Es gilt das gesprochene Wort!

Neujahrsempfang Landeskomitee der Europäischen Bewegung und Europa-Union Präsident Straub: Vereintes Europa ist nicht Resultat einer Kosten-Nutzen-Analyse, sondern Werk ideeller Gemeinsamkeiten Stuttgart. „Im Jahr 2006 wartet Kärrnerarbeit auf alle, die Europa wohl gesonnen sind.“ Darauf hat Landtagspräsident Peter Straub (CDU) beim Neujahrsempfang des Landeskomitees der Europäischen Bewegung und des Landesverbandes Baden-Württemberg der Europa-Union Deutschland am Dienstagabend, 17. Januar 2006, im Landtag hingewiesen. Es müsse sichtbar gemacht werden, dass das vereinte Europa nicht das Resultat einer vordergründigen Kosten-Nutzen-Analyse sei, sondern ein Werk der ideellen Gemeinsamkeiten. Straub, Präsident des Landeskomitees, sagte im Einzelnen: >>Die „Europäische Bewegung" bezeichnet sich als „Netzwerk“. Der Begriff stammt aus der Elektro- und Computertechnik. Er skizziert aber unser Selbstverständnis treffend. Denn nicht gänzlich unwichtige gesellschaftliche „Kraftwerke“ und politische „Schaltstellen“ sind im Dienste eines gemeinsamen Ziels miteinander verbunden. Vergangenen Sommer fühlten freilich wir uns eher wie ein handwerklich geknüpftes Netz. Genauer: wie ein Auffangnetz. Nach den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden befand sich die europäische Idee ja leider im freien Fall. Zwischenzeitlich können wir einen Zustand registrieren, den die Börsianer „Bodenbildung“ nennen. Es keimt sogar leise Zuversicht. Dieser politische Frühlingshauch im meteorologischen Winter hat zu tun mit dem klugen und souveränen Agieren unserer Bundeskanzlerin auf dem EU-Gipfel im Dezember. Deren sachliche „Schritt-für-Schritt“-Logik weckt angesichts des europäischen „Problemberges“ nicht weniger Hoffnung als beim Blick auf die innenpolitischen „Großbaustellen“. Langer Vorrede kurzer Sinn: Wir „europhilen“ Netzwerker sind durch etliche Krisen gestählte Optimisten. Und wir blicken dem Jahr 2006 frischen Mutes entgegen. Zumal eines hundertprozentig sicher ist: Der „Europäischen Bewegung“ gehen in den nächsten elfeinhalb Monaten die Bewährungsmöglichkeiten nicht aus. Durch Ihr Kommen unterstreichen Sie, meine Damen und Herren, diese Einschätzung. Umso mehr freue ich mich, dass unsere Einladung eine derart große Resonanz gefunden hat – trotz der unzähligen „Konkurrenz-Neujahrs-Empfänge" landauf, landab. Obwohl es vielleicht protokollarisch nicht ganz korrekt ist, adressiere ich meinen ersten namentlichen Willkommensgruß an Sie, verehrte Frau Ministerin a. D. Griesinger. Ihre politische Passion und Ihre individuelle Lebensfreude beeindrucken uns stets aufs Neue. Ebenso herzlich begrüße ich meinen Co-Gastgeber, Sie, Herr Europaabgeordneter Wieland, als Landesvorsitzender unserer Schwester-Organisation, der „Europa-Union". Ein schönes Zeichen setzt die starke Repräsentanz des Konsularischen Corps – an der Spitze die Herren Generalkonsule Badunas (Griechenland) und Renggli (Schweiz). Herzlich danke ich den Vertretern der Kirchen, dass sie uns die Reverenz erweisen – vornweg Monsignore Dr. Kaut und Herrn Kirchenrat Weber. Willkommen heiße ich ebenso die Vertreter zahlreicher Verbände, für die ich – stellvertretend – zwei erwähnen möchte: Monsignore Appel von der „Liga der freien Wohlfahrtspflege" sowie meinen früheren Landtagskollegen Tölg in seiner Funktion als Landesvorsitzender des „Bundes der Vertriebenen". Geschätzte Gäste sind uns natürlich auch die Herren Professoren Tümmers und Bosch vom „Europa-Zentrum Baden-Württemberg“. Ich denke, wir alle sind erleichtert über die Anzeichen für ein Ende der europäischen „Baisse". Und diese leise Trendveränderung rührt nicht zuletzt davon her, dass die „Achse“ Paris-Berlin-Moskau seit dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung stillgelegt worden ist. Die etwas breitspurige „Troika“ hat die kleineren EU-Partner erheblich irritiert. Und Deutschland konnte seine angestammte Rolle als ehrlicher Makler nicht mehr wahrnehmen. Jetzt ruhen wieder große Erwartungen auf uns und speziell auf unserer Ratspräsidentschaft, die am 1. Januar 2007 beginnt. Europa sehnt sich nach Führung, aber nicht nach Dominanz. Die deutsche Ratspräsidentschaft wird zweifelsfrei eine entscheidende Phase werden. Dennoch dürfen wir 2006 keinesfalls als bloßes „Brückenjahr“ betrachten. Das verbietet – zum einen – der Respekt vor der gerade begonnenen Ratspräsidentschaft Österreichs und vor der Ratspräsidentschaft Finnlands ab 1. Juli. Und das wäre – zum anderen – schlichtweg dumm angesichts der aktuellen Arbeitsaufträge: • Der mühsam vereinbarte Finanzrahmen für 2007 bis 2013 muss alsbald dem Europäischen Parlament schmackhaft gemacht werden. • Die Neufassung der Reformagenda von Lissabon steht an. • Die Dienstleistungs- und die Arbeitszeitrichtlinie sind zu behandeln. • Die „Fortschrittsberichte“ der EU-Kommission zu Bulgarien und Rumänien und die Reaktionen darauf werden eine erhebliche Signalwirkung haben. Zu alledem kommt natürlich: Die Zukunft des Verfassungsvertrages! Dieses Mega-Thema wird den EU-Gipfel im Juni intensiv beschäftigen. Schon da kann sich zeigen, welche Alternative die besseren Chancen hat: • Eine Reanimation – ein echtes Wiederbeleben – des ganzen Verfassungstextes? • Oder lediglich eine „Organspende“; das heißt: ein Herauslösen und Transplantieren jener Teile, über die in der europäischen Bevölkerung ein Grundkonsens besteht? Auch auf EU-Ebene geht es darum, peu à peu Vertrauen zurückzugewinnen. Europa soll schützen und nützen. Doch genau das vermittelt sich den Bürgerinnen und Bürgern nicht automatisch. Deshalb ist mindestens viererlei unumgänglich: Erstens muss deutlicher werden, welch lange Liste höchst existenzieller Fragen die Nationalstaaten nicht solo bewältigen können: – den deregulierten Welthandel; – ein substanziell ausgewogenes Verhältnis zur Supermacht USA; – die geopolitischen Veränderungen durch das Aufwachsen von China und Indien; – das Intensivieren von Forschung und Innovation; – den Schutz der Umwelt; – die Armutswanderungen; – den Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität; – und nicht zu vergessen: den demographischen Wandel. Zweitens muss das – auch psychologisch – verhängnisvolle Paradoxon nachhaltig angegangen werden, – dass die EU einerseits vielfach zu schwach ist, um innerhalb der Gemeinschaft und im Weltmaßstab wirksam Einfluss nehmen zu können; – dass die EU in anderen Bereichen jedoch ihren Mitgliedstaaten exakt jene Kompetenzen beschnitten hat, die für maßgeschneiderte Lösungen nationaler Schwierigkeiten praktisch erforderlich sind. Drittens muss die EU die Angemessenheit und Effizienz ihrer Förderzahlungen konkreter belegen können. Niemand darf Europa nur wegen der Subventionen wertschätzen. Es sollte Allgemeingut werden: Der Gewinn einer EU-Mitgliedschaft besteht nicht in Überweisungen aus der Gemeinschaftskasse, sondern in besseren Wachstumschancen und in größerer Stabilität. Folglich darf eine zeitliche Beschränkung von Strukturhilfen kein Tabu sein. Damit es keine Missverständnisse gibt: Krämergeist bringt die EU nicht voran. Wenn der EU-Haushalt bei 25 statt 15 Mitgliedern insgesamt größer wird, dann wächst der nominale Beitrag Deutschlands zwangsläufig mit. Die politische Kernfrage ist, wofür das Geld ausgegeben wird. Und viertens ist eine aufrichtige Debatte über die Erweiterungsstrategie und damit über die Grenzen der EU absolut fällig. Kroatien, Mazedonien und andere klopfen dezidiert an die Brüsseler Tür. Zudem fokussieren sich die Ukraine, Moldawien und Georgien spürbar auf die Gemeinschaft. Die EU kommt daher nicht umhin, ihren Horizont zu definieren, aber gleichzeitig einen Status für Länder ohne Aufnahmeperspektive zu schaffen. Wir sehen: Im Jahr 2006 wartet Kärrnerarbeit auf alle, die Europa wohl gesonnen sind. Die europäische Integration verharrt an einem Punkt, wo längerer Stillstand schleichenden Zerfall bedeuten würde. Gefordert ist die Kunst, Sachfragen ergebnisorientiert zu erörtern und trotzdem sichtbar zu machen, dass das vereinte Europa nicht das Resultat einer vordergründigen Kosten-Nutzen-Analyse ist, sondern ein Werk der ideellen Gemeinsamkeiten. Selbst wenn dieses zweidimensionale Diskutieren gelingt, muss sein Fortgang – neudeutsch gesagt – „erfolgreich kommuniziert“ werden. Dem verbreiteten Desinteresse und dem oft reflexhaften Misstrauen bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern kann man jedoch nicht allein von Brüssel aus und über die Medien begegnen. Was sich die „Europäische Bewegung“ und die „Europa-Union“ aus Idealismus und Überzeugung als Aufgabe gestellt haben, ist also nötiger, anspruchsvoller und spannender denn je. Mit anderen Worten: Wir werden gebraucht! Ich hoffe daher, dass unsere Stimmung vergleichbar ist mit der mentalen Verfassung eines Marathonläufers am legendären Kilometer 33, an dem die wirklichen „Langstreckler" die so genannte „zweite Luft“ bekommen. Besonders ermutigend wirken erwiesenermaßen persönliche Vorbilder. Heute Abend ist jemand unter uns, auf den diese Feststellung exemplarisch zutrifft. Ich meine Sie, verehrter Herr Robin. Es freut mich sehr, dass Sie trotz Ihrer gesundheitlichen Sorgen den Weg nach Stuttgart auf sich genommen haben. Sie zählen zu den wahren „Europäern der ersten Stunde". Die deutsch-französische Freundschaft und das europäische Friedenswerk sind Ihnen zum Lebensinhalt geworden. Dass Sie 16 Jahre als Vizepräsident in unserem Landeskomitee mitgewirkt haben, waren für uns eine Ehre und eine Bereicherung. Und ich unterstreiche gerne unsere bleibende Verbundenheit mit Ihnen, einem großen Freund Deutschlands und Baden-Württembergs. Meine Damen und Herren, ich habe von der Schädlichkeit eines längeren Stillstandes gesprochen. Das gilt auch körperlich. Anders formuliert: Das Landtagsfoyer soll nicht zu einem Appellplatz werden. Deshalb komme ich jetzt zum Wichtigsten einer Rede, nämlich zum Schluss. Und den soll ein altes, doch im Jahr 2006 höchst relevantes Diktum von Konrad Adenauer bilden: „Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für alle.“