Festakt zum 50-jährigen Jubiläum
Landtagspräsident Straub: Wert der Landesverfassung ist trotz Sogwirkung des Grundgesetzes ungebrochen Dokument der Zuversicht - auch im Blick auf die Föderalismusreform Stuttgart. Die Verabschiedung der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vor genau 50 Jahren haben Parlament und Landesregierung am Dienstagabend, 11. November 2003, mit einem Festakt im Stuttgarter Landtag gefeiert. Die Festansprachen hielten Ministerpräsident Erwin Teufel und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Hans-Jürgen Papier. Begrüßt wurden die Gäste von Landtagspräsident Peter Straub, der den Wert der Landesverfassung trotz Sogwirkung des Grundgesetzes als ungebrochen bezeichnete. Bei der Landesverfassung handele es sich um ein „Dokument der Zuversicht“, auch im Blick auf die Föderarismusreform. Wörtlich sagte der Präsident: >>„Das Vaterland ist die Republik, die wir uns schaffen. Das Vaterland ist die Verfassung, die wir lebendig machen. Das Vaterland ist die Freiheit, derer wir uns nur wahrhaft erfreuen, wenn wir sie selber fördern, nutzen und bewachen.“ Mit diesen zeitlos aktuellen Gedanken von Dolf Sternberger, dem Schöpfer des Leitbegriffs vom „Verfassungspatriotismus“, möchte ich Sie alle, meine Damen und Herren, auf das Herzlichste begrüßen zu dieser Feierstunde aus Anlass der fünfzigsten Wiederkehr jenes Tages, an dem unsere Landesverfassung verkündet worden ist. Denn angelehnt an die Sentenzen Sternbergers darf man sagen: Am 11. November 1953 wurde eine unverzichtbare Voraussetzung dafür erfüllt, dass das neue Land Baden-Württemberg den Menschen zwar nicht im Wortsinne „Vaterland“, so doch ein gemeinsamer Heimatboden werden konnte. Verglichen mit den Landesverfassungen, die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erarbeitet worden sind, und verglichen mit den Verfassungen, die sich die jungen Länder Anfang der neunziger Jahre gegeben haben, mag unsere baden-württembergische Landesverfassung auf den ersten Blick etwas blass erscheinen. So besitzt sie keinen eigenen Grundrechtsteil; sie erklärt vielmehr pauschal die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte zu ihren Bestandteilen. Auch andere Details lassen auf eine gewisse Zurückhaltung schließen. Das gilt selbst für die Verfassungsurkunde, die auf schlichtem, säurehaltigem Papier gedruckt worden ist. Das Original können wir übrigens heute Abend anschauen, und zwar in der kleinen Präsentation, die das Hauptstaatsarchiv hier - von mir aus gesehen rechts – aufgebaut hat. Eine nähere Auseinandersetzung mit dem spezifischen staatspolitischen Gehalt zeigt jedoch: Unsere Landesverfassung ist gerade durch ihre gewollte Konzentration auf das Ausgestalten der konstitutionellen Freiräume im föderalen Gefüge ein gelungenes Beispiel für eine selbstbewusste und zukunftsfeste Verfassungsschöpfung in einem Gliedstaat. Denken wir nur an das Konnexitätsprinzip – also jene Verpflichtung, wonach Gesetze, durch die den Kommunen Aufgaben übertragen werden, gleichzeitig den finanziellen Ausgleich regeln müssen. Das Konnexitätsprinzip war in unserer Landesverfassung von Anfang an enthalten. Es wurde zum Vorbild für etliche andere Länder; und auf Bundesebene fehlt es – leider – immer noch. Diese - momentan politisch brandaktuelle - Facette veranschaulicht pars pro toto: Wir haben allen Grund, an das Entstehen unserer Landesverfassung in Respekt und Dankbarkeit zu erinnern und deutlich zu machen, dass ihr Wert auch nach fünfzig Jahren und trotz der nicht zu leugnenden Sogwirkung des Grundgesetzes ungebrochen ist. In dieser Einschätzung dürfen wir uns bestätigt fühlen durch die Person des heutigen Festredners. Es ist eine große Freude und zugleich eine außerordentliche Ehre, dass Sie, verehrter Herr Präsident Professor Papier, uns durch einen Festvortrag unserer Landesverfassung die Reverenz erweisen und uns allen ein besonderes Geschenk machen. Herzlich willkommen hier im Haus des Landtags! In einem Portrait bei Ihrem Amtsantritt als Präsident des Bundesverfassungsgerichts war über Sie zu lesen, Sie würden sich den Satz zu Eigen machen: „Die Wahrnehmung von Repräsentationspflichten verkürzt den Einfluss des Präsidenten auf die Rechtsprechung.“ Umso mehr wissen wir Ihre Bereitschaft zu schätzen, unser Landesjubiläum durch einen gewiss herausragenden Beitrag zu krönen. In einer Landesverfassung kann und soll regionalen Eigenheiten Rechnung getragen und die Identität eines Gemeinwesens abgebildet werden. Eine Landesverfassung verifiziert also beides: die Eigenstaatlichkeit und die Individualität der Länder. Auch Baden-Württemberg hat sich mit seiner Landesverfassung eine Grundordnung gegeben, die nicht auf die Regelung des staatlichen Lebens beschränkt ist, sondern zudem die Grundlagen des nicht staatlichen Lebens beschreibt. Es stellt deswegen ein wichtiges Signal dar, dass heute Abend - neben dem gesamten politischen Leben - praktisch alle gesellschaftlichen Bereiche in unserer Festgemeinde höchstrangig vertreten sind. „Eine Verfassung ist die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht was wir gestern waren, sondern was wir morgen gemeinsam sein werden, vereint uns zum Staat“ – dieser Satz stammt von Ortega y Gasset. Und man kann ihn vorbehaltlos verwenden, um den Geist zu beschreiben, von dem die Verfassunggebende Landesversammlung vor fünfzig Jahren durchdrungen war. Die Arbeit an unserer Landesverfassung bewirkte auch mental ein nachhaltiges Stück Selbstfindung des neuen Gemeinwesens. Es gelang, nach dem leidenschaftlichen politischen Kampf um die Fusion der drei südwestdeutschen Nachkriegsländer, die gemeinsame Sorge um das Allgemeinwohl sichtbar zu machen, einen Grundkonsens zu bekunden und Einheit zu stiften. In anspruchsvoll und redlich geführten Kontroversen nahm das Werk Gestalt an. Um eine breite Legitimation zu sichern, verzichteten alle Beteiligten immer wieder kompromissbereit auf einzelne Vorstellungen. Tief greifend umstritten war lediglich die Schulfrage, bei der man aber klug den Kairos, den für eine Entscheidung günstigen Moment, abwartete. Das neue Land bekam so nicht nur eine Verfassung, sondern zudem eine politische Kultur. In dankbarer Hochachtung seien stellvertretend nur ein paar Namen genannt: Josef Beyerle, Theopont Dietz, Walter Erbe, Karl Frank, Franz Gog, Otto Gönnenwein, Wolfgang Haußmann, Walter Krause, Reinhold Maier, Alex Möller, Gebhard Müller, Viktor Renner, Fritz Ulrich, Hermann Veit. Sie und die anderen Mitglieder der Verfassunggebenden Landesversammlung schufen – gerade durch die Art seines Zustandekommens - ein Dokument der Zuversicht. Das glückte ihnen nach meiner festen Überzeugung nicht zuletzt deshalb, weil der Gottesbezug der Verfassung für sie eine Selbstverständlichkeit war. Die Mitglieder der Verfassunggebenden Landesversammlung stellten nicht in Frage, dass es eine vertikale Verantwortung gibt und dass damit auch eine Rechenschaftspflicht in höherem Sinne besteht. Und gerade dieses Wissen ließ sie ihr Tagwerk nicht als Tagesgeschäft betreiben. Als besonderen Ausdruck der von mir erwähnten Zuversicht empfinde ich den - von uns allen vielleicht zu selten zitierten - Artikel 1 Absatz 1 unserer Landesverfassung, der lautet: „Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des christlichen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.“ Diese Bestimmung ist zum einen eine Aufforderung an die Bürgerinnen und Bürger, die ihnen verbrieften Freiheitsrechte mit Leben zu erfüllen. Und diese Bestimmung führt zum anderen vor Augen, wie unabdingbar der Staat darauf angewiesen ist, dass die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger von sich aus diese Freiheitsofferte wahrnehmen und das Gemeinwesen mit tragen. Konkreter formuliert: Der Staat beruht auf der Bereitschaft von Menschen, sich in Freiheit langfristig zu binden – also auf der Bereitschaft zu dauerhaften Erwerbsanstren- gungen, - auf der Bereitschaft, Jahr für Jahr die Steuern ehrlich zu ent- richten, - auf der Bereitschaft, ein Unternehmen zu führen in der Hoffnung auf dessen stabilen Bestand, - auf der Bereitschaft, eine Familie zu gründen und dabei den Willen zu einer lebenslangen Elternverantwortung zu haben, - auf der Bereitschaft, sich über Dekaden ehrenamtlich zu en- gagieren. Der 50. Geburtstag unserer Landesverfassung ist deshalb zuvorderst ein Anlass, den Bürgerinnen und Bürgern zu danken, die durch ihr im Alltag ganz selbstverständlich von Pflichtgefühl, Gewissenhaftigkeit und Anstand geprägtes Leben den Erfolg unseres Landes und seiner Ordnung ermöglicht haben. Am 11. November 1953 hat Baden-Württemberg sein staatsrechtliches und staatspolitisches Rückgrat erhalten. Durch 18 Änderungen und Ergänzungen ist dieses Rückgrat vom Landtag stetig gestärkt und zeitgemäß ausgeformt worden; die Grundstruktur aber musste nicht verändert werden. Wir begehen das heutige Jubiläum deshalb in der Gewissheit, dass wir durch unsere Landesverfassung befähigt sind, im föderalen Gefüge künftig wieder mehr staatliche Verantwortung zu tragen. Dank unserer Landesverfassung können wir der Entflechtung und Revitalisierung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung und Finanzverantwortung mit ungeduldiger Zuversicht entgegenblicken. Und das erlaubt mir, mit Goethe zu schließen, der seinen Egmont sagen lässt: „Darum wünscht der Bürger seine alte Verfassung zu behalten und von seinen Landsleuten regiert zu werden, weil er weiß, wie er geführt wird, und weil er von ihnen Uneigennutz und Teilnehmung an seinem Schicksal hoffen kann.“<< Dem 50-jährigen Jubiläum der Landesverfassung ist auch eine Ausstellung des Hauptstaatsarchivs gewidmet, die bis 28. November in der Lobby des Landtags zu sehen ist. Im Mittelpunkt steht das Original der baden-württembergischen Verfassung. Es handelt sich um ein schlichtes, auf vergilbtem Papier gedrucktes Dokument, das am 11./16. November 1953 vom Präsidenten der Verfassunggebenden Landesversammlung und den Mitgliedern der vorläufigen Regierung des Landes Baden-Württemberg unterschrieben wurde. Neben dieser authentischen „Sparversion“ wird die offizielle Schmuckausgabe der Verfassung gezeigt. Die aufwändige, in Pergament gebundene und mit einem Prägesiegel versehene Urkunde entstand erst anlässlich der Landesausstellung von 1955. Außerdem werden anhand ausgewählter Bild- und Textdokumente die kontroversen Beratungen der Verfassunggebenden Landesversammlung nachgezeichnet wie auch die lebhafte Diskussion um den Namen und die Symbole des neuen Bundeslandes. Ein abschließender Ausblick lässt die Verfassungsfeierlichkeiten der vergangenen Jahrzehnte Revue passieren. Öffentliche Führung am Mittwoch, 12. November 2003, um 17:00 Uhr. Weitere Führungen können mit dem Hauptstaatsarchiv telefonisch vereinbart werden (0711 2124335).