Fünfter Tag behinderter Menschen im Landtag
Präsident Peter Straub: Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung flächendeckend verwirklichen Stuttgart. Von der Möglichkeit, mit Abgeordneten ins Gespräch zu kommen und in Diskussionsforen ihre Anliegen vorzutragen, machen am heutigen Donnerstag, 14. Juni 2007, beim fünften Tag behinderter Menschen im Landtag rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Gebrauch. In seiner Eröffnungsrede bezeichnete es Landtagspräsident Peter Straub (CDU) als Aufgabe der Politik, Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung flächendeckend zu verwirklichen. Selbstbestimmung beinhalte im Kern, dass gerade behinderte Menschen in ihren individuellen Talenten, Potenzialen, Wünschen und Träumen ernst genommen würden. Im Einzelnen führte der Präsident aus: >>Vor einem Monat ist der VfB Stuttgart Deutscher Fußballmeister geworden. Selbst die Experten waren überrascht. In vielen Analysen wurde versucht, die Erfolgsfaktoren zu identifizieren. Mir hat ein Punkt besonders eingeleuchtet – nämlich, dass der Trainer stets alle Spieler einzeln mit Handschlag begrüßt, weil er ihnen – so die Begründung – täglich in die Augen schauen möchte. Unser „Tag behinderter Menschen“ liegt auf derselben Linie: Sie, meine Damen und Herren, sollen uns, den Landespolitikerinnen und Landespolitikern, prüfend ins Gesicht blicken können. Und wir wissen: Auch Blinde und Sehbehinderte beherrschen dieses direkte In-die-Pflicht-nehmen. Auf ihre Weise, mit anderen Sinnen eben. Speziell unter diesem Aspekt begrüße ich Sie, meine Damen und Herren, auf das Herzlichste hier im Haus des Landtags. Der „Tag behinderter Menschen“ ist kein „Tag der offnen Tür“. Sein Erfolg bemisst sich nicht nach der Besucherzahl. Intensität geht vor Quantität. Wir wollen konzentriert politische Wertschöpfung betreiben. Deswegen haben wir den Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf 150 beschränkt – obwohl das Interesse erheblich größer gewesen ist. Anders ausgedrückt: Der Landtag beschreibt sich oft als „Politikwerkstatt“. Heute stimmt diese Charakterisierung hundertprozentig. In jeder Werkstatt ist Zeit kostbar. Deshalb möchte ich nur beiläufig würdigen, dass es sich schon um unseren fünften „Tag behinderter Menschen“ handelt. Ein kleines Jubiläum! Aber kein Anlass zur Selbstbeweihräucherung! Vielmehr eine Herausforderung: Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass diese Kontinuität nicht zum Selbstzweck wird, sondern dass sie ein effektives Mittel zum Zweck bleibt. Da der Dialog Priorität haben soll, verzichte ich auf voluminöse Begrüßungskaskaden. Zumal Sie alle, meine Damen und Herren, uns gleichermaßen willkommen sind. Einige wenige namentlich zu erwähnen, sei dennoch erlaubt. Zuvorderst die Vizepräsidentin des Bayerischen Landtags, frühere Sozialministerin des Freistaats Bayern und seit 2001 Vorsitzende der Lebenshilfe in Bayern, Frau Barbara Stamm. Ich begrüße Sie, Frau Kollegin Stamm, mit großer Freude in Stuttgart. Sie sind extra für diesen „Tag behinderter Menschen“ angereist. Das ehrt uns. Ihre Präsenz offenbart: Unser „Tag behinderter Menschen“ ist – modernistisch gesagt – eine „Marke“ geworden. Föderalismus bedeutet ja nicht nur Wettbewerb der Länder untereinander. Ein weiterer Wesenszug des Föderalismus ist, dass gute Ideen ohne Eitelkeit übernommen werden können, sogar übernommen werden sollen. Unser „Tag behinderter Menschen“ unterliegt jedenfalls keinem Kopierschutz. Im Gegenteil! Wir hoffen, dass Sie, Frau Kollegin Stamm, ein paar Anregungen gewinnen und auf der Heimfahrt sagen werden: Es hat sich gelohnt. Als Zweiten begrüße ich den „Beauftragten der Landesregierung für die Belange behinderter Menschen“, Herrn Staatssekretär Hillebrand vom Sozialministerium Baden-Württemberg. Das ist protokollarisch ein Novum. Bei den vorangegangenen „Tagen behinderter Menschen“ war die Landesregierung lediglich mit Beobachterstatus vertreten. Es gab deshalb Kritik. Darauf haben wir gerne reagiert. Das Primat des Parlaments wird nicht geschwächt – es wird gestärkt, wenn die Exekutive offiziell und hochrangig mitwirkt. Herzlich willkommen, Herr Staatssekretär Hillebrand! Dass der „Tag behinderter Menschen“ mindestens einmal pro Wahlperiode stattfindet und dabei konzeptionell fortentwickelt wird, gehört zum interfraktionellen Konsens hier im Landtag. Die vier Fraktionen eint das Anliegen, behinderte Menschen partnerschaftlich in das Formulieren der politischen Agenda einzubeziehen. Stellvertretend begrüße ich: – Herrn Landtagsvizepräsident Drexler; – von der CDU-Fraktion: deren Sozialpolitischen Sprecher Wilfried Klenk; – von der SPD-Fraktion: deren Stellvertretende Vorsitzende Katrin Altpeter; – von der Fraktion GRÜNE: deren Sprecherin für Ältere, Behinderte und Gesundheit Bärbl Mielich; – sowie von der FDP/DVP-Fraktion: deren Vorsitzenden Dr. Ulrich Noll. Wie angedeutet: Eigentlich müsste ich diese Namen durch eine wohltuend lange Liste zusätzlicher Namen aus allen vier Fraktion ergänzen. Auch dieser „Tag behinderter Menschen“ ist wieder exzellent vorbereitet worden. Die Autorinnen und Autoren der Grundlagenpapiere haben extrem tief gepflügt. Ein beeindruckender Fundus von Erfahrungen, Vorschlägen und Forderungen wartet darauf, dass wir ihn ausschöpfen. Mit höchstem Respekt danke ich sämtlichen Beteiligten für ihre intellektuelle Kärrnerarbeit. Ohne dieses authentische Engagement lässt sich ein modernes und zugleich humanes Baden-Württemberg nicht gestalten. Stellvertretend dafür nennen möchte ich die beiden, die gewissermaßen die Klammern unseres Programms bilden: Herrn Willi Rudolf und Frau Margit Hudelmaier. Herr Rudolf wird anschließend die bisherigen „Tage behinderter Menschen“ bilanzieren und so apostrophieren, worauf es in den nächsten Stunden ankommt. Und Frau Hudelmaier hat den anspruchsvollen Part übernommen, heute Nachmittag ein erstes Resümee der Veranstaltung zu ziehen. Seit Bismarcks Zeiten gilt Politik als die „Kunst des Möglichen“. Der „Tag behinderter Menschen“ zeigt: Diese Definition springt zu kurz. Wir müssen Politik als „Kunst des Möglichmachens“ begreifen! Das umfasst freilich, die praktischen und die finanziellen Schwierigkeiten offen anzumerken. Durch Gesinnung allein ist nichts bewegt. Geschick, Pragmatismus und Kompromissfähigkeit müssen uns ebenso weiteren Verbesserungen näherbringen. Die Aufgabe lautet, Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung flächendeckend zu verwirklichen. Und zwar mitten in unserem Alltag, nicht in Sondersystemen. Substanziell geht es um elementare Bürgerrechte, nicht um reine Fürsorge. Betrachten wir exemplarisch den Begriff „Selbstbestimmung“. Er hat etliche Facetten. Er meint nicht ausschließlich, Entscheidungen eigenverantwortlich zu treffen. Selbstbestimmung beinhaltet im Kern, dass gerade behinderte Menschen in ihren individuellen Talenten, Potentialen, Wünschen und Träumen ernst genommen werden. Wir müssen verstehen: Selbstbestimmung basiert nicht auf faktischer Eigenständigkeit. Voraussetzung ist nicht, Erstrebtes selber machen zu können. Selbstbestimmung heißt, dass ein Mensch sich autonom persönliche Ziele setzen und sie – sofern nötig – mit Unterstützung Dritter erreichen kann. Kurzum: Wir diskutieren heute über Regelungen, Angebote und Strukturen. In Wahrheit reden wir dabei auch über falsche Denkgewohnheiten und mentale Defizite. Und wir sind verpflichtet, zur Realität hinter den Fassaden vorzudringen. Das Beseitigen technischer oder bürokratischer Hindernisse ist nicht identisch mit Integration. Beschönigen wir nichts: Die Einstellung zu körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung ist immer noch von Irrtümern und Ängsten beeinflusst. Es dominiert eine obskure Haltung, die leichtfertig irgendeine nebulöse „Normalität“ statuiert und jede Abweichung als Makel ansieht – allen anders klingenden Beteuerungen zum Trotz. Durchsetzen muss sich die Erkenntnis, dass von einer entschlossenen Politik für behinderte Menschen unser gesamtes Gemeinwesen profitiert. Nicht zuletzt, weil in einer alternden Gesellschaft Behinderung zu einem prägenden Phänomen wird. Die Verbreitung der vierrädrigen Gehhilfen – der „Rollatoren“ – markiert bloß den Anfang. Das Bild unserer Städte und Gemeinden, ja des ganzen öffentlichen Lebens wird sich verändern. Dem haben wir konsequent Rechnung zu tragen. Je schneller, desto besser. Der „Tag behinderter Menschen“ im Landtag ist auch ein Zukunftskongress, der in der Frage gipfelt: In welcher Gesellschaft wollen wir alle leben? Ich bin überzeugt: Wir werden tragfähige Antworten finden – wenn wir uns bei der Suche bewusst ins Gesicht schauen.