Aus Anlass des 70. Jahrestags

Landtagspräsident Peter Straub erinnert an Reichspogromnacht. Stuttgart. Der 9. November 1938 gehört zu den schlimmsten Tiefpunkten unserer Geschichte und bleibt ein Datum der Feigheit, des Kleinmuts, der Verrohung und der Gottlosigkeit. Dies erklärte Landtagspräsident Peter Straub (CDU) am Sonntagabend, 9. November 2008, in Stuttgart bei einer öffentlichen Gedenkfeier zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht. Der Antisemitismus, so der Landtagspräsident, sei am 8. Mai 1945 nicht untergegangen. Dieser Dämon lebe. „Und wir laden neue Schuld auf uns, wenn wir verdrängen, wie konkret die vermeintliche Vergangenheit in Wahrheit Gegenwart ist.“ Das Anzünden der Synagogen sei ein bewusster Tabubruch gewesen, sagte Straub. Dabei erscheine die Nacht vom 9. auf den 10. November des Jahres 1938 nur als Vorbotin des noch folgenden Völkermords, dem nahezu das gesamte europäische Judentum zum Opfer gefallen sei. Durch die Ereignisse in der Pogromnacht ist nach den Worten Straubs offenbar geworden, dass sich der Staat in Deutschland von seiner Urfunktion – seiner Hilfs- und Schutzfunktion – endgültig verabschiedet hatte. Es habe sich gezeigt, dass selbst eine kultivierte Gesellschaft unfähig sein könne, sich aus Dünkel und Vorurteilen zu lösen und einen entsetzlichen Wahn zu stoppen. „Als die Nazis am Abend des 9. November 1938 ihre Kampfhunde namens SA und SS von der Leine ließen, beteiligte sich die Bevölkerung zwar nicht wie erwartet an den Misshandlungen und Demütigungen, an der Verwüstung jüdischer Geschäfte und Einrichtungen, am Brandschatzen der Synagogen. Die Bevölkerung beschwerte sich mancherorts sogar über das brutal-primitive Auftreten der braunen Kohorten“, so Straub weiter. Darin habe jedoch keine echte Solidarität gesteckt. So habe sich kein Widerstand erhoben, als unmittelbar nach dem 9. November 1938 aufgrund einer amtlichen Anordnung der Gestapo zehntausende jüdische Männer in die Konzentrationslager verschleppt worden seien. Im Gegenteil, viele Bürger hätten die Deportation der Geschundenen begafft. Durch diese Gleichgültigkeit hätte sich die große Mehrheit freilich auch selbst moralisch und faktisch ruiniert. Hitler und seine Schergen hätten spätestens ab diesem Zeitpunkt eine kollektive Zivilcourage des Volkes nicht mehr fürchten müssen. Hier werde deutlich: „Wo die Menschenwürde angetastet wird, ist Ruhe keine Bürgerpflicht. Dort ist Ruhe Beihilfe – Beihilfe durch Nichtstun!“ „Es gibt auch einen Antisemitismus durch bürgerschaftliches Unterlassen“, betonte Straub. An dieser Stelle müsse unser Gedenken in unerbittliche Selbstskepsis münden. Antisemitische Straftaten nähmen zu. Nach einer Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2003 sei jeder fünfte Deutsche latent antisemitisch und Bedrohungen und Beleidigungen von jüdischen Mitbürgern seien Alltagsphänomene. Auch höhere Bildung mache nicht automatisch immun. Hinter den Häschern und Brandstiftern des 9. November 1938 seien die geistigen Brandstifter gestanden. Der Hass auf alles Jüdische sei ausgerechnet von vielen Intellektuellen genährt worden. Straub: „Auf den ersten Scheiterhaufen brannten die Bücher, dann die Synagogen, und dann kam die Shoa.“
Laut Straub betrachteten die Opfer des 9. November 1938 Deutschland als ihr Vaterland. „Sie wollten hier leben, arbeiten und zum Gemeinwohl beitragen.“ In diesem Zusammenhang erinnerte Straub an die zahlreichen Juden, die „unserer Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft weltweiten Glanz verliehen haben“. Trotz der schrecklichen Ereignisse in der Nazizeit hätten viele Juden – auch durch Zuwanderung aus dem Osten – nach dem Krieg in Deutschland eine Heimat gefunden. Es sei eine wichtige Aufgabe, auch gegenüber den Jugendlichen deutlich zu machen, dass die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Teil unserer Gesellschaft seien und unser kulturelles und wirtschaftliches Leben enorm bereichern.