Festsitzung aus Anlass der Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung vor 50 Jahren
Landtagspräsident Straub: Alle Akteure des harten Kampfes um den Südweststaat haben Hochachtung verdient Stuttgart. An die Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung vor fast auf den Tag genau 50 Jahren hat der Landtag am Mittwoch, 6. März 2002, in einer Festsitzung erinnert. Zu der Feier, in deren Mittelpunkt ein Festvortrag von Professor Robert Leicht zum Thema "Zwischen Geschichte und Reißbrett - Über die Zukunft der deutschen Länder" stand und die von Mitgliedern des Landsjugendorchesters musikalisch umrahmt wurde, konnte Landtagspräsident Peter Straub zahlreiche Vertreter aus Politik und Gesellschaft begrüßen, darunter auch eine ganze Reihe ehemaliger Regierungsvertreter und Abgeordneter. Wörtlich sagte der Präsident: >>Durch die Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung am 9. März 1952 haben die Bürgerinnen und Bürger der Nachkriegsländer Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern dem noch namenlosen Südweststaat das demokratische Herz eingepflanzt. Und sie haben der Politik den Auftrag gegeben, die Arbeit an der gemeinsamen Zukunft zum Verbindenden zwischen den Landesteilen zu machen. Unsere Legitimation als Landtag von Baden-Württemberg und unsere fortwährende Aufgabe fußen also auf dieser Wahl am 9. März 1952. Das soll die heutige Festsitzung ins Bewusstsein rufen. Und deshalb ist es ein wichtiges Signal, dass das Hohe Haus heute Vormittag auch auf der Empore ein volles Haus ist und dass sich dort ein so hochkarätiges Auditorium eingefunden hat. Ich heiße Sie alle, meine Damen und Herren, auf das Herzlichste willkommen und bitte zugleich um Verständnis, dass ich nur wenige ausdrücklich begrüßen kann. Obwohl es protokollarisch nicht ganz richtig ist, möchte ich beginnen bei Frau Dr. Emmy Diemer-Nicolaus. Sie verkörpert, was wir heute feiern. Denn sie hat von 1950 bis 1957 als Abgeordnete - im Landtag von Württemberg-Baden, - in der Verfassunggebenden Landesversammlung - und im Landtag von Baden-Württemberg an den politischen und gesellschaftlichen Fundamenten unseres Gemeinwesens persönlich mit gebaut. Ich freue mich sehr, dass Frau Diemer-Nicolaus unsere Feierstunde durch ihre Anwesenheit bereichert. Nicht weniger freue ich mich, dass Frau Magda Maier, die Tochter des ersten baden-württembergischen Ministerpräsidenten Reinhold Maier, zu unseren Gästen zählt. Den größeren geschichtlichen Zusammenhang - den Wechsel der Staatsformen und die Identitätsstränge, die unabhängig davon erhalten und spürbar bleiben - repräsentieren die Königlichen Hoheiten Friedrich Herzog von Württemberg und Karl Erbprinz von Hohenzollern. Auch Ihnen, meinen Herren, gilt mein herzlicher Willkommensgruß. Ausdrücklich begrüßen möchte ich weiter meine Amtsvorgänger Dr. Lothar Gaa, Erich Schneider und Dr. Fritz Hopmeier - alle drei sind Politiker, die sich als Hüter des legislativen Spielraums der Länder im föderalen Miteinander verstanden haben. Stellvertretend für die so zahlreich anwesenden ehemaligen Abgeordneten heiße ich die frühen Fraktionsvorsitzenden Ulrich Lang und Fritz Kuhn willkommen - und stellvertretend für die ehemaligen Mitglieder der Landesregierung die Minister a.D. Dr. Hans-Otto Schwarz und Dr. Guntram Palm. Als wichtige Geste empfinde ich, dass der Staatsgerichtshof Baden-Württemberg als Verfassungsorgan durch seinen Präsidenten Lothar Freund vertreten ist. Herzlich begrüße ich daneben die Repräsentanten des Rechnungshofs Baden-Württemberg, der Kommunalen Landesverbände, des Südwestrundfunks, der Regierungspräsidien sowie der Kirchen. Sehr freut es mich auch, dass so viele Angehörige des Konsularischen Korps dem feierlichen Anlass beiwohnen. Und last not least begrüße ich den Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart sowie die Stadtoberhäupter der ehemaligen Hauptstädte Karlsruhe und Tübingen. Mit der Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung am 9. März 1952 waren die Vorbehalte gegen die staatliche Neugliederung nicht vom Tisch. Aber sie konnten nun durch eine gedeihliche Entwicklung des deutschen Südwestens faktisch widerlegt werden. Und das geschah! Die Landespolitik achtete sensibel darauf, dass sie alle Landesteile ausgewogen erreichte, ohne die regionalen Kulturen und Profile zu nivellieren. Die Fusion ist gerade aus diesem Grund so gut gelungen. Und deshalb können wir heute allen Akteuren des langen, harten Kampfes um den Südweststaat in gleicher Weise Hochachtung zollen. Den mutigen, weitsichtigen Protagonisten der Vereinigung ebenso wie den leidenschaftlich ihren Überzeugungen folgenden Gegnern. Reinhold Maier, Gebhard Müller und Fritz Ulrich ebenso wie Leo Wohleb oder Franz Gurk. Diese Namen lassen Geschichte plastisch werden. Sie sollen aber nicht relativieren: Baden-Württemberg ist ein Werk vieler - insbesondere jener 121 Frauen und Männer, die am 9. März 1952 in die Verfassunggebende Landesversammlung gewählt wurden und die nach dem Inkrafttreten der Verfassung den ersten Landtag von Baden-Württemberg bildeten. Ihnen gelang nicht zuletzt eines: eine positive Vorstellung zu prägen von der Gestaltungskraft des Länderparlamentarismus. Die vorbildlose Aufgabe, aus drei eins zu machen, gab dem parlamentarischen Tun besondere Relevanz: - zunächst beim Klären der staatspolitischen und weltanschaulichen Grundsatzfragen - und später bei der notwendigen Rechtsvereinheitlichung, mit der vielfach strukturelle Entscheidungen verbunden waren - im Polizeirecht ebenso wie bei der Kommunalverfassung und beim Landesverwaltungsgesetz. Hinzu kam der kraftvolle Diskurs, der beide Seiten weiterbrachte und dessen Wortgewalt und Passion sich eindrucksvoll abhoben vom bescheidenen, fast primitiven Provisorium, in dem man tagte. Wir Heutigen schauen mit Respekt, aber auch mit etwas heimlichem Neid auf das, was unsere ersten Kolleginnen und Kollegen leisten konnten. Zwar haben wir das Grundgesetz auf unserer Seite - genauer: die sogenannte "Ewigkeitsgarantie". Sie gewährleistet eigenständige Länder und damit insbesondere auch Länderparlamente mit allen Funktionen, die ein Parlament ausmachen. Zudem verbrieft der vor sieben Jahren in unsere Landesverfassung eingefügte Artikel 34a die Beteiligung des Landtags an allen Vorhaben der EU, die für das Land von herausragender politischer Bedeutung sind. Aber das an Jubiläen so gerne demonstrierte Gefühl, man lebe in der besten aller Welten, kann sich bei uns nicht einstellen. Im Gegenteil! Wir spüren besonders deutlich, - dass die schleichende Verlagerung der Gesetzgebungskompetenzen auf den Bund unseren Gestaltungsspielraum erheblich geschmälert hat, - und dass die scheinbar unersättliche Bereitschaft der EU, unter Hinweis auf den gemeinsamen Markt und den Euro Fragen an sich zu ziehen und detaillierte Regelungen zu erlassen, unsere Möglichkeiten und damit unsere Bedeutung weiter schwinden lässt. Auf der anderen Seite wissen wir: Mantrahaft vorgetragene Beschwörungen bringen keine Abhilfe. Der 50. Geburtstag des Landtags ist daher eine gute Gelegenheit, die Realitäts- und Zukunftstauglichkeit unseres Selbstverständnisses zu hinterfragen: Wer - wenn nicht wir - sollte die argumentativen Waffen schmieden, mit denen für eine Reform des Föderalismus gefochten werden muss? Wer - wenn nicht wir - sollte zum Meinungsmacher und öffentlichen Protagonisten für einen Länderparlamentarismus werden, der wieder über mehr Möglichkeiten verfügt? Wer - wenn nicht wir - sollte bei der angelaufenen europäischen Verfassungsdebatte in unserem Sinn Argumente liefern und das Klima beeinflussen? Wir müssen zum Beispiel konkret darstellen können, - wie die Autonomie der Länder zu vergrößern ist, - wie die Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen entflochten werden können, - wie mehr Wettbewerb und mehr Subsidiarität entstehen soll, - oder wie wir dem - unsere originären Gesetzgebungszuständigkeiten fressenden - "Primat des Wettbewerbs" begegnen wollen. Kurz gesagt: Allen Institutionen ist es zuträglich, wenn sie von Zeit zu Zeit ihr Tun infrage stellen - und das gilt auch für uns. Denn nur durch eigenen Wandel kann man sich im Wandel behaupten. Setzen wir die richtigen Schwerpunkte? Verzetteln wir uns in technische Details? Arbeiten wir genügend gemeinsame Standpunkte heraus, die wir dann auch geschlossen und mit breiter Brust vertreten? Ordnen wir das gemeinsame Interesse am Erhalt der Gestaltungsmöglichkeiten des Landtags zu schnell der Parteiräson unter? Diese Fragen sind notwendig. Denn eines wird niemand bestreiten: Die intellektuelle und mediale Wirkkraft unserer Anliegen muss von uns selbst ausgehen. Schon deshalb ist es gewiss kein Fehler, die Ansichten eines neutralen, aber wahrlich nicht standpunktlosen Geistes zu kennen. Ich freue mich deshalb außerordentlich, dass wir einen der renommiertesten Journalisten Deutschlands als Festredner gewinnen konnten. Ich spreche von Ihnen, Herr Professor Leicht, und heiße Sie auf das Herzlichste willkommen. Sie sind geradezu prädestiniert, die heutige Ansprache zu halten. Denn Sie entstammen einer bekannten Stuttgarter Unternehmerfamilie, haben aber den hanseatischen Geist Ihrer Wahlheimat Hamburg verinnerlicht. Und Ihr Name ist ein Synonym für die nüchterne, weltläufige, aber der Humanität verpflichtete Liberalität, die Gerd Bucerius jener Wochenzeitung verschrieben hat, für die Sie seit über 15 Jahren in leitender Position arbeiten. Zudem sind Sie Kolumnist einer großen Berliner Tageszeitung, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie im Ehrenamt Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin und Mitglied des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland. Uns erwartet also keine Innenansicht, sondern eine Draufsicht - und zwar eine Draufsicht, die uns durchaus auch mit uns selbst konfrontieren soll. Dazu überlasse ich Ihnen, Herr Professor Leicht, verbunden mit dem nochmaligen Dank für Ihr Kommen, jetzt gerne und gespannt das Wort.