Gedenkfeier des Landtags für die Opfer des Nationalsozialismus in Heidelberg
Landtagspräsident Peter Straub: Rassismus und Rechtsradikalismus erledigen sich nicht von allein Opfergruppe der Sinti und Roma steht im Mittelpunkt der Veranstaltung Es gilt das gesprochene Wort! Stuttgart/Heidelberg. Mit einer Gedenkfeier hat der baden-württembergische Landtag am Donnerstag, 27. Januar 2005, im Spiegelsaal des „Prinz Carl“ am Heidelberger Kornmarkt an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Im Mittelpunkt der diesjährigen Veranstaltung stand die Opfergruppe der Sinti und Roma. „Rassismus und Rechtsradikalismus erledigen sich nicht von allein“, betonte Landtagspräsident Peter Straub in seiner Gedenkrede. Zum einen müsse man kritisch beleuchten, warum die Rechtsextremen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein neue Anhänger gewinnen. Zum anderen müssten Rechtsradikale couragiert entlarvt werden. Wörtlich sagte der Präsident: >>Wenn wir der Opfer des Nationalsozialismus wirklich gedenken wollen, müssen wir uns eine schonungslose Selbstprüfung abverlangen. Das „Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma“ ist dafür ein höchst geeigneter Ort. Im Antlitz des Genozids an den Sinti und Roma, seiner Vorgeschichte und seiner jahrzehntelangen Relativierung, ja Leugnung findet sich für unser Erinnern keine höhere Warte, die wir als Nachgeborene betreten könnten. Ein gleißendes Licht fällt auf die Wissenslücken, Denkschemata und Urteilsreflexe von uns Heutigen. Die Konfrontation mit dem Geschehenen führt in exemplarischer Schärfe zu den entscheidenden Fragen: Ist das allgemeine Bewusstsein völlig frei von rassistischen Vorurteilen? Stehen wir tatsächlich uneingeschränkt an der Seite der Opfer und ihrer Familien? Deshalb hat der Landtag von Baden-Württemberg die Anregung des „Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma“ gerne aufgegriffen, den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ am 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz in Heidelberg zu begehen. Ich danke Ihnen, Herr Landesvorsitzender Strauß, und Ihnen, Frau Oberbürgermeisterin Weber, sowie allen Mitwirkenden für Ihre Beiträge und Ihre Unterstützung. Die nächsten Stunden werden uns – im Wortsinn – betroffen machen. Was wir zu sehen und zu hören bekommen, soll uns treffen, beeindrucken, weiterbringen und in der Eindeutigkeit unserer Haltung bestärken! Nach dem 30. Januar 1933 erteilten sich die Nazis schnell die Lizenz zur Inhumanität und die Konzession zum Völkermord. Und sie machten Gebrauch davon: barbarisch, aber mit deutscher Gründlichkeit; skrupellos, aber scheinlegal. Der Staat pervertierte zum systematisch handelnden Verbrecher. Zwölf Millionen Menschen fielen diesem einzigartigen Zivilisationsbruch zum Opfer: Juden, Sinti und Roma, russische Kriegsgefangene, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, die polnische Intelligenz, Behinderte, Gewerkschafter, Frauen und Männer, die an ihren politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen bis zur letzten Konsequenz festhielten. „Auschwitz“ ist hierfür zum Inbegriff geworden. „Auschwitz“ kündet vom Grausamsten, das die Welt je gesehen hat; vom industriell organisierten Genozid; vom Bösen schlechthin. „Auschwitz“ als Synonym darf freilich nicht die Sicht verstellen auf die apokalyptische Wahrheit der anderen Mordstätten, auf die Massenexekutionen in den überfallenen osteuropäischen Ländern und auf den fanatisch totalen Charakter des Terrorregimes. Daran erinnern wir heute. Die Dimension des Menschheitsverbrechens übersteigt unser Vorstellungsvermögen. Deshalb müssen wir uns lösen aus dem Abstrakten der Begriffe und der Statistiken. Entscheidend ist, dass wir intellektuell und emotional zum Konkreten vordringen: zum Individuum, zum einzelnen Schicksal, zum Schmerz der Höllenqualen, zum Raub der Seele. Das „Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma“ bringt uns dorthin. Der Blick in Gesichter und auf Lebenslinien fräst menschliche Konturen in die Zahlen und Daten. Fotos und Beschreibungen werden zu dem, was sie in Wahrheit sind: ewig schwärende Wunden. Fünfhunderttausend Sinti und Roma fielen dem Völkermord zum Opfer – der Säugling ebenso wie der Greis oder die Schwangere: bei Erschießungen abgeschlachtet; in den Konzentrationslagern qualvoll dahingerafft von Hunger, Erschöpfung und Seuchen; versklavt und durch Arbeit zu Tode gequält; von Medizinern bei abartigen Menschenversuchen missbraucht. Die Schreie; die Bilder ihrer unterernährten, von Krankheiten gezeichneten Körper; die Hingabe der Mutter, die für ihren Sohn verhungert, weil sie ihm die karge Ration heimlich zusteckt; die Berichte über das Beten und Hoffen trotz der Unmenschlichkeit – all das muss uns erreichen. Und noch etwas gilt es zu verinnerlichen: das Wissen um den Aufstand der Sinti und Roma in Auschwitz am 16. Mai 1944. Die SS-Schergen wollten an diesem Tag mit dem genannten „Zigeuner-Lager“ tun, was sie in ihrem Jargon „liquidieren“ nannten. Alle Häftlinge sollten ins Gas getrieben werden. Die bereits monatelang gepeinigten und geschwächten Häftlinge brachten aber den Mut und die Kraft auf, Widerstand zu leisten. Und sie behielten einige Zeit die Oberhand. Die Sinti und Roma setzten damit ein einmaliges Zeichen für den universellen Bestand der Menschenwürde. Ein Zeichen, dem wir alle besonderen Respekt zollen. Die Vernichtungspolitik hatte viele Facetten; und die Opfer können unterschiedlichen Gruppen zugerechnet werden. Die Entwürdigung und die Marter speisten sich indes aus derselben Hauptquelle: aus einem absurden Freund-Feind-Weltbild. Mit Hilfe eines sozialdarwinistischen Unterscheidens zwischen „wertvollen" und „minderwertigen" Rassen und Menschen wurde ein völkisches Bedrohungsszenario konstruiert, das die Stigmatisierung zu rechtlosen Wesen rechtfertigte. Die Barbarei war kein blindes Wüten. Sie war ein Programm. Und zwar ein Programm, das von den Nazis oft nicht aufgezwungen, sondern nur politisch entfesselt werden musste. Da waren Ärzte und Biologen, die sich willig in den Dienst der Nazis stellten. In ihren Allmachtsfantasien betrachteten sie die Gesellschaft als kollektiven Körper, den sie pseudo-wissenschaftlich zu heilen suchten. Und da waren die zum Gemeingut gewordenen Vorurteile. Die Dämonisierung des so genannten „Weltjudentums“ als globale Bedrohung wäre ohne den alteingesessenen Antisemitismus nicht möglich gewesen. Und der Genozid an den zu „Volks- und Reichsfeinden“ abgestempelten Sinti und Roma wurde getragen von jener tief verwurzelten Einstellung, die heute als Antiziganismus bezeichnet wird. So konnte der Alltag des Verhaftens, Deportierens und Tötens seine abscheuliche Dynamik gewinnen. Die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma war brutalster „Rassismus nach innen“. Eine seit sechshundert Jahren in Deutschland beheimatete Kultur sollte ausgerottet werden. Bedenken, Widerstand oder gar Schutz gab es praktisch nicht. Die Diskriminierungen wurden auf sämtlichen Ebenen unspektakulär vollzogen – mit ruhigem Gewissen und in der fatalen Überzeugung, richtig zu handeln. Von der Polizei über die Finanzämter bis zur Reichsbahn gefiel sich eine präzis und effizient arbeitende Bürokratie im Kadavergehorsam. Die perverse Rassengesetzgebung verfestigte sich öffentlich. Der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ arbeiteten selbst Pfarreien willig zu. Das Ganze gipfelte im Befehl Himmlers vom 16. Dezember 1942, - ich zitiere – „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft auszuwählen und in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen“. Die Ressentiments gegen eine fremd gebliebene Lebensart hatten die finale Stufe erreicht. Das Nazi-Regime kapitulierte am 8. Mai 1945 um 23:01 Uhr. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verschwanden damit jedoch nicht aus der Welt. Auch nicht aus Deutschland. Schnell bekamen die überlebenden Sinti und Roma zu spüren: Der Ungeist zeigte keine Schwäche; er pflanzte sich munter fort. Die Sinti und Roma blieben, was sie waren: diskriminiert und marginalisiert. Noch in den Siebzigerjahren benutzten Behörden die Akten der Rassenhygienischen Forschungsstelle. Legitime Entschädigungen konnten verweigert werden. Die rechtsstaatlichen Korrektive versagten. Und die Öffentlichkeit sah keinen Grund, sich zu empören. Stattdessen fand eine üble Diskussion statt, wie die Verbrechen an den Sinti und Roma einzustufen seien. Bis zur offiziellen Anerkennung als Völkermord gingen vier Jahrzehnte ins Land – genauer: in unser Land! Deswegen nachträglich Zorn und Scham zu empfinden, ist zu wenig. Wir müssen ein zeitlos gefährliches Phänomen identifizieren und ansprechen – nämlich, dass auch in einem freiheitlichen Rechtsstaat die Bevölkerungsmehrheit ein Definitions- und Ausgrenzungsmonopol innehat, das sich als verhängnisvoll erweisen kann. Reden wir also Klartext; und bleiben wir gegenüber den so gern zitierten Stammtischen kategorisch dabei: Die Sinti und Roma sind keine Fremden in unserem Land. Sie gehören geschichtlich und menschlich zu uns. Ohne ihre Kultur wären wir um vieles ärmer. Die Sinti und Roma praktizieren überdies zentrale Werte: zuvorderst die Hochachtung der Familie und der älteren Generation. Seit sechs Jahren besitzen die deutschen Sinti und Roma den gesetzlichen Status einer nationalen Minderheit. Das hat leider wenig bewirkt. Wir schaffen es – politisch und gesellschaftlich – immer noch nicht, die Sinti und Roma als Mitbürger voll zu respektieren und ihnen gleichwertige Chancen zu eröffnen. Und mit gleichwertigen Chancen meine ich reelle Lebensperspektiven, für die nicht die Identität preisgegeben werden muss. Sinti-und-Roma-Kinder haben oft eine geringere Schulausbildung als andere Deutsche und damit später schlechtere Berufsaussichten. Die Folge ist der bekannte Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Armut und Zurücksetzung. Wer über die Lage der deutschen Sinti und Roma spricht, formuliert Handlungsaufträge an die Bildungspolitik, an die Sozialpolitik, an die Medien. Natürlich: Wo Menschen zusammenleben, tauchen Probleme auf. Da sollte man sich nichts vormachen. Konflikte und Übertretungen zu beschönigen oder unter den Teppich zu kehren, ist kontraproduktiv. Aber das individuelle Fehlverhalten Einzelner darf nicht auf die ganze Gruppe projiziert werden. Pauschale Diffamierungen sind Rassismus. Jede und jeder kann beitragen, das beziehungslose Nebeneinander zu durchbrechen. Ein Miteinander lässt sich nicht verordnen. Es muss sich entwickeln. Von beiden Seiten her! Der „Landesverband Deutscher Sinti und Roma“ leistet insoweit Hervorragendes. Ich bitte die Sinti und Roma, nicht nachzulassen und – wo immer sich Gelegenheiten bieten – bewusst zu zeigen, dass sie sich nicht einigeln, dass sie Teil des Gemeinwesens sein wollen und dass ihnen dessen gedeihliche Entwicklung wichtig ist. Gerade das Recht auf Verschiedenheit entfaltet sich bloß in einem größeren Kontext. Der Kerngedanke indessen lautet: Die Humanität jeder Gemeinschaft erweist sich darin, wie sie mit den Minderheiten und den Schwachen umgeht. Das gilt auch für die Europäische Union. „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“ – so steht es im Entwurf des „Vertrages über eine Verfassung für Europa“. Und das heißt: Die EU und alle Mitgliedstaaten müssen sich um ihre Minderheiten engagiert kümmern und sie sensibel integrieren. Acht Millionen Sinti und Roma leben in Europa. Sie sind die größte Minderheit der europäischen Völkerfamilie. Ihnen fehlt jedoch eine verlässliche Lobby. Kein Staat tritt für sie als Anwalt auf. Dabei umfasst das Selbstverständnis der Sinti und Roma viele jener Intentionen, von denen die europäische Einigung getragen wird: Frieden – die Sinti und Roma haben nie Krieg geführt oder sich zu chauvinistischen Irrungen hinreißen lassen. Freiheit – politische Grenzen waren ihnen nie wichtig. Und vor allem: Einheit in Vielfalt – dafür gibt es kaum ein besseres Beispiel als die Sinti und Roma. Trotzdem fristen sie namentlich in den aktuellen und in den künftigen EU-Beitrittsländern ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Arbeitslosenquoten von achtzig oder neunzig Prozent sind dort eher die Regel denn die Ausnahme. Viele Sinti und Roma vegetieren am Existenzminimum. Elendssiedlungen, schlechte Ernährung, unzureichendes Gesundheitswesen, Drogenprobleme, Analphabetismus – die trostlose Wirklichkeit ist bedrückend. Sie genügt nicht ansatzweise den Maßstäben, die durch die EU-Verfassung gesetzt werden. Notwendig ist eine ganzheitliche Volksgruppenpolitik, die Benachteiligungen entschieden bekämpft und die soziale Spannungen mit intelligenten Maßnahmen entschärft. Sehr fruchtbar sind arbeitsmarkt- und bildungspolitische Projekte, wenn sie in den allgemeinen Reform- und Ausbauprozess eingebunden werden. Die Sinti und Roma müssen daran als akzeptierte Partner auf Augenhöhe mitwirken und gleichzeitig ihre Kultur unbeeinträchtigt pflegen können. Am nachhaltigsten ist Hilfe zur Selbsthilfe. Funktionierende Beispiele existieren. Das sollte ermutigen. Mögen die Sinti und Roma in Osteuropa erkennen: Es lohnt sich, das verständliche Misstrauen gegen staatliche Institutionen zu überwinden und auf eine moderne Schul- und Berufsausbildung zu setzen. Für Osteuropa, für uns in Deutschland und für alle anderen gilt: Keine Zurücksetzung heute wird durch Reformen oder ein geläutertes Verhalten morgen wettgemacht. Das fängt im Kleinen an: Ignoranz ist eine subtile Form von Stigmatisierung. Echte Toleranz verlangt, Interesse zu entwickeln. Dazu lädt das „Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma“ ein. Auch wir werden spüren, wie der Besuch den persönlichen Horizont erweitert. Und wir werden sehen, dass das vermeintlich Fremde gar nicht so fremd ist. Es liegt an uns, für diese wohltuende Erfahrung zu werben. Machen wir uns zu Multiplikatoren der Möglichkeit hier in Heidelberg, Voreingenommenheit zu entsorgen und Wissen zu tanken. Tätige Erinnerung ist gelebte Ethik. Und nur durch tätiges Erinnern erfüllen wir das Versprechen, das in den beiden Worten steckt: Nie wieder! Rassismus und Rechtsradikalismus erledigen sich nicht von allein. Wer darauf hofft, der irrt. Das schamlose, widerliche Verhalten der NPD am vergangenen Freitag im Sächsischen Landtag war ein Fanal. Hitlers Enkel und Urenkel fordern uns am zentralen Ort der Demokratie heraus – geschniegelt, borniert, professionell. Die Nazis in Nadelstreifen nähren damit den Verdacht, unser Land könne sich selbst moralisch nicht trauen. Das „Nie wieder“ ist jedoch der Grundstein unseres Gemeinwesens; und es war der Schlüssel zur Rückkehr in die Völkergemeinschaft. Wir müssen deshalb – zum einen – kritisch beleuchten, warum die Rechtsextremen neue Anhänger gewinnen bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und bei jungen Menschen, die noch ihre politischen Präferenzen suchen. Arbeitsplätze, Zukunftschancen, Partizipation und glaubwürdig vorgelebte Werte sind eben die kräftigste Schutzimpfung der Demokratie. Und – zum anderen – dürfen wir uns nicht scheuen, die Rechtsradikalen überall couragiert zu entlarven, wo sie schwadronieren, hetzen oder persönliche Sorgen instrumentalisieren. Carlo Schmid, einer der Väter unseres Grundgesetzes, hat es so formuliert: „Bringen wird den Mut auf zur Intoleranz denen gegenüber, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen". Dem ist nichts hinzuzufügen – außer ein entsprechendes Handeln!