Landtagspräsident Guido Wolf: Zeichen setzen für Geschichtsbewusstsein und Zivilcourage

Stuttgart. Mit einer zentralen Gedenkfeier im Plenarsaal, der ein stilles Gedenken mit Kranzniederlegung am Mahnmal neben dem Stuttgarter Alten Schloss vorausging, hat der Landtag von Baden-Württemberg am Freitag, 27. Januar 2012, an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Dieser Gedenktag anlässlich der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 67 Jahren dürfe nicht zum seelenlosen Ritual werden, betonte Landtagspräsident Guido Wolf (CDU) in seiner Gedenkrede. Gerade unter dem Eindruck des wieder verstärkt zu Tage tretenden Rechtsradikalismus sei es wichtig, ein Zeichen zu setzen für Geschichtsbewusstsein und Zivilcourage. „Uns ist aufgegeben, die Erinnerung an die Terrorherrschaft des Nationalsozialismus und die Schoa wachzuhalten, also durch Faktenwissen das Gewissen zu schärfen, Zusammenhänge zu benennen und Schuld einzuräumen“, sagte der Präsident. „Wir haben vergangenen Herbst erfahren müssen, dass es in Deutschland möglich war, über eine Dekade lang eine Serie kaltblütiger, rassistisch motivierter Morde zu begehen“, beklagte der Landtagspräsident. Zudem sei Anfang dieser Woche eine Expertenstudie vorgestellt worden, wonach ein Fünftel der Bevölkerung offen oder latent judenfeindlich sei. „Wir dürfen unsere Gesellschaft nicht für vollständig geläutert halten“, folgerte Wolf. Der braune Ungeist lebe bestens vernetzt und vielgestaltig weiter – in Springerstiefeln genauso wie in feinem Zwirn. Viele schauten bisweilen nicht genau genug hin. Und aus Erkenntnissen folgten nicht immer konsequent die notwendigen Handlungen; selbst staatliche Organe versagten. Die Menschheitsverbrechen der Nazis seien Verbrechen an Menschen gewesen – „an Menschen wie ich und Du“, so Wolf. „Wir müssen an ihr Schicksal erinnern – an ihr Martyrium und wie es dazu gekommen ist. Wir müssen aber ebenso an ihr Leben erinnern“. Diese Menschen seien nicht geboren worden, um zu leiden – um so zu sterben. Wer sie als Individuen vergesse, wer bloß die monströsen Statistiken sehe, der verfehle den Sinn des Gedenkens. „Erinnern heißt zuvörderst, den Kampf mit den unfassbaren Zahlen aufzunehmen, Lebensspuren zu suchen, um die Würde des Einzelnen wiederherzustellen“, meinte Wolf. Wie der Landtagspräsident weiter ausführte, „darf unsere dunkle, schuldbeladene Vergangenheit nicht in den Geschichtsbüchern verschwinden“. Sie müsse gleichsam dreidimensional präsent bleiben und feste Adressen haben. Dafür sorgten die Gedenkstätten als Kristallisationspunkte und Impulsgeber eines nachhaltigen Erinnerns. Gedenkstätten wahrten Tat- und Leidensorte, zumindest deren Überreste. Die Marter verschwinde nicht im Medialen oder Virtuellen. Gedenkstätten höben räumlich und damit auch innerlich die Distanz auf. Baden-Württemberg könne sich deshalb glücklich schätzen, dass es hier inzwischen 66 Gedenkstätten gebe, machte der Landtagspräsident deutlich. Die meisten dieser Stätten seien durch lokale bürgerschaftliche Initiativen entstanden. Ihre Leitung und ihr Betrieb seien in der Regel ehrenamtlich organisiert. Wolf: „Die einzelnen Gedenkstätten und erst recht ihre Summe sind deshalb imposante Manifestationen der Zivilgesellschaft.“ Allen Verantwortlichen, Mitarbeitern und Unterstützern der baden-württembergischen Gedenkstätten sprach er den Dank und die Hochachtung des Landtags aus. Darüber hinaus kündigte er an, dass die Fördermittel für die Gedenkstättenarbeit im neuen Haushalt verdoppelt würden. Dies sei als politische Zukunftsinvestition zu sehen, denn die Gedenkstätten gehörten zum Rückgrat und zu den Kraftquellen der wehrhaften Demokratie. Das Grundgesetz ist laut Wolf „die Verfassung gewordene Lehre aus der Nazi-Despotie, deren Verbrechen und deren Vorgeschichte“. Aber sämtliche juristischen und institutionellen Sicherungen genügten nicht, Freiheit und Demokratie bräuchten einen vorgelagerten Schutz. „Jede Bürgerin und jeder Bürger ist persönlich aufgerufen, unsere Verfassung, die darin verbrieften Menschenrechte und damit unsere Mitmenschen zu verteidigen. Substanziell betrachtet sind wir alle die eigentlichen Verfassungsschützer“, schloss der Landtagspräsident.
Der Rede Wolfs folgte ein Vortrag der Konstanzer Universitätsprofessorin Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann zum Thema „Die transformatorische Kraft der Erinnerung“. Anschließend berichteten sogenannte Jugendguides der Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen über ihre Arbeit. Nach der Gedenkstunde, die von Preisträgerinnen und Preisträgern des Karl-Adler-Jugendmusikwettbewerbs Baden-Württemberg musikalisch umrahmt wurde, präsentierten sich die Opferorganisationen in der Lobby des Landtags mit Infoständen. Zudem widmete sich eine Ausstellung der vielfältigen Gedenkstättenkultur in Baden-Württemberg.