Ansprache von Landtagsvizepräsident Frieder Birzele bei der Gedenkveranstaltung am 9. Mai 2004 in Mulfingen

Mulfingen. Bei der Veranstaltung zum 60-jährigen Gedenken an die Verfolgung und Ermordung von Sinti-Kindern hielt Landtagsvizepräsident Frieder Birzele (SPD) am Sonntag, 9. Mai 2004, in der St. Josefspflege in Mulfingen folgende Ansprache: >>Herrenmenschentum statt Menschenrechte - ab dem 30. Januar 1933 war der Rassenwahn Staatsdoktrin in Deutschland. Wir konfrontieren uns hier und heute mit einem besonders schrecklichen Aspekt dieses Absturzes in die menschenverachtende Barbarei. Denn der Rassismus gegen die Sinti und Roma musste von den Nazis weder erfunden noch oktroyiert werden. Er wurzelte schon fünf Jahrhunderte in dem, was der braune Sprachgebrauch „gesundes Volksempfinden” nannte. Die Nazis konnten deshalb den Antiziganismus ungeniert in Gang setzen und ausleben. Bedenken, Widerstände oder gar Schutz gab es praktisch nicht. Nicht im Staatsapparat, der sich gerade bei der Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma in seinem Kadavergehorsam gefiel. Nicht bei den Institutionen. Sogar die Bekennende Kirche schwieg. Der industriell durchgeführte Genozid an den Sinti und Roma wurde vollzogen mit ruhigem Gewissen und in der Überzeugung, richtig zu handeln. Und nach dem Untergang der Nazi-Diktatur trat bald zutage: Der Antiziganismus hatte den 8. Mai 1945 überlebt. Auch die demokratisch geläuterten Deutschen vermochten sich nicht aus den althergebrachten Vorurteilen zu lösen. Und daran hat sich bis dato wenig geändert: Die feindselige Haltung gegen die Sinti und Roma ist in den letzten sechs Jahrzehnten nahezu ungeschmälert weitervererbt worden. Unser Gedenken in dieser Stunde beinhaltet deshalb vieles. Zuvorderst Trauer und Scham • angesichts des Schicksals der 35 Kinder, die aus der St. Josefspflege verschleppt wurden, • angesichts des Martyriums, das nur vier von ihnen überlebten. Uns friert. Denn unser Vorstellungsvermögen versagt vor den Qualen und den unmenschlichen Bedingungen, die diese Kinder durchleiden mussten. Ich zitiere deswegen aus einer authentischen Schilderung der Zustände im so genannten „Zigeunerlager“ des KZ Auschwitz: „Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen, ohne Muskeln und ohne Fleisch. Entzündungen und Krätze bedeckten die unterernährten Körper. Die Kiefer waren ausgehöhlt; Zunge und Zähne konnte man durch die Löcher in den Wangen sehen. Bis spät in die Nacht hörte man ihre Schreie. Sie haben bis zuletzt um ihr Leben gekämpft.“ Dieses Schlaglicht, meine Damen und Herren, führt vor Augen, warum das Leid fortlebt – auch nach sechs Jahrzehnten. Allein wegen ihrer Existenz wurden die Sinti und Roma vom Kleinkind bis zum Greis systematisch zwangssterilisiert, gepeinigt, ermordet. Unser Gedenken schließt daher alle 500.000 Sinti und Roma ein, die der Ausrottungspolitik der Nazis zum Opfer fielen. Unser Gedenken ist zudem Bestürzung – Bestürzung darüber, mit welcher pseudokorrekten Selbstverständlichkeit, mit welcher scheinbaren Wissenschaftlichkeit und mit welcher technokratischen Perfektion es geschah. Die ausgrenzende Hetze verfestigte sich scheinlegal und damit öffentlich in der rassistischen Gesetzgebung. Meldestellen, Polizei, Gesundheitsämter, Gerichte, kommunale Behörden und Pfarreien unterstützen das triebtäterhafte Bemühen, den Rassenwahn wissenschaftlich zu untermauern und durch die – schon der Name war ein Monster - „Rassenhygienische Forschungsstelle“ zentral zu steuern. Schnell und reibungslos kooperierten die Schreibtischtäter bei der planmäßigen Erfassung, Konzentration und Deportation der Sinti und Roma. Unser Grauen über all das zu artikulieren, ist nicht genug. Es muss in selbstkritischen Fragen münden: Hat unsere Gesellschaft wirklich begriffen, dass das reine Funktionieren von Apparaten keine Legitimität herstellen kann? Hat unsere Gesellschaft in voller Konsequenz verinnerlicht, dass speziell die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot dem Definitionsmonopol der Mehrheit entzogen sind? Und handelt unsere Gesellschaft entsprechend? Gedenken, meine Damen und Herren, ist Arbeit – Arbeit an uns selbst. Zu unserem Gedenken kommt daher der Dank an jene, die uns dieses konkrete Erinnern an den Tatorten ermöglichen, indem sie die Leidenswege der Sinti und Roma erforscht und dokumentiert haben. Für den Erhalt des Wissens über die 35 Mulfinger Sinti-Kinder steht besonders ein Name – der Name Johannes Meister, den ich mit Hochachtung erwähne. Teil der bitteren Wahrheit ist nämlich: Der Völkermord an den Sinti und Roma wäre vom geschichtswissenschaftlichen Mainstream fast dem Vergessen preisgegeben worden. Erst Anfang der achtziger Jahre begann das Umdenken. Umso entschiedener möchte ich betonen: Das Wachhalten unserer Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus muss alle Gruppen gleichermaßen umfassen. Es gibt keine Opfer erster oder zweiter Klasse – weil es keine Menschen erster oder zweiter Klasse gibt. Unser Gedenken hat natürlich aktuelle politische Bezüge. So sind die Sinti und Roma seit sechs Jahren als nationale Minderheit anerkannt. Der bloße Status bewirkt freilich wenig. Beispielsweise haben Sinti und Roma-Kinder oft eine schlechtere Schulausbildung als andere Deutsche und damit später schlechtere Berufschancen. Die Folge ist der bekannte Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Armut und Zurücksetzung. Oder nehmen wir die vor einer Woche erweiterte EU. Gerade das größer gewordene Europa muss – gemeinsam – beherzigen, dass die Sinti und Roma zur europäischen Völkerfamilie gehören und nicht zu deren Unterklasse werden dürfen. Unser Europa, das seine Stärke aus seiner Vielfalt gewinnen will, hat der sozialen und materiellen Diskriminierung der Sinti und Roma Einhalt zu gebieten und den Sinti und Roma gleichwertige Lebenschancen zu eröffnen. In keinem Land darf den Sinti und Roma von Staats wegen etwas übergestülpt werden, das sie ihre Identität verlieren lässt. Andererseits sollten Sinti und Roma Chancen zur besseren Integration gegebenenfalls engagiert nutzen und auch durch eigene Initiativen das Verständnis für ihre Traditionen fördern. Herrenmenschentum statt Menschenrechten – dieser verbrecherische Irrweg hat Deutschland in die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte geführt. Eine der wichtigsten Lehren daraus lautet: Es gibt kein richtiges Leben im falschen! Und falsch leben wir, solange wir die Sinti und Roma gering schätzen und benachteiligen.