Gedenkfeier des Landtags für die Opfer des Nationalsozialismus

Präsident Straub: Extremismus darf weder aus unserer Gesellschaft heraus gedeihen noch importiert werden Es gilt das gesprochene Wort! Stuttgart. Den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat der Landtag von Baden-Württemberg am Dienstagabend, 27. Januar 2004, mit einer Gedenkfeier in Stuttgart begangen. Im Mittelpunkt der Veranstaltung vor dem Mahnmal für die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft stand die Rede von Landtagspräsident Peter Straub, der im Namen des Parlaments auch einen Kranz niederlegte. Wörtlich führte der Landtagspräsident aus: >>„Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich daran erinnert, was noch zu tun ist.“ Dieser Satz des Philosophen Ernst Bloch eignet sich bestens, den Sinn des heutigen Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus zu beschreiben. Und das heißt auch: Der 27. Januar hat einen übergreifenden Auftrag. Er verpflichtet uns, jegliche Ideologien zu ächten, die Menschen als ungleich ansehen, diskriminieren, ja selektieren. Und zwar zu ächten überall, wo sie zu Tage treten. Unser Gedenken muss deshalb an vielen Orten stattfinden: nicht nur in den Schulen, Gedenkstätten oder Parlamenten, sondern ebenso mitten in unserem Alltag. Auch hier mitten in der Großstadt, mitten in der Rushhour am Abend. „Alles Leid der Menschen kommt vom Menschen“, meinte einst Seneca. Die Verbrechen der Nationalsozialisten sprengen jedoch in Ausmaß und Gestalt das menschliche Vorstellungsvermögen. Nie sind die Grundlagen der Zivilisation so barbarisch, so bestialisch verlassen worden. Was die Nazis ihren Opfern antaten, war und ist unsagbar. Unsere Sprache hat eigentlich keine Worte dafür. Wir spüren in dieser Stunde, wie schwer die Hypothek ist, die auf uns lastet, und wie groß die Verantwortung ist, der wir immer wieder aufs Neue gerecht werden müssen. In Trauer, Scham und Demut konfrontieren wir uns mit der brutalen Entrechtung, Versklavung, Ermordung der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der slawischen Völker, der Behinderten und aller nicht vom perversen Schema der nationalsozialistischen Ideologie akzeptierten Menschen. Beklommen und erschrocken vergegenwärtigen wir uns die Ausgrenzung, Verfolgung, Entwürdigung aller, die an ihren politischen Überzeugungen oder an ihrem Glauben festhielten. Durch unser Gedenken vergewissern wir uns zugleich der ethischen und demokratischen Fundamente unseres Gemeinwesens. Unsere Verfassung ist von Frauen und Männern geschrieben worden, die den Nationalsozialismus überlebt hatten. Viele davon gehörten zu jenen Opfern, derer wir heute gedenken. Das Wichtigste war ihnen, eine Wiederholung der Nazi-Diktatur und der Nazi-Verbrechen dauerhaft zu verhindern. „Nie wieder“ sollte es geschehen können. Deshalb stellten sie die Würde des Menschen und die unveräußerlichen Menschenrechte über alles. Deshalb bauten sie ein demokratisches, rechtsstaatliches und sozial verpflichtetes Gemeinwesen auf. Dieses „Nie wieder“ zu gewährleisten ist die vornehmste Aufgabe von uns Heutigen. Dazu müssen wir die Globalisierung positiv gestalten und unsere Gesellschaft nicht nur leistungsfähiger, sondern auch humaner machen. Reformen dürfen nicht vorwiegend als großer Abräumprozess empfunden werden. Nur wenn wir schlüssig erklären können, wie sich eine neue Leistungskultur und gelebte Solidarität künftig verbinden, wird die Bereitschaft wachsen, die notwendigen, mit Einbußen verbundenen Wege mitzugehen. Glaubwürdig und verlässlich muss Politik sein in unserer komplexen Welt mit ihren oft widersprüchlichen Details. Die Alternative wäre, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger innerlich kündigen oder nur noch simple Lösungen hören wollen. Beides würde den freiheitlichen Staat am Ende zur leichten Beute seiner Feinde degradieren. Die ökonomischen und sozialen Herausforderungen gedeihlich zu bewältigen ist das eine. Hinzukommen muss ein Zweites: Wir dürfen keinen Zweifel lassen, dass die Demokratie jene Kräfte nicht im Geringsten toleriert, von denen sie bedroht wird. Viele Untersuchungen beweisen – und das Soziologendeutsch ist hier ausnahmsweise griffig –: Die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland nimmt nicht ab. Antisemitismus, Antiziganismus, Fremden- und Minderheitenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und die offensichtlich unbezwingbare Neigung, die Geschichte zu verdrehen – sie höhlen unseren gesellschaftlichen Grundkonsens von innen her aus; sie zersetzen unsere Zivilgesellschaft. Wichtig ist daher, dass wir hinter die Fassaden schauen. Speziell der Antisemitismus marschiert nicht ausschließlich in Stiefeln; er trägt genauso Anzug und Krawatte. Er rasiert sich nicht nur Glatzen; er trägt das Haar auch gern gescheitelt. Er parliert auf Parties, wohnt im Reihenhaus, schätzt gute Umgangsformen und ist kein Freund offener Gewalt. Zu Recht wird der Antisemitismus als heimtückisches Problem charakterisiert. Denn er wird auf subtile Weise weitergereicht – auch über die Generationen hinweg. Aus unserer Geschichte sollten wir aber gelernt haben, wie sich Totalitarismus und Rassismus unbemerkt in das öffentliche Bewusstsein einschleichen und allmählich entfalten: in verharmlosenden Begriffsveränderungen und im Appell an den Instinkt statt an den Verstand. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog sprach treffend von einer Gewöhnung an die kleinen Schritte: Erst hilft die Gewöhnung beim Wegschauen; dann hilft das Wegschauen, gar nichts wissen zu wollen. Andersherum gesagt: Patriot zu sein heißt auch, Zivilcourage zu besitzen und sich klar von extremen, faschistoiden oder sonst wie verfassungswidrigen Positionen abzugrenzen. Ein echter Patriot benötigt keine Negativvergleiche mit Menschen welcher Religion und welcher Herkunft auch immer. Letztlich geht es darum, die Autorität unserer Grundrechte durchzusetzen, zu stärken und zu verteidigen. Und das gelingt nicht ohne die konsequente Bereitschaft, stets mit dem gleichen Maß zu messen. Extremismus darf nicht aus unserer Gesellschaft heraus gedeihen. Extremismus darf aber genauso wenig importiert werden. Militanten Fundamentalisten oder islamistischen Gewalttätern entschlossen das Handwerk zu legen, ist kein Ausdruck von Ausländerfeindlichkeit. Im Gegenteil. Wer abwiegelt oder gar zurückweicht, fördert zum einen die Umtriebe am anderen Ende der extremistischen Skala. Und falsche Duldsamkeit gefährdet zum anderen das friedliche gesellschaftliche Miteinander zwischen Christen, Juden, Muslimen und zwischen Deutschen und Ausländern, weil Misstrauen wachsen kann. Der islamistische Terrorismus speist sich aus einem radikalen Antisemitismus und aus dem unbedingten Willen, den Staat Israel zu vernichten. Deshalb bedarf es gerade bei uns in Deutschland eines aufgeklärten Verhältnisses zwischen Christen, Juden und Muslimen. Dazu müssen alle beitragen. Durch aktive Toleranz! „Der Brunnen der Vergangenheit ist tief“, formulierte Thomas Mann. Wir sind aufgefordert, aus diesem Brunnen Wissen, Kraft und Mut zu schöpfen für unsere wichtigste Aufgabe: für die Verteidigung von Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Nicht nur am 27. Januar, sondern an allen Tagen und an allen Orten!<<