Erklärung im Plenum zu historischen Ereignissen im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme vor 75 Jahren
Landtagspräsident Straub: Den Bedrohungen von Freiheit und Demokratie permanent und entschlossen begegnen Stuttgart. Auf historische Ereignisse im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme vor 75 Jahren hat der Landtag von Baden-Württemberg zu Beginn seiner Plenarsitzung am Mittwoch, 2. April 2008, zurückgeblickt. Landtagspräsident Peter Straub (CDU) sprach von einem faktischen Erlöschen der Souveränität der Länder durch das Ermächtigungsgesetz und die Gleichschaltungsgesetze im Jahr 1933. Straub erinnerte auch an die in der NS-Zeit ermordeten oder aufgrund von Verfolgung zu Tode gekommenen Mitglieder des Badischen und des Württembergischen Landtags. „Wir müssen den Bedrohungen von Freiheit und Demokratie permanent und entschlossen begegnen“, erklärte der Landtagspräsident. Wörtlich führte er aus: >>Unsere parlamentarische Arbeit dient dazu, Sachfragen politisch zu entscheiden, Alternativen zu diskutieren und Verantwortung zuzuweisen. Die unvermeidliche Sitzungsroutine darf jedoch nicht überdecken: Demokratie ist mehr als irgendeine staatsrechtliche Organisationsform – Demokratie ist auch und vor allem Abbild einer freien Geisteshaltung! Lösen wir uns deshalb einen Moment aus der Tagesaktualität und blicken wir 75 Jahre zurück. Frühjahr 1933 – das hieß auch in Baden und in Württemberg: Die Nazis taten, wozu sie am 30. Januar 1933 durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler die Chance bekommen hatten: Brutal, zynisch und buchstäblich „Schlag auf Schlag“ installierten sie das Führerprinzip als Basis ihrer Terrorherrschaft. Nach dem Erfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 sagte Goebbels: „Als nächstes kommt Baden an die Reihe. Dort werden wir jetzt Ordnung schaffen.“ Schon drei Tage später wehte die Hakenkreuzflagge über dem badischen Innenministerium. Der NSDAP-Gauleiter war zum Reichskommissar ernannt worden. Und zu seinen ersten Handlungen gehörte das Eliminieren der Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Staatspräsident Josef Schmitt und sein Kabinett mussten am 10. März 1933 zurücktreten. Einen Tag später übernahmen Nazis ihre Ämter. In Württemberg begann der kalte Staatsstreich ebenfalls am 8. März 1933. Der Reichsinnenminister bestellte einen NSDAP-Reichstagsabgeordneten zum Reichskommissar, und zwar mit der wahrheitswidrigen Behauptung, die Regierung in Stuttgart könnte die öffentliche Ordnung nicht mehr gewährleisten. Er brachte sofort die Polizei unter seine Kontrolle und befahl, Hunderte politische Gegner zu verhaften. Am 15. März 1933 erzwangen die Nazis, dass der württembergische Landtag den Staatspräsidenten Eugen Bolz entließ und den NSDAP-Gauleiter zum Nachfolger kürte. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 übertrug die gesetzgebende Gewalt auf die Reichsregierung und bedeutete damit das Ende der parlamentarischen Demokratie im Reich. Zugleich war es ein Fanal für die Länder und die Landtage. Denn bundesstaatliche Strukturen standen dem totalitären Anspruch der Nazis im Weg. Durch das „Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933 wurden deshalb die Landtage ihrer Legislativfunktion beraubt. Die Befugnis zur Gesetzgebung ging nach dem Vorbild des Ermächtigungsgesetzes an die Länderregierungen über. Zudem mussten sich die Länderparlamente auflösen und nach dem Ergebnis der erwähnten Reichstagswahl am 5. März 1933 neu bilden. Das zweite „Gleichschaltungsgesetz“ folgte schon am 7. April. Es unterstellte die Länderregierungen den Reichsstatthaltern, die ihrerseits unmittelbar von Hitler kommandiert wurden. Faktisch erlosch die Souveränität der Länder. Die nominellen Reste des ausgebeinten bundesstaatlichen Gefüges beseitigten die Nazis schließlich durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ vom 30. Januar 1934: Die Hoheitsrechte der Länder fielen an das Reich. Und die längst lahmgelegten Landtage wurden abgeschafft. Der Exitus des Föderalismus verlief nicht technokratisch-steril. Menschen litten darunter. Wer sich verweigerte, wurde observiert, schikaniert und eingekerkert. Landtagsabgeordnete konnten ihr Mandat nicht ausüben, weil man sie in „Schutzhaft“ festhielt. Schnell pervertierte der Staat zum Henker: Widerstand kostete das Leben. Wir erinnern an die ermordeten oder aufgrund von Verfolgung zu Tode gekommenen Mitglieder des Badischen und des Württembergischen Landtags durch das Gedenkbuch neben unserem Plenarsaal. Und wir vergessen nicht, wie groß die Anpassungsbereitschaft in weiten Teilen der Bevölkerung schon im Frühjahr 1933 war und wie eilfertig Hitler die Loyalität bekundet wurde. Warum suchten zu viele das Heil im Unheil? Karl Jaspers hatte bereits 1931 geschrieben: „Alles versagt. Es gibt nichts, was nicht fragwürdig wäre.“ Schlagen wir gerade an dieser Stelle eine Brücke ins Heute. Freiheit und Demokratie sind nicht auf Dauer garantiert. Wir müssen ihren Bedrohungen permanent und entschlossen begegnen. Je komplizierter unser Dasein in der globalisierten Welt wird, desto wichtiger ist, dass die Bürgerinnen und Bürger den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen vertrauen, die Werte der Sozialen Marktwirtschaft erfahren und keine Identitätsverluste erleiden. Die Weimarer Republik konnte von den Rändern her erschüttert und zum Einsturz gebracht werden, weil sie ein Haus war, in dem sich mehr und mehr Menschen nicht zu Hause fühlten. Arbeiten wir also dafür, dass die Bürgerinnen und Bürger weder auf Demagogen noch auf Rechts- oder Linksextremisten hereinfallen. Demokratie zehrt aus, wenn ihr Rückhalt in der Mitte der Gesellschaft schwindet. Und genau auf dieses Vakuum spekulieren die Radikalen mit ihren simplen Rezepten. Unser Dasein wird jedoch zunehmend komplexer. Manches erscheint widersprüchlich. Politik muss daher immer intensiver erklärt werden. Statistiken und wissenschaftliche Analysen helfen dabei bloß bedingt. Der Maßstab der Bürgerinnen und Bürger ist auch die persönliche Wahrnehmung. Unsere Aufgabe lautet folglich, sensibel und differenziert zu argumentieren und mit demokratischer Haltung um Resultate zu ringen, die problemgerecht sind – und so empfunden werden. Möge uns das in unserem parlamentarischen Tagwerk stets gelingen!<<