Grußwort von Landtagspräsident Straub bei der Hauptversammlung des Städtetags Baden-Württemberg in Karlsruhe

Es gilt das gesprochene Wort! Karlsruhe. Unter dem Thema „Bildung – Erziehung – Betreuung“ hat am Montag, 7. Oktober 2002, in der Stadthalle in Karlsruhe die Hauptversammlung des Städtetags Baden-Württemberg stattgefunden. Bei dieser Veranstaltung hielt Landtagspräsident Peter Straub (CDU) folgendes Grußwort: >>Ich empfinde es als guten Brauch, dass der Präsident des Landtags auf der Hauptversammlung des Städtetags Baden-Württemberg in einem Grußwort allen die Reverenz erweist, die in den Städten des Landes haupt- oder ehrenamtlich Verantwortung tragen. Der eine oder andere Beobachter wird diesen Tagesordnungspunkt möglicherweise als Ritual charakterisieren. Auch das könnte ich freilich ertragen. Denn: Sind Rituale etwas Schlechtes? Helfen sie uns nicht durchs öffentliche wie durchs private Leben? Und sei es nur, weil sie uns miteinander verbinden, indem sie die Grundkoordinaten unseres Zusammenlebens wenigstens für einen Moment in den Blick rücken. Oder weil sie bewirken, dass wenigstens hin und wieder etwas gesagt wird, was sonst keine Resonanz findet in unserer beschleunigten Zeit, - in der - auch außerhalb von Wahlkämpfen - das Aufgeregte und das Vordergründige dominieren - und in der es nicht zuletzt deshalb oft ein verzerrtes Bild gibt von Ihrem politischen Tagwerk, meine Damen und Herren, in den Kommunen und besonders in den größeren Städten - wo ganz unmittelbar gilt: Das Lokale ist das Reale und damit ein Platz, an dem man sich nicht durch Verlautbarungen und Talkshow-Auftritte bewähren kann, sondern bloß durch brauchbare Entscheidungen und deren zügige Umsetzung. Selbst wenn es vielleicht – in Anführungszeichen – „nur“ als Ritual erscheint, so sage ich doch gerne: Dass wir in Baden-Württemberg – trotz der dunkeln Wolken, die auch über uns aufgezogen sind – relativ gut dastehen, beruht ganz wesentlich auf der Leistung der Kommunen und dem Engagement der Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker. In den Kommunen wird nicht nur die inzwischen zur Metapher gewordene "Graswurzel" der Demokratie gepflegt. Die Kommunen produzieren einen großen Teil unsere Lebensqualität; und sie sind mit die wichtigsten Strukturpolitiker. Und schon deshalb gibt es im Landtag keinerlei Dissens darüber, dass die kommunalen Belange auch auf EU-Ebene verfassungsrechtlich gewährleistet werden müssen. Die Kommunalen Landesverbände erwarten zu Recht und sie wachen natürlich sensibel darüber, dass sich diese soeben wieder artikulierte Wertschätzung in einem ständigen, konstruktiven und von parteipolitischen Rempeleien freien Dialog mit dem Landtag niederschlägt. Ich sage daher bewusst an die eigene Adresse: Eine kommunalfreundliche Politik zahlt sich aus – auch das ist eine Erfahrung von 50 Jahren Baden-Württemberg: Eine echte Partnerschaft mit den Städten, Gemeinden und Kreisen, eine Partnerschaft also, die das Subsidiaritätsprinzip sowohl durch faire Finanzierungsabsprachen als auch durch vertrauensvoll dimensionierte Gestaltungsmöglichkeiten praktisch werden lässt – eine solche Partnerschaft führt erwiesenermaßen zu hervorragenden Ergebnissen. Subsidiarität ist eine sehr erfolgreiche Form der verantwortungsbewussten Deregulierung - und das sollte gerade bei den Aufgaben zum Tragen kommen, denen diese Hauptversammlung des Städtetages schwerpunktmäßig gewidmet ist. Bildung, Erziehung, Betreuung – es ist eine gemeinsame Herausforderung aller politischen Ebene, hier – gemeinsam - neue, gut gemachte und nicht nur gut gemeinte Akzente zu setzen. Dass die kollektive Erregung über Ergebnisse der PISA-Studie im Laufe des Jahres schon ein paar Ermüdungserscheinungen gezeigt hat, besagt gar nichts angesichts der Gesetzmäßigkeiten unserer Mediengesellschaft. Vor allem darf sich die durch die PISA-Studie ausgelöste Debatte nicht in einer Endlosschleife drehen, die allein Bildungsplanern, Bildungsforschern und Funktionären Arbeit und Brot garantiert. Und mit Blick auf die Botschaften, die in den vergangenen Tagen aus Berlin zu uns gedrungen sind, fügt es sich daher hervorragend, dass der Städtetag Baden-Württemberg das Themenfeld Bildung, Erziehung, Betreuung auf der Ebene der Praktiker behandelt und dabei aktuelle Signale setzen kann. Als der Neutralität verpflichteter Landtagspräsident möchte nur – quasi als kleine Randbemerkungen – auf vier Aspekte hinweisen. Erster Aspekt: Durch das, was in der Fachsprache „Frühförderung“ heißt, werden entscheidende Fundamente gelegt für Lernbereitschaft und ein positives Sozialverhalten. Die Frühförderung ist jedoch gleichermaßen Aufgabe der Kindergärten, der Grundschulen und – ganz wichtig – der Eltern. Wenn Schüler übermüdet in der ersten Schulstunde oder morgens in der Kernzeitbetreuung erscheinen, braucht man die Ursache nicht beim Lehrer und bei der Betreuungskraft zu suchen. Und wenn Dreijährige vor dem Kindergarten statt eines Frühstücks Videos vorgesetzt bekommen, ist nicht die Erzieherin zu schelten. Das heißt: Eltern dürfen zuhause nicht die Zügel schleifen lassen – sie müssen sich wieder stärker für die Erziehung und Bildung und damit für die Zukunft ihrer Kinder verantwortlich fühlen. Und unter dem Stichwort „ sich verantwortlich fühlen“ sollte auch nicht unter den Tisch fallen, dass PISA deutlich gemacht hat: Wo Eltern sich aktiv und positiv mit dem Schulleben auseinandersetzen, sind weniger Defizite zu vermelden - und das dürfte eine Erkenntnis sein, die wohl vorbehaltlos übertragen kann auf das – in Anführungszeichen - „Kindergartenleben“. Der zweite Aspekt, den ich erwähnen möchte und der an den ersten unmittelbar anschließt, ist die Aufforderung, die Rolle der Bildung in unseren Kindergärten zu überdenken. Haben wir Politiker die Kindergärten zu sehr unter den Gesichtspunkten Betreuung und damit Dienstleistung für die Eltern wahrgenommen? Die Frage erscheint zumindest nicht ganz unberechtigt. Es geht natürlich nicht um die Verschulung der Kindergärten - es geht um die Förderung des frühen Lernens mit seinen spezifischen Chancen und Möglichkeiten. Also zu lernen, wie spannend es ist, die Welt zu entdecken. Zu lernen, sich Ziele zu setzen und daran konzentriert zu arbeiten. Zu lernen, sich um andere Kinder zu kümmern. Oder auch - spielerisch - die motorischen Fähigkeiten zu entwickeln. Der dritte Aspekt, den ich ansprechen möchte, ist die mangelhafte Sprachkompetenz unserer Kinder. Als Politiker sollten wir schon überlegen, ob die Sprachohnmacht allein den fremdsprachigen Elternhäusern und der dramatisch geringen Minutenzahl von Sprechkontakten zwischen Eltern und Kindern in vielen deutschsprachigen Familien zugeschrieben werden kann. Oder tragen auch wir zu diesem verhängnisvollen Defizit bei durch hehre Ziele wie "An jeden Schülerplatz einen Computer!" oder wie "Schulen ans Netz"? Natürlich müssen wir unseren Kindern die so genannte Medienkompetenz vermitteln. Natürlich darf es dabei kein soziales Gefälle geben. Und natürlich sagen einige Wissenschaftler, dass Grundschüler soziales Verhalten – insbesondere gegenseitiges Helfen – einüben können, wenn ihnen - im Sinne eines Zusatzangebotes – in Gruppen der Umgang mit Computern ermöglicht wird. Aber machen wir uns nichts vor: Die Gefahr besteht, dass unsere Kinder verführt werden, am PC „sprachlos“ die virtuelle Welt zu betrachten. Sprachlos nicht nur im Sinne von fasziniert - sprachlos eben auch im Sinne von stumm. Sprachloses Lernen ist aber Konditionierung. Und mangelnde Sprachkompetenz bedeutet: Es fehlt das Werkzeug zum Denken. Oder um Heidegger zu zitieren: „Die Sprache ist das Haus des Seins“. Als vierten Aspekt möchte ich auf den Punkt hinweisen, dass unsere Innovationen so vielfältig sein müssen, wie es die Lebensbedingungen der Eltern und Kinder in der Realität sind. Bildungssysteme anderer Staaten zu imitieren oder gar einzelne Bausteine als alleinige Heilmittel für die erkannten Defizite unserer Schülerinnen und Schüler anzusehen und einfach zu kopieren, wird daher eher nicht der richtige Weg sein. Feststellen dürfen wir indessen, dass sehr gute Gründe für den Erhalt dezentraler Strukturen sprechen: Staaten wie die Schweiz, Australien oder Kanada zeigen, wie erfolgreich und konstruktiv ein föderales Bildungswesen gestaltet werden kann. Allerdings gilt auch: In Ländern, die bei PISA erfolgreich waren, haben Bildung und Erziehung eine höhere Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext als bei uns. Langer Rede kurzer Sinn: Gerade im Themenfeld Bildung, Erziehung und Betreuung sind die Probleme facettenreich – weshalb sie facettenreiche und vor allem aus der ständigen Berührung mit der Lebenswirklichkeit entwickelte Lösungen erfordern. Das heißt nicht zuletzt – und ich bekräftige es gerne: Die Hauptsammlung des Städtetages als Konvent von Pragmatikern, die dem Urteil der Realität sehr intensiv unterworfen sind, ist ein hervorragender Ort, um über Bildung, Erziehung und Betreuung fruchtbar zu diskutieren. Und deshalb möchte ich die gute Übung oder – je nach Gusto – das Ritual meines Grußwortes nicht überstrapazieren und nur noch eines tun: der Versammlung einen interessanten Verlauf wünschen, so dass Sie, meine Damen und Herren, viele Anregungen und Argumente mitnehmen können in die Städte unseres Landes - auch und gerade für die anstehenden kommunalen Haushaltsberatungen und für das dabei - leider verschärft - notwendige Abwägen, was die einzelnen gesellschaftlichen Anliegen in der Konkurrenz mit anderen konkret und in Zahlen ausgedrückt "wert" sind.