Enquetekommission „Demografischer Wandel“ legt Abschlussbericht vor
Vorsitzender Seimetz: Alterung der Gesellschaft muss in allen politischen Handlungsfeldern stärker berücksichtigt werden Stuttgart. Den Abschlussbericht der Enquetekommission „Demografischer Wandel – Herausforderung an die Landespolitik“ haben am Freitag, 9. Dezember 2005, der Vorsitzende dieses Gremiums Hermann Seimetz (CDU), die stellvertretende Vorsitzende Marianne Wonnay (SPD) sowie die Obleute aller vier Landtagsfraktionen der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Bericht, in dem der demografische Wandel unter dem Blickwinkel von sechs landespolitischen Handlungsfeldern betrachtet wird, enthält einen umfangreichen Katalog konkreter Einzelempfehlungen an die Landesregierung. Er wird am kommenden Donnerstag, 15. Dezember 2005, im Plenum beraten. „Nach Einschätzung der Kommission kann der demografische Wandel bewältigt werden, wenn die Alterung der Gesellschaft in allen politischen Handlungsbereichen stärker als bisher prospektiv berücksichtigt wird, die Potenziale der älteren Menschen gesellschaftlich genutzt werden und ein gerechter Interessenausgleich zwischen den Generationen erfolgt“, sagte Seimetz. Hierzu bedürfe es allerdings veränderter politischer Schwerpunktsetzungen und einer nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. In dem Bericht werde auch die politische Aufgabe hervorgehoben, die Rahmenbedingungen für junge Menschen so auszugestalten, dass diese zur Verwirklichung ihrer Kinderwünsche ermutigt werden. Aufgabe und Zusammensetzung Die im Frühjahr 2004 in einem fraktionsübergreifend gefassten Beschluss des Landtags eingesetzte Enquetekommission hatte die Aufgabe, die Auswirkungen der demografischen Entwicklung des Landes zu analysieren und Ansätze für eine Bewältigung der mit den demografischen Veränderungen verbundenen Heraus¬forderungen aufzuzeigen. In der Kommission haben neben 11 Abgeordneten der im Landtag vertretenen Fraktionen auch vier externe sachverständige Personen mitgewirkt. Die Kommission hat im Zuge ihrer Beratungen sechs ganztägige öffentliche Anhörungen veranstaltet, in denen die verschiedenen Aspekte des demografischen Wandels mit 46 Sachverständigen unter Beteiligung gesell¬schaftlicher Interessengruppen und der kommunalen Landesverbände erörtert wurden. Arbeitsbereiche der Kommission Die Kommission hat sich auf Bereiche konzentriert, in denen das Land politische Gestaltungsmöglichkeiten besitzt. Sie konnte dabei auf dem im Frühjahr 2002 vorgelegten Abschlussbericht der Demografie-Enquetekommission des Deutschen Bundestags auf¬bauen. Analysiert wurden die Handlungsfelder „Bildung, Wissenschaft und Forschung“, „Gesundheit und Soziales“, „Beschäftigung, Arbeitsmarkt und Wirtschaft“, „Wohnungsbau, Verkehr sowie Landes- und Regionalplanung“, „Gesellschaft“ (Alt und Jung, Migration, Bürgerschaftliches Engagement) und „öffentliche Haushalte“. Demografischer Wandel berührt alle Politikfelder Im Verlauf der Beratungen ist deutlich geworden, dass sich die demografischen Veränderungen in allen Politikfeldern niederschlagen werden. „Der demografische Wandel geht bei weitem über den Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit unserer umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme – also der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung – hinaus. Er berührt sämtliche politischen Handlungs¬bereiche und wird unsere gesellschaftliche Realität, unseren Lebensalltag ganz erheblich verändern“, betonte die stellvertretende Enquete-Vorsitzende Marianne Wonnay (SPD) bei der Berichtspräsentation. Zentrale Herausforderung für Baden-Württemberg ist die Alterung Aus dem Bericht geht hervor, dass die zentrale Herausforderung für Baden-Württemberg zumindest mittelfristig nicht in der Schrumpfung, sondern in der fortschreitenden Alterung der Bevölkerung liegt. Vor allem auf Grund der inner¬deutschen Ost-West- und Nord-Süd-Wanderungsbewegungen wird erwartet, dass sich die Einwohnerzahl des Landes bis zum Jahr 2025 nochmals um etwa 4,7 Prozent – das sind knapp 500.000 Menschen – erhöhen wird. Anschließend wird die Bevölkerungszahl allerdings auch in Baden-Württemberg stetig absinken. Die trotz weiterer Wanderungs¬gewinne stetig voranschreitende Alterung der Bevölkerung wird dazu führen, dass sich die Alterstruktur der baden-württembergischen Bevölkerung massiv verändert: Immer weniger jungen werden immer mehr ältere und insbesondere hochbetagte Menschen gegenüberstehen. Erhöhte Zuwanderung kann Alterungsprozess nicht aufhalten Die Kommission hat sich in diesem Zusammenhang mit der Frage auseinander¬gesetzt, ob die Alterung der Bevölkerung durch eine höhere Zuwanderung junger Menschen aufgehalten oder zumindest abgemildert werden könnte. Dabei hat sich ergeben, dass für eine Stabilisierung der Altersstruktur der baden-württembergischen Bevölkerung eine – außerhalb jeder realistischen Option liegende – Zuwanderung von jahresdurch¬schnittlich 170.000 bis 180.000 Menschen notwendig wäre. Die Kommission war sich daher vom Grundsatz her darüber einig, dass Zuwanderung allenfalls punktuelle Engpässe in einzelnen Bereichen des Arbeitsmarktes entschärfen könnte. Bildung, Bildung und nochmals Bildung Angesichts der immer kleiner werdenden nachwachsenden Generationen wird es nach übereinstimmender Einschätzung der Kommission unabdingbar sein, das Begabungspotenzial der jungen Menschen umfassend auszuschöpfen. „Mit Bildungsmaßnahmen muss möglichst früh begonnen werden“, erklärte der CDU-Abgeordnete Klaus-Dieter Reichardt. Er verwies hierzu insbesondere auf die bereits angelaufenen politischen Aktivitäten zur Aufwertung der Kindergärten zu „Bildungsgärten“. Es seien erhebliche Anstrengungen erforderlich, um auch Kindern aus bildungsfernen Familien sowie aus Familien mit Migrations¬hintergrund optimale Bildungschancen zu eröffnen. „Wir können uns den gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Luxus nicht mehr leisten, dass 20 bis 25 Prozent der jungen Menschen keinen für die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung erforderlichen Bildungsstand erreichen“, hob die Abgeordnete Katrin Altpeter (SPD) hervor. Als Konsequenz aus der zunehmenden Alterung der Belegschaften in den Unternehmen und angesichts der immer kürzer werdenden Innovationszyklen müsse der kontinuierlichen Weiterbildung und dem lebenslangen Lernen deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Vorruhestandspolitik hat keine Zukunft mehr Die Kommissionsberatungen haben deutlich gemacht, dass die bisherige Vorruhestandspolitik sowohl unter dem Gesichtspunkt der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme als auch im Hinblick auf den Alterungsprozess der Erwerbsbevölkerung und den zu erwartenden Mangel an qualifizierten Fachkräften ein Auslaufmodell ist. Die Abgeordnete Edith Sitzmann (GRÜNE) ist davon überzeugt, dass „der Jugendwahn in den Unternehmen auf mittlere Sicht deren wirtschaftliche Basis gefährdet“. Um sog. „älteren“ Menschen berufliche Perspektiven zu eröffnen, seien betriebliche Personalentwicklungskonzepte, eine alternsgerechte Weiterbildung sowie Maßnahmen zur Gesund¬heits¬förderung erforderlich. Das Personalkonzept der Zukunft sei der Mix aus Beschäftigten aller Altersgruppen. Wegen des in einigen Jahren zu erwartenden Mangels an qualifizierten Fachkräften sei es heute zudem besonders wichtig, jungen Menschen eine Ausbildung zu ermöglichen. Die Abgeordnete appellierte deshalb eindringlich an Unternehmen, im eigenen Interesse auch über derzeitigen eigenen Bedarf hinaus auszubilden. Gesundheitliche und pflegerische Versorgung als große Herausforderung Breiten Raum nahm in der Kommissionsarbeit der Bereich Gesundheit und Pflege ein. In diesen beiden Feldern ist eine Vielzahl von Maßnahmen erforderlich, um die Herausforderungen der gesellschaftlichen Alterung zu bewältigen. „Wir müssen alles tun, damit alte Menschen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Wohnung bleiben können“, meinte das stellvertretende Kommissionsmitglied Heiderose Berroth (FDP/DVP). Hierfür seien die notwendigen pflegerischen, aber auch baulichen und infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen. Eine besondere Herausforderung stellen nach Einschätzung der Kommission die demenziellen Erkrankungen dar, für die das bestehende Hilfesystem noch nicht hinreichend gerüstet sei. In der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung werde der Altersheilkunde ein höherer Stellwert einzuräumen sein. Die Vernetzung medizinischer, pflegerischer und hauswirtschaftlicher Dienste müsse weiter vorangetrieben werden. Die Menschen im Land müssten durch eine gesundheitsorientierte Lebensweise dazu beitragen, dass die Aufwendungen für das Gesundheitswesen bezahlbar bleiben. Konzentration auf die Innenentwicklung der Kommunen Angesichts des nur noch für einen sehr begrenzten Zeitraum zu erwartenden weiteren Bevölkerungsanstiegs ist es aus der Sicht der Kommission angezeigt, die Innenentwicklung der Städte und Gemeinden noch stärker als bisher in den Vordergrund der städtebaulichen Planungen zu rücken. Eine alternde Gesellschaft brauche ein Umfeld mit fußläufig erreichbarer sozialer Infrastruktur und eine gute Anbindung an den Öffentlichen Personennahverkehr. Sowohl aus altersstrukturellen als auch aus finanzwirtschaftlichen Gründen muss die Ausweisung neuer Baugebiete „auf der grünen Wiese“ künftig noch gründlicher als bisher hinterfragt werden. Ansonsten bestehe die erhebliche Gefahr, dass eine öffentliche Infrastruktur aufgebaut werde, die sich angesichts ihrer dauerhaften Folgekosten schon in wenigen Jahrzehnten zu einem Sprengsatz für die kommunalen Haushalte entwickeln könnte. Dabei könne die wesentlich rascher und dramatischer verlaufende Entwicklung in den neuen Bundesländern als warnendes Beispiel dienen. Gefordert seien dabei verstärkte interkommunale Ansätze. „Es darf keinen ruinösen Kampf der Kommunen um neue Einwohner geben, der am Ende Allen teuer zu stehen kommt“, so Vorsitzender Hermann Seimetz (CDU). „Wir müssen zu dem Wachstumsdenken, das uns seit der Nachkriegszeit prägt, Abstand gewinnen.“ Vorfahrt für Familien Die Kommission war sich grundsätzlich einig darüber, dass das Land im Rahmen seiner finanziellen Ressourcen und Zuständigkeiten alle Ansätze unterstützen sollte, die dazu beitragen können, junge Menschen zu ermutigen, ihre Kinderwünsche zu erfüllen. Dabei gehe es allerdings nicht nur um monetäre, sondern auch um nichtmonetäre Aspekte. Baden-Württemberg müsse ein Land für Kinder werden, denn Kinder bedeuteten Zukunft. Die Gründe für das bereits seit über dreißig Jahren niedrige Geburtenniveau seien jedoch sehr vielschichtig. Es habe daher auch niemand ein Patentrezept für eine höhere Geburtenrate anzubieten. Der Gesellschaft müsse allerdings klar gemacht werden, dass Kinder keine ausschließliche Privatangelegenheit des Einzelnen seien, sondern eine Zukunftsinvestition, von der letztlich die gesamte Gesellschaft und unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abhängig sei. In weiten Kreisen der Bevölkerung sei leider das Bewusstsein dafür geschwunden, dass an die Stelle der früheren familiären generativen Abhängigkeit eine gesellschaftliche generative Abhängigkeit getreten sei. Dies bedeute auch, dass die gesellschaftliche und ökonomische Leistung von Eltern stärker gewürdigt werden müsse. Wer sich heute an Kinderlärm störe, habe offenbar noch nicht begriffen, dass sein Aktiendepot keine pflegerischen Leistungen erbringen könne. Keine weitere Verschiebung von Problemen in die Zukunft Die Spannungsfelder, in denen die Politik steht, wurden vor allem auch bei den Diskussionen über die öffentlichen Haushalte deutlich. „Eine Fortführung der bisherigen Verschuldungspolitik der öffentlichen Hand kann unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit nicht in Betracht kommen“, gab Marianne Wonnay (SPD) zu bedenken. Die Kommission räumte ein, dass sich Politik und Gesellschaft lange Jahre einer „fiskalischen Illusion“ hingegeben hätten. Damit wird das Phänomen umschrieben, dass der wahrgenommene Preis für die von der Regierung bereitgestellten öffentlichen Güter aus Wählersicht geringer erscheint, wenn diese Güter statt über Steuererhöhungen über Kredite finanziert werden. Kredite seien wirtschaftlich betrachtet jedoch nichts anderes als in die Zukunft verschobene Steuererhöhungen. Es werde der Politik und der Gesellschaft daher nicht erspart bleiben, in Zukunft wesentlich stärker zwischen Notwendigem und Wünschenswertem zu unterscheiden. „Mit Besitzstandswahrungsdenken können die Herausforderungen des demografischen Wandels nicht bewältigt werden“, stellte Seimetz abschließend klar.