Gedenkfeier des Landtags für die Opfer des Nationalsozialismus
Präsident Straub in der Gedenkstätte “Vulkan” in Haslach: Gemeinsames Erinnern soll mahnen, was passiert, wenn die Menschenwürde antastbar wird Stuttgart/Haslach. Den zentralen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, den 27. Januar, hat der Landtag von Baden-Württemberg in diesem Jahr am Sonn- tag in der Gedenkstätte "Vulkan" in Haslach im Kinzigtal begangen. Im Mittelpunkt der Feier stand die Gedenkrede von Landtagspräsident Peter Straub, der im Namen des Parlaments auch einen Kranz niederlegte. Die Rede Straubs hatte folgenden Wortlaut: >>Wer Erinnerungslücken akzeptiert, der stellt sich auf die Seite der Täter. Und eine akzeptierte Erinnerungslücke wäre es, Majdanek, Treblinka oder Auschwitz zu nennen, aber die Tatorte hier in unserer Heimat zu verschweigen. Auch hier, wo wir uns daheim fühlen, auch in Bilderbuchlandschaften wie dem Kinzigtal, auch hier fanden die Verbrechen der Nazis statt. Deshalb hat der Landtag den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wiederum aus der Neutralität seines Plenarsaals in Stuttgart hinausverlegt. Und ich danke allen, die dazu beigetragen haben, dass wir hierher in die Gedenkstätte "Vulkan" einladen konnten. Vor allem aber: Es sind Menschen in unserer Mitte, die diesen Ort einst als Inbegriff der Entrechtung, der Qual, der Ausbeutung und der Entwürdigung erlebt und nur dank eines gnädigen Schicksals überlebt haben. Auch ich möchte Sie, meine Herren, und Ihre Angehörigen in besonderer Hochachtung auf das Herzlichste begrüßen. Beklemmungen, Ängste, Bitterkeit - die Gefühle, mit denen Sie sich auf den Weg hierher nach Haslach gemacht haben, kann man allenfalls erahnen. Umso mehr schätzen wir es, dass Sie die Kraft gefunden haben, unsere Einladung anzunehmen. Sie bestätigen dadurch die Ernsthaftigkeit unseres Gedenkens. Und das empfinden wir dankbar. Wenn wir in Ihre Gesichter schauen, wenn wir mit Ihnen reden, dann konfrontieren wir uns schmerzhaft mit dem, was Menschen anderen Menschen zufügen können. Wir spüren voll Pein: Die Verbrechen des Nationalsozialismus waren nichts Abstraktes; Geschichtsbücher und Statistiken spiegeln sie nicht wirklich wider. Wir sind aufgefordert, uns der Wahrheit aktiv zu stellen - demütig und mit Scham. Der Nazi-Terror, die in deutschem Namen verübte Barbarei, dürfen nicht zu irgendeinem historischen Ereignis schrumpfen. Sie bleiben eine dauerhaft währende Wunde in der deutschen Geschichte. Juden, Sinti und Roma, Angehörige der slawischen Völker, Homosexuelle, Behinderte, Kranke, Kriegsgefangene, die Bevölkerung in den überfallenen und besetzten Gebieten, von denen eine unvorstellbare Zahl, wie die ehemaligen Häftlinge in Haslach, verhaftet und gefoltert und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde - eine Politik der Hybris und des mörderischen Rassenwahns hatte sich angemaßt, die Menschenrechte außer Kraft zu setzen und Leben für minderwertig, ja für lebensunwert zu erklären. Der perverse Mechanismus des Selektierens, der perfektionierte industrielle Völkermord, die systematische pseudo-legale und spießig-abscheuliche Versklavung von Menschen, das Herrenmenschentum in seinen vielfältigen, ansteckenden Ausprägungen - all das raubt uns die Ruhe, erschüttert unsere Selbstgewissheit. Auch heute noch - 57 Jahre danach! Dass die historische Distanz zu den Jahren der Nazi-Herrschaft unaufhörlich zunimmt, darf nicht bedeuten, dass unser Wille schwindet, das Böse unserer Vergangenheit konkret wahrzunehmen. Die zahlreichen Gedenkstätteninitiativen in Baden-Württemberg und in den anderen Bundesländern leisten einen unschätzbaren Beitrag, diese historische Distanz zu überbrücken. Stellvertretend für alle Gedenkstätteninitiativen, die durch ihr unermüdliches Engagement mit dazu beitragen, die Erinnerung an die Gräueltaten während der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft wach zu halten, gebührt in dieser Stunde der Initiative “Gedenkstätte Vulkan” Dank und Anerkennung. Beim Nationalsozialismus handelte es sich nicht um ein kosmisches Ereignis, das über die Deutschen jener Zeit gekommen ist, das aber mit unserer heutigen Welt nichts mehr zu tun hat. Nein! Der Nationalsozialismus war ein katastrophaler Irrweg der aufgeklärten Moderne. Deutschland - eine zivilisierte Nation mit einer beeindruckenden Kulturgeschichte - folgte einem verrückten Emporkömmling und seiner wahnsinnigen, menschenmörderischen Ideologie. Und es waren nicht allein die Nazis - viele in Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft ignorierten die moralischen Schranken. Darin lag die enorme Gefahr, die eine große Dynamik freisetzte. Wir gedenken deshalb der Opfer des Nationalsozialismus nicht, um dem Ausland zu gefallen oder um den Nachgeborenen Schuld aufzuzwingen - wir gedenken, weil nicht auszuschließen ist, dass Menschenverachtung, ideologische Verblendung oder inhumaner Machbarkeitswahn wieder eine explosive und verführerische Kraft entfalten. Wir Heutigen wollen Lehren ziehen - Lehren, die auch künftigen Generationen Orientierung geben können. Das gemeinsame Erinnern soll mahnend vergegenwärtigen, was passiert, wenn die Menschenwürde antastbar wird. Der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sagte am 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau im Jahre 1995: "Es geschieht zum Wohle unserer Kinder. Wir müssen uns an Birkenau erinnern, damit es nicht ihre Zukunft wird." Nichts anderes gilt für uns heute hier in der Gedenkstätte "Vulkan". Erinnern heißt damit auch, Rechenschaft zu geben und aktuelle Entwicklungen selbstkritisch zu reflektieren. So sind im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2000 bundesweit rund 1.000 Gewalttaten erfasst mit einem erwiesenen oder zu vermutenden rechtsextremistischen Hintergrund - gegenüber dem Jahr 1999 ist das eine Zunahme um rund 34 Prozent. Insgesamt stieg die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten um fast 60 Prozent auf knapp 16.000. Andererseits konnten diese - in Anführungszeichen - "Steigerungsraten" nur zustande kommen, weil sowohl die Bürgerinnen und Bürger wie die Strafverfolgungsorgane aufmerksamer geworden sind und ihr Anzeigeverhalten geändert haben. Die größer gewordene Sensibilität, das gewachsene Bewusstsein für den Grundsatz "Null Toleranz gegen Extremisten jeder Couleur" zeigen, dass sich etwas bewegen lässt. Das Problembewusstsein ist geschärft - die Debatte um Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt in Deutschland findet Resonanz. Aber das sind nur Anfangserfolge - das Thema muss auf der Agenda bleiben. So versucht das verquere rechtsextremistische Denken im Augenblick Nahrung zu finden in den neu geschürten Feindbildern zwischen dem Islam einerseits und dem Christentum und dem Judentum andererseits. Die "braune" Ideologie lebt von Vorurteilen und Hass - gegen alles, was fremd ist, - gegen jeden, der fremd erscheint. Und die Ausgrenzungsmentalität breitet sich oft unauffällig, unterschwellig aus. Vielfach sogar ohne Worte: Die Aggressivität, die aus Gesichtern und Körpern vieler Rechtsradikaler spricht, ist eine schreiende Drohung gegen Ausländer und Juden. Und wer den latenten Formen rechtsextremen Denkens nicht entgegentritt, der wird den manifesten und gewalttätigen Extremismus erst recht nicht in die Schranken weisen können. Deshalb müssen wir uns immer wieder fragen, ob wir den politischen Extremismus mit allen Mitteln wirksam bekämpfen: Wirksam bekämpfen, indem wir - erstens - der Polizei und dem Verfassungsschutz die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen und das rechtliche Instrumentarium ausbauen. Wirksam bekämpfen, indem wir - zweitens - auf den bewussten Tabubruch und auf alle rassistischen, antisemitischen oder rechtsradikalen Regungen auch im Kleinen couragiert reagieren, also nirgends das Gefühl aufkommen lassen, dass es eine klammheimliche Zustimmung gibt. Und wirksam bekämpfen, indem wir - drittens - die vielfältigen Ursachen wahrnehmen: - die Überforderungsängste und Vereinfachungsbedürfnisse in einer komplizierten Welt; - die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und des "Nicht-Gebraucht-werdens"; - die Sorge um die persönliche Sicherheit und die Frage, ob der Staat den Bürger vor Kriminellen zu schützen vermag; Der Wille, für den Erhalt der Freiheit einzutreten, gehört zum Wesen der Freiheit - sonst trägt sie den Keim zur Selbstzerstörung in sich. Weder bei uns in Deutschland noch irgendwo in Europa darf es eine Freiheit zur Beschädigung und Zerstörung der Freiheit geben. Auch ein demokratischer Rechtsstaat muss es sich nicht gefallen lassen, - wenn von seinem eigenen Territorium gegen ihn gearbeitet wird, - wenn von seinem Territorium gegen Juden und den Staat Israel gehetzt wird. Das zu dulden, ist nicht demokratisch oder liberal, das ist Dummheit und Schwäche. Wer Frieden und Freiheit erhalten will, muss aufstehen - gegen Extremisten, egal welcher Nationalität; - gegen Hetzer, gleich welcher Ideologie; - gegen Fundamentalisten, unabhängig davon, welche Religion sie als Deckmantel missbrauchen; - gegen alle, die einer freien und offenen Gesellschaft einen totalitären Keim einpflanzen wollen, - gegen alle, die demokratische Grundsätze, Menschenwürde und Toleranz nicht achten. Gefordert ist Mut - aber genauso die Bereitschaft zu unterscheiden: Darum sind wir froh darüber, dass die meisten Menschen in Deutschland zum Beispiel fundamentalistischen Terrorismus und gläubige Muslime nicht gleichsetzen. Das ist richtig und wichtig, denn der Fundamentalismus ist der Feind jeden Glaubens. Durch unser Gedenken schärfen wir unsere Sensibilität im alltäglichen Handeln. Unser Gedenken verleiht uns aber weder die Befugnis, darüber zu urteilen, wie andere mit ihrer Geschichte umgehen, noch gibt es uns das Recht, von anderen Ähnliches zu verlangen. Grauen kann nicht gegen Grauen aufgerechnet werden, Entwürdigung nicht gegen Entwürdigung, Täterschaft nicht gegen Mittäterschaft oder Kollaboration. Jedes Volk muss seine Rolle im düstersten Kapitel des 20. Jahrhunderts aus eigenem Entschluss und um seiner selbst willen tabulos reflektieren. Das eigene Vaterland wird nicht beleidigt durch ein Denken, das die eigene Geschichte ehrlich betrachtet. Ein Patriot stellt sich deshalb der ganzen Geschichte seines Landes. Der Blick in die Geschichte lässt freilich auch Hoffnungsschimmer sichtbar werden - Hoffnungsschimmer, die wir so dringend brauchen. Deutschland und Frankreich konnten jene Absurdität überwinden, die man Erbfeindschaft nannte. Unser Kontinent hat sich nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs positiv entwickelt, auch und gerade weil wir beiderseits des Rheins noch im Angesicht der geschlagenen Wunden mit dem Lernen aus der Geschichte Ernst gemacht und - ebenso kühn wie nüchtern - die deutsch-französische Freundschaft begründet haben. Und durch ein langsames, aber entschlossenes Herausschälen des Gemeinsamen ist uns eine echte Aussöhnung gelungen. Mehr noch: Die deutsch-französische Freundschaft ist heute nicht nur Vorbild für das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen; sie vermittelt zum Beispiel den leidgeprüften Völkern des Balkans die Hoffnung, dass sich historische Gräben überwinden lassen. Das Durchsetzen der Demokratie in ganz Europa und die europäische Integration, die vor 27 Tagen mit der Einführung des Euro-Bargelds einen weiteren großen Sprung nach vorne erlebt hat, lassen uns darauf vertrauen, dass sich die blutigen Kriege der Vergangenheit nicht wiederholen werden. Und das ist keine geringe Errungenschaft - bedenkt man das Ausmaß der Konflikte, die im Laufe der Jahrhunderte in Europa ausgetragen wurden. Für Franzosen und Deutsche gibt es heute vieles gemeinsam zu tun, und zwar auch jenseits der Erweiterung und der Vertiefung der EU und jenseits der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im nationalen oder regionalen Rahmen. Wir stehen in der Pflicht, Seite an Seite zu einer Welt beizutragen, in der Demokratie und Menschenrechte respektiert werden. Und das bedeutet zuvorderst gegen jene wehrhaft zusammenzustehen, die auf internationaler Ebene das Gesetz brechen und die Grundsätze der Koexistenz und der friedlichen Konfliktlösung außer Kraft setzen. Verdrängen, schweigen, beschwichtigen - das sind auch hier die falschen Antworten. Im Angesicht des Bösen gibt es auch hier keine moralische Neutralität. Jeder muss sich entscheiden: der Einzelne; der einzelne Politiker; lokale, nationale und internationale Institutionen - von der Politik bis zu den Kirchen. Und dabei dürfen wir Deutschen von uns selbst nicht weniger fordern, als wir von anderen verlangen. Wer den Frieden bewahren möchte, muss bereit sein, ihn zu schaffen. Andere die Kohlen aus dem Feuer holen zu lassen, damit man sie dann selbstgefällig löschen kann, das ist kein tragfähiges Konzept. Vor allem aber sind Deutsche und Franzosen gemeinsam berufen, darauf hinzuwirken, dass die Globalisierung und der umfassende Welthandel weder zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze noch zu einer kulturellen Überwältigung führen. Denn das Gefühl, materiell und immateriell zu den Globalisierungsverlierern zu zählen, ist ein Humus, auf dem Hass und Extremismus wachsen. Im Kampf gegen den Terrorismus bedarf es deshalb einer umfassenden Strategie, die ganz bewusst auch auf die Lösung ökonomischer und sozialer Probleme gerichtet ist. Darin sind wir uns zwischen Deutschland und Frankreich einig - wir sollten diese Einigkeit freilich künftig noch bewusster deutlich machen als bisher. Im Alten Testament heißt es: "Auf drei Säulen ruht die Welt: Recht, Wahrheit, Frieden." Wir wissen: Stürzen diese Säulen ein, gibt es keine menschenwürdige Existenz. Stärken wir deswegen die Substanz dieser Säulen. Und sorgen wir dafür, dass Hass, Verblendung, Hybris niemanden mehr dazu verleiten, an diesen Säulen Hand anzulegen.