland hat Baden im Allgemeinen und Karlsruhe im Speziellen viel zu verdanken. Baden war "nach Napoleon" nicht nur ein Mittelstaat, dessen Größe reichte, um politisches Gewicht und eine erhebliche Wirtschaftskraft zu besitzen. In Baden konnten ein spezifisches Staatsgefühl, ein ausgeprägtes Bürgerbewusstsein und ein berechtigter Stolz auf ein fortschrittliches Gemeinwesen wachsen. Denn Baden bekam 1818 die liberalste Verfassung, 1831 die liberalste Gemeindeordnung in Deutschland; Baden wählte 1849 das erste wirklich demokratische Parlament Deutschlands; und 1919 war Baden mit dem Frauenwahlrecht noch einmal allen anderen deutschen Ländern voraus. Zudem war Baden im 19. Jahrhundert - wie wir Heutigen sagen - ein moderner Wirtschaftsstandort mit einer vorzüglichen Verwaltung. Schon 1807 eröffnete Johann Gottfried Tulla hier in Karlsruhe die erste Ingenieurschule, aus der sich 1825 das Polytechnikum und 1865 die Technische Hochschule entwickelte. Württemberg hatte erst ab 1876 ein Polytechnikum und erst ab 1890 eine Technische Hochschule. In Baden fuhr die erste Eisenbahn 1840, in Württemberg erst fünf Jahre später. Diese willkürlich ausgewählten Facetten zeigen: Was badische Identität genannt wird, ist keine Fata Morgana. Sie ist eine der Grundsubstanzen, aus denen sich das Selbstverständnis Baden-Württembergs zusammensetzt. Gerade uns, dem Landtag von Baden-Württemberg, obliegt es, die freiheitlich-demokratische Tradition Badens zu pflegen - also - wie es im Sprichwort heißt - nicht als Asche zu bewahren, sondern als Flamme am brennen zu halten. Ich denke, wir alle spüren: Sich der beeindruckenden Vergangenheit Badens und seiner Hauptstadt Karlsruhe zu erinnern, vermittelt Orientierung und hilft den Weg zu neuen Zielen zu finden. Denn die besten Mittel gegen zentralistische Tendenzen sind, den Gestaltungsauftrag der Kommunalfreiheit selbstbewusst auszulegen und aus der eigenen Stadt und der eigenen Region ein unverwechselbares Zukunftsprojekt zu machen. Voraussetzung ist natürlich, dass die Landespolitik vergleichbare Entwicklungschancen gewährleistet und regionale Initiativen akzeptiert. So hat der Landtag in seiner Stellungnahme zur Fortschreibung des Landesentwicklungsplanes den politischen Willen zum Ausdruck gebracht, dass der Mittlere Oberrhein und der Rhein-Neckar-Raum landespolitisch einer "Europäischen Metropolregion" gleichgestellt werden sollen. Und trotz der mit dem Amt des Landtagspräsidenten verbundenen Pflicht zur Neutralität - und ohne die aktuelle Debatte morgen vorwegnehmen zu wollen - darf ich sagen: Wir sehen mit Respekt, wie die Raumschaft hier mit dem Kristallisationspunkt Karlsruhe freiwillig ihre Kräfte bündelt, ihre eigenen schlanken Organisationsformen nach Maß schneidert, die Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nutzt und so ihre Entwicklung als "TechnologieRegion" in vielen Bereichen mit großem Erfolg beflügelt. Ich spreche daher sicher im Namen von uns allen, wenn ich der "TechnologieRegion" Karlsruhe und Pforzheim noch nachträglich gratuliere, dass sie vor etwa einem Monat für ihre hervorragende Unterstützung innovativer Unternehmensgründung von der EU prämiert worden ist. Europaweit erhielten 22 Regionen diese Auszeichnung - zwei kamen aus Baden-Württemberg: neben dem mittelbadischen Raum auch Stuttgart. Dieses vielleicht nicht spektakuläre, aber eminent wichtige Beispiel zeigt griffig: Bewusste Vielfalt ist Stärke!
Nicht nur die bedeutsame Tradition und die kulturelle Substanz des badischen Kernlandes, sondern dessen ökonomische Potentiale, geographische Lage und regionales Selbstbewusstsein sind künftig mehr denn je notwendige Eckpfeiler der Entwicklung Baden-Württembergs.