Gedenkfeier des Landtags für die Opfer des Nationalsozialismus in Ulm

Präsident Peter Straub: Erinnerung leben als Verantwortung für das Heute und das Morgen Stuttgart/Ulm. Mit einer Gedenkfeier hat der baden-württembergische Landtag am Montag, 27. Januar 2003, im Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Gedenkrede von Landtagspräsident Peter Straub, der im Namen des Parlaments auch einen Kranz niederlegte. Die Rede Straubs hatte folgenden Wortlaut: >>Wir stehen auf einer Stelle des Terrors und des Todes. Wir halten inne; die Mauern schreien uns an; wir hören Stimmen der Gequälten. Leid, Pein und damit Verbrechen und Schuld – sie sind förmlich mit im Raum. Barbarei, Hass und Menschenverachtung – was hier einen seiner Ausgangsorte hatte, das können wir Nachgeborenen nicht wirklich erfassen. Unser Gedenken hier auf dem Oberen Kuhberg ist kein nachholender Widerstand – das wäre absurd. Unser Gedenken dokumentiert unseren Willen, die Erinnerung an das dunkelste Kapital unserer Geschichte als Verantwortung für das Heute und das Morgen zu leben. Der Obere Kuhberg war ein Ort, an dem sich die nationalsozialistische Diktatur in besonderer Weise manifestiert hat. Hier sehen wir, was geschieht, wenn von Staats wegen Terror ausgeübt und die Würde des Menschen außer Kraft gesetzt wird. Hier sehen wir, was geschieht, wenn die Entrechtung und Vernichtung von Menschen zu einem Staatsziel werden. Heute ist der Obere Kuhberg eine Stätte, an dem die geistigen und moralischen Grundlagen unseres freiheitlich demokratischen Rechts- und Sozialstaates gefestigt werden. Hier wird nicht nur die bestialische Niederträchtigkeit des NS-Regimes entlarvt - hier findet jene politische Bildung statt, die es braucht, damit jede und jeder von uns Heutigen für Menschenwürde und Demokratie eintritt. Ich möchte deshalb allen Dank und Anerkennung aussprechen, die den Oberen Kuhberg mit dauerhaftem Engagement und unbeugsamer Leidenschaft als Ort pflegen, an dem wir alle unser staatsbürgerliches Bewusstsein festigen und vertiefen können. Von dieser Selbstvergewisserung, die zu allererst eine Selbstprüfung sein muss, dürfen und können wir uns nicht dispensieren. Albert Einstein – der große Sohn der Stadt Ulm - hat den mahnenden Satz hinterlassen: „Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben - nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die daneben stehen und sie gewähren lassen“. Und dieser Satz ist zeitlos gültig. Auch wir sind davon unmittelbar angesprochen. Denn jeder Extremismus lebt davon, dass es ihm gelingt, die Menschen – sprich: die große Mehrheit – gleichzuschalten. Gleichzuschalten im Denken, im Handeln und auch im Fühlen. Der Nationalsozialismus hat dazu kühl berechnete und diabolisch angewendete Strategien und Mechanismen benutzt. Strategien und Mechanismen, gegen die es keine angeborene Resistenz gibt. Die von den Nazis als Waffe gebrauchte Wendung vom „gesunden Volksempfinden“ ist ein anschauliches Beispiel dafür. Und zwar auch ein Beispiel, das bis zu uns herüberreicht. Denn wer hat nicht schon einmal gehört, dass mit dem „gesunden Volksempfinden“ argumentiert worden ist? Und bei wem von uns haben da die Alarmglocken geschrillt? Richten wir also stets einen scharfen Blick auf uns selbst. Und fragen wir mit gnadenloser Ehrlichkeit uns, wo wir in der Fratze der Diktatur entstellte Züge unseres eigenen Gesichts erkennen. Extremismus heißt, dass alle ausgeschaltet werden, die sich nicht gleichschalten lassen, die sich nicht unterordnen, die standhaft bleiben, die sich nicht von ihren politischen oder religiösen Überzeugungen lossagen. Die Nazis machten mit diesem Eliminieren - sofort und brutal - Ernst. Der Obere Kuhberg zeugt davon: Hier landeten die, die sich nicht gleichschalten oder mundtot machen ließen. Wenn wir heute für uns nach Orientierung oder Vorbildern suchen, dann finden wir sie in den Lebenswegen und Schicksalen dieser Menschen. Es ist eine moralische Pflicht und es ist ein Dienst an uns selbst und erst recht ein Dienst für unsere Kinder, jedes einzelne Schicksal genau und umfassend zu beleuchten, zu bewahren und zu überliefern. Wir geben so den Opfern ihre individuelle Würde zurück. Und wir erfahren vor allem den Wert von Gerechtigkeit und Toleranz nicht auf einer hohen Abstraktionsebene, im Akademischen der Geschichtswissenschaft – wir erfahren den Wert von Gerechtigkeit und Toleranz ganz konkret, auf der Ebene unseres menschlichen Lebens. Um ethische Überzeugungen, die von einzelnen Menschen mutig und unbeugsam gelebt worden sind – darum geht es, wenn wir auf dem Oberen Kuhberg an die Opfer des Nationalsozialismus und an den Widerstand gegen Hitler erinnern. Wir erkennen dabei: Ethische Überzeugungen gewinnen ihre Bedeutung nicht dadurch, dass wir sie proklamieren - sie zählen erst, wenn wir unser Handeln danach ausrichten. Und wir erkennen noch etwas – etwas, das uns verschwindend klein werden lässt: Wir erkennen, dass Menschen aus ihrer religiösen Gewissheit oder aus ihren politischen Idealen eine übermenschliche Kraft beziehen konnten. Jene Kraft nämlich, die es brauchte, um in Kerkern schmachtend nicht mürbe zu werden, um Folterungen zu widerstehen, um selbst im Anblick des eigenen Todes nicht zurückzuweichen. Unsere Hochachtung, die sich in Worten nur schwer ausdrücken lässt, gilt deshalb allen, die um ihres Glaubens oder ihres politischen Bekenntnisses willen Verfolgung erlitten und die eher den Tod hinzunehmen gewillt waren, als sich zu beugen. Völlig verweigert haben sich den Ansprüchen des Hitler-Regimes als Religionsgemeinschaft nur die Zeugen Jehovas: Sie hoben die Hand nicht zum Hitler-Gruß; sie verweigerten den Eid auf "Führer und Staat" ebenso wie den Wehr- und Arbeitsdienst; ihre Kinder traten nicht in die Hitlerjugend ein. Die individuelle Akte des Widerstands waren Taten, die eine spezifische Stärke, ein besonders geschärftes Gewissen und einen unendlich festen Glauben erforderten. Früh, bereits im Jahre 1933, wurden die Zeugen Jehovas daher Opfer nationalsozialistischer Verfolgung: Sie verloren die Arbeitsstelle; sie gerieten in das Visier der Gestapo; sie wurden eingekerkert; sie wurden in den Tod der Konzentrationslager geschickt. Die Zeugen Jehovas, die als KZ-Häftlinge einen lila Winkel an der Kleidung tragen mussten, waren die Einzigen, die das Ende des Martyriums durch eigenes Handeln hätten herbeiführen können – es hätte genügt, ein Revers zu unterschreiben, in dem sie ihrem Glauben abschworen. Sie taten es nicht. Zwölfhundert Zeugen Jehovas wurden in den Konzentrationslagern ermordet, zweihundertfünfzig als Kriegsdienstverweigerer hingerichtet. Für das Bewahren ihres Bekenntnisses haben sie ihr Leben geopfert. Auch wenn die meisten von uns ihren Glauben anders leben als die Zeugen Jehovas – vor der Standhaftigkeit der Zeugen Jehovas gegenüber dem Nazi-Regime empfinden wir alle höchsten menschlichen Respekt. Obgleich die Zeugen Jehovas unerbittlich bekämpft wurden, fand ihr Verfolgungsschicksal in der Geschichtsschreibung bis in die 90er Jahre hinein leider nur wenig Interesse. Deshalb ist es mir wichtig gewesen, ihrem Schicksal heute hier an authentischem Ort auf dem Oberen Kuhberg - auch von Seiten des Landtags - besonderen Raum zu geben. Das eigentliche, das – menschlich wie politisch - übergreifende Vermächtnis des Oberen Kuhbergs liegt in den Zeugnissen des Mutes, der inneren Stärke und der Menschlichkeit derer, die sich der Herrschaft des Verbrechens widersetzt haben. Erst allmählich haben wir zu würdigen verstanden, dass in der dunkelsten Zeit viele Deutsche anders gedacht und auch anders gehandelt haben und dass es unsere Pflicht ist, dankbar an jene zu erinnern, die sich nicht haben beirren lassen. Dazu gehörten Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten; ebenso der christliche Widerstand; der Widerstand aus einer konservativen Haltung heraus; der - wenn auch späte - Widerstand in der Wehrmacht; der Widerstand einzelner, die allein versuchten, Hitler zu bekämpfen; und nicht zuletzt der Widerstand von jungen Menschen – wir denken hier in Ulm natürlich ganz besonders an die "Weiße Rose" und damit an die Geschwister Scholl. Wenn wir uns vollständig erinnern wollen, wenn wir unsere fortwährende Verantwortung wirklich wahrnehmen wollen, dann müssen wir uns - auch - ganz dezidiert an die Seite derer stellen, die zu Opfern des Nationalsozialismus geworden sind, weil sie widerstanden haben, weil sie nicht den bequemen Weg der Anpassung und des Gehorsams gegangen sind, weil sie dazu gebracht werden konnten, ihre Ideale zu verraten. Natürlich gedenken wir heute am 27. Januar in Trauer, Scham und Ehrfurcht aller Opfer des Nationalsozialismus. Immer wieder aufs Neue stehen wir fassungslos vor dem Unbeschreiblichen, vor den Zeugnissen des einzigartigen Menschheitsverbrechens. Die Dimension des Grauens und die vom gewissenlosen Staat organisierte pervers-perfekte Unmenschlichkeit – sie verschlagen uns die Sprache. Die Zahl der Ermordeten und Gepeinigten allein ist so ungeheuerlich, dass unsere Vorstellungskraft versagt. Es waren keine namenlosen Nummern, die den Verbrechen im Namen Deutschlands zum Opfer gefallen sind. Es waren Menschen: Es waren Juden, es waren Angehörige der slawischen Völker, es waren Sinti und Roma, es waren Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, politische Gegner, Nichtsesshafte, Behinderte, Homosexuelle. Der 27. Januar ist ein Tag der schmerzhaften Erinnerung. Freilich: Nur was nicht aufhört, wehzutun, das wirkt fort und gibt uns die Chance, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Christian Graf von Krockow hat es so formuliert: “Was wir schuldig sind, ist eine Anstrengung zum Verstehen, und es ist die Genauigkeit des Hinsehens. Denn jede Wiederkehr des Unmenschlichen wird sich tarnen. Sie wird unerwartete Orte suchen und Verkleidungen wählen, um als ehrbar zu gelten. Dabei ist entscheidend, dass wir rechtzeitig erkennen, was sich anbahnt.” Abstrakter ausgedrückt bedeuten diese Gedanken Christian Graf von Krockows: Eine wehrhafte Demokratie braucht ein starkes demokratisches Bewusstsein, das sich auch in der Bereitschaft äußert, Zivilcourage zu zeigen. Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur – das heißt, sich nie wieder dem Engagement für die Demokratie zu entziehen. Unser demokratischer Staat ist - wie die Römer es richtig sagten - eine "res publica", eine öffentliche Angelegenheit, die jede und jeden von uns angeht. Eduard Spranger, der große Tübinger Hochschullehrer, prägte dafür die Metapher vom „Gewissen für das Ganze“. Ja, es muss ein waches „Gewissen für das Ganze“ geben, damit unsere Grundwerte nie mehr außer Kraft gesetzt werden können. Politik, Elternhaus, Schule, Kirchen, Medien, die gesellschaftlichen Institutionen – allen ist es gemeinsam aufgetragen, für Freiheit und Demokratie zu streiten und die freiheitlich-demokratische Ordnung gegen alle Feinde zu verteidigen. Und das schließt meines Erachtens im Jahr 2003 ein, dass wir uns im Inneren entschlossener als bislang um die dringend notwendigen Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft kümmern. Denn ökonomische und soziale Krisen werden – wie wir aus bitterer Erfahrung wissen - leicht zum Nährboden für Intoleranz, Gewaltbereitschaft und Totalitarismus. Der Preis des Nichtstuns ist auch da schnell höher als der Preis des Handelns. „Nicht schon wieder Nationalsozialismus“ – der Titel der Szenen, die nachfolgend von der Theatergruppe des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums aufgeführt werden, ist deshalb nicht als Stoßgebet zu verstehen. „Nicht schon wieder Nationalsozialismus“ meint die politische und persönliche Aufforderung an uns alle, engagiert dazu beizutragen, dass die Fundamente unseres Gemeinwesens erhalten bleiben – die moralischen und ethischen Fundamente genauso wie die politischen ökonomischen und sozialen. Damit es nicht wieder geschehen kann – so oder anders!