Dringender Handlungsbedarf beim Krankheitsbild ME/CFS
Stuttgart. Schätzungsweise 30.000 bis 80.000 Menschen in Baden-Württemberg leiden am Krankheitsbild ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom). Bundesweit sind es mindestens 300.000 Menschen. Diese Zahlen nannten Expertinnen und Experten bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Soziales, Gesundheit und Integration am Montag, 20. Juni 2022. Der Ausschussvorsitzende Florian Wahl (SPD) erklärte, es bestehe dringender politischer Handlungsbedarf, da die Versorgungslage für die Betroffenen völlig unzureichend sei. „Schon allein der Weg bis zur Diagnose ist für viele jahrelang und verzweifelnd“, so Wahl.
Wie in der Anhörung deutlich wurde, liegt ein zentrales Problem darin, dass das Krankheitsbild oft nicht erkannt wird. Schwere Erschöpfung (Fatigue) und Belastungsintoleranz seien die Leitsymptome, hinzu kämen Schmerzen, Störungen der geistigen Leistungsfähigkeit sowie des Kreislaufsystems und anderes mehr. Viele Ärzte ordneten die komplexen Krankheitssymptome falsch ein und diagnostizierten psychische oder psychosomatische Erkrankungen, erklärte Prof. Carmen Scheibenbogen von der Charité Berlin. In der Folge erhielten Patientinnen und Patienten häufig eine falsche aktivierende Therapie, wodurch sich ihr Zustand drastisch verschlechtern könne. Für die Betroffenen gebe es kaum Anlaufstellen und keine adäquate medizinische Versorgung.
Nach Angaben von Prof. Uta Behrends von der TU München gilt als gesichert, dass überwiegend Virus-Infektionen das Krankheitsbild ME/CFS auslösen. Dabei spielten Fehl- und Überreaktionen des Immunsystems eine wichtige Rolle. Diese Zusammenhänge seien beispielsweise für das Epstein-Barr-Virus schon länger bekannt und würden vergleichbar auch für SARS-CoV-2 gelten. Es sei deshalb zu erwarten, dass sich die Fallzahlen für ME/CFS vor dem Hintergrund der Pandemie und der starken Zunahme der Zahl von Long- und Post-Covid-Betroffenen verdoppeln werden. Behrends betonte ebenso wie Prof. Jürgen Michael Steinacker von der Uni Ulm, dass es für Patientinnen und Patienten essentiell sei, körperliche und geistige Überlastung zu vermeiden, da dies zur Verschlechterung führen könne. Individuelle Belastungsgrenzen seien unbedingt zu definieren und einzuhalten.
Vertreterinnen und Vertreter von Selbsthilfegruppen schilderten, wie von ME/CFS betroffene Menschen durch das Raster der medizinischen Versorgung fallen, weil es vielen Ärztinnen und Ärzten an Wissen über das Krankheitsbild mangelt. Auch staatliche Stellen wie Schulämter seien damit nicht vertraut und drohten Familien, deren erkrankte Kinder nicht mehr zur Schule gehen können, als angeblichen Schulverweigerern mit dem Entzug des Sorgerechts. Weil Diagnosen falsch gestellt und falsche Diagnosen durch falsche Gutachten bestätigt werden, gebe es auch keine Unterstützung durch die Sozialversicherungsträger. „Patientinnen und Patienten werden ausgemustert und müssen ohne jede Versorgung vor sich hin vegetieren. Sie sind dann auf ihre oft überforderten Familien angewiesen“, sagte Gerhard Heiner von der Selbsthilfe ME/CFS Freiburg.
Die Experten aus Medizin und Selbsthilfe sprachen sich dafür aus, flächendeckende Versorgungsnetzwerke zu bilden, um betroffenen Menschen besser helfen zu können. Dies sei in der Vergangenheit bereits mit Blick auf die Multiple Sklerose gelungen. Zudem müssten Ärztinnen und Ärzte, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Behörden umfassend über das Krankheitsbild aufgeklärt werden. Dringend erforderlich seien darüber hinaus große Anstrengungen in der Forschung, um ME/CFS wirksam bekämpfen zu können, beispielsweise durch neue Medikamente.
Vertreterinnen und Vertreter aller Fraktionen zeigten sich beeindruckt von der Anhörung und sicherten ebenso wie eine Vertreterin des Sozialministeriums ihre Unterstützung zu. Der Ausschussvorsitzende Florian Wahl erklärte, der Ausschuss habe die öffentliche Anhörung einstimmig beschlossen. Die zeige, wie ernst man das Krankheitsbild ME/CFS nehme. Er werde nun mit den Obleuten der Fraktionen darüber beraten, wie man auf Landesebene weiter vorgehen könne, um die Versorgungslage zu verbessern. In diesem Zusammenhang werde man auch konkrete Vorgaben für das von Krankenkassen und Kassenärzten selbst verwaltete Gesundheitswesen prüfen.
Ein Video der Anhörung ist in der Mediathek abrufbar.(externer Link)