Landtagspräsident Straub beim Jahresempfang der Evangelischen Landeskirchen: Eine Kultur der Mitverantwortung braucht die Kirchen und deren spezifischen Sinn- und Deutungshorizont

Pforzheim. Beim Jahresempfang der Evangelischen Landeskirche in Baden und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg am Dienstag, 21. November 2000, in der Pforzheimer Stadthalle hielt der Präsident des Landtags von Baden-Württemberg Peter Straub (CDU) folgendes Grußwort: >>Vom früheren württembergischen Landesbischof Wurm stammt der zeitlose gültige Satz, dass die Kirche von ihrem Herrn nicht in den Winkel, sondern in die Öffentlichkeit verwie-sen ist. Eine wichtige Facette dieses Auftrags, in Politik und öffentlichem Leben zu wirken, stellt der gemeinsame Empfang der Evangelischen Landeskirchen dar - auch und gerade dann, wenn er nicht in der Landeshauptstadt stattfindet. Der Landtag nimmt die Möglichkeit zur Begegnung - unabhängig vom Veranstaltungsort - stets gerne wahr, zumal sie Gelegenheit gibt, den Kirchen ausdrücklich Wertschätzung und Dank zu bekunden: - Wertschätzung für die Mitwirkung an der res publica; - und Dank für einen Dialog, der geprägt wird von der Bereitschaft zum gemeinsamen Suchen, aber ebenso vom Bewusstsein, dass das Evangelium auf die sehr konkreten Fragen des politischen Alltags selten direkte Antworten gibt. Der besondere Respekt des Landtags schließt dabei die Diakonie und die Kirchengemein-den ein: Die Diakonie gehört den Kräften, die aus Baden-Württemberg ein soziales Land machen. Denn wie ein Land sozial ist, hängt nicht nur von den Haushaltsansätzen des So-zialministeriums ab, sondern vom praktizierten Selbstverständnis der sozialen Dienste. Und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Diakonie wird Tag für Tag ein Men-schenbild gelebt, das - bei allem Zwang zur Wirtschaftlichkeit und bei aller Bereitschaft zur Kundenorientierung - im Menschen vor allem eines sieht: den Nächsten! Und ohne die Kirchengemeinden würde dem Gemeinschaftsleben in den 1111 Kommunen Baden-Württembergs nicht nur quantitativ Entscheidendes fehlen. Die vom Ehrenamt getragenen Angebote der Kirchengemeinden zur mitmenschlichen Hil-feleistung, zur Bildung und Erbauung, zum Aktivwerden und Geselligsein sind nämlich nicht verstaubt oder moralinsauer, sondern so vielgestaltig und so interessant wie unser Leben. Trotzdem gilt auch für das, was die Kirchengemeinden leisten: Je länger etwas besteht, desto mehr hält man es für selbstverständlich - und deshalb war es mir ein besonderes Anliegen, diesen Aspekt besonders zu würdigen. Die Worte der Wertschätzung können freilich eine Sorge nicht überdecken - die Sorge nämlich, dass Kirchen und Politik - bei aller Verschiedenheit ihrer Aufgaben - als klassi-sche Institutionen immer weniger Einfluss auf den Lauf der Welt haben und dass ihre Brücken zu manchen Bereichen der Realität brüchig geworden sind. Dem personalen Menschenbild und einer darauf aufbauenden Gesellschaftsethik steht nicht mehr eine institutionelle Übermacht entgegen; wir empfinden im Gegenteil eine Ohn-macht der etablierten Institutionen. Die technischen und ökonomischen Entwicklungen fördern den Glaubens- und Überzeu-gungsverlust und lassen die Emanzipation des Einzelnen fortschreiten. Flexibilisierung, Individualisierung, Institutionenverdruss, Orientierungslosigkeit speisen sich gegenseitig: Der freie Markt ist - um Erhard Eppler zu zitieren - moralisch nicht an-sprechbar; Lebenssinn lässt sich nicht aus dem Internet beziehen; und wer nur auf den Augenblick konzentriert ist, wer nur Konsum und Spaßerlebnisse kennt, der verliert das Verständnis für Werte und Normen. Natürlich: Wenn der Reiz des Neuen verflogen ist, wenn die Wirklichkeit mit ihren Schat-tenseiten den frisch geduschten Zeitgeist eingeholt und etliche Verheißungen relativiert hat, dann wird manches Faszinosum an Huldigung einbüßen: - die virtuelle Welt zum Beispiel - oder das Börsenzocken - oder die Privatisierung der Daseinsvorsorge - oder das Liberalisieren als Selbstzweck - oder das Ökonomische als alleiniger Maßstab. Aber: Dass die - in Anführungszeichen - "Macht" der etablierten Institutionen im Zeitalter der Globalisierung tendenziell schrumpft, sollten wir nicht leugnen. Und das bedeutet: Ein Kernelement jener neuen Kultur der Selbständigkeit, von der wir so gerne und so oft sprechen, muss die Bereitschaft zur persönlichen Mitverantwortung sein - einer Mitverantwortung, die erwächst aus dem Wissen, dass niemand alleine zu existieren vermag. Gemeinschaft als menschliche Existenzvoraussetzung fordert vom Einzelnen, sich einzu-bringen in ein gemeinsames Verständnis vom Menschen, vom menschlichem Leben, vom gesellschaftlichen Zusammenleben. Es geht um die erneuerte Akzeptanz eines Grundwertekanons; es geht um den aktiven Willen, auf dessen Basis die Zukunft des Gemeinwesens mitzuverantworten; es geht um eine Kultur der Mitverantwortung als Gegenentwurf zu desintegrierenden Egoismen ebenso wie zu integrationsunwilligen Parallelgesellschaften. Anders bleibt ein Gemeinwesen nicht stabil - und auch nicht offen und tolerant. Die Verfassung, das Recht, die Herrschaft des Rechts, die Demokratie und deren Verfah-ren können eine Kultur der Mitverantwortung nur zum Teil gewährleisten. Achtung des Anderen als gelebte Gleichheit, Toleranz, Rücksichtnahme, Solidarität, Mäßi-gung, Einsatzbereitschaft - vieles entzieht sich der Verrechtlichung. Und damit stellt sich die Frage der Vermittlung. Bildung darf nicht bloß Faktenwissen zum Lösen technischer Aufgaben erschließen. Notwendig sind Mehrsprachigkeit, Charakterbil-dung sowie die Fähigkeit zur Kommunikation und zum Diskurs zwischen Menschen und Gruppen. Und vor allem: Was soll's? Was bringt's mir? - nicht zuletzt solch banale Fragen müssen beantwortet werden können. Und das wird nicht gelingen, ohne Grundlegendes zu revitalisieren: - die Einsicht in die Endlichkeit irdischer Existenz - und das Bewusstsein dafür, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, die über ein rein säkulares Verständnis der Welt hinausweisen. "Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein”, hat Andre Malraux einst gesagt. Wer sehen will, der sieht, dass Malraux Recht hat. Eine Kultur der Mitverantwortung braucht die Kirchen und deren spezifischen Sinn- und Deutungshorizont. Jenseits der traditionellen, leider abnehmenden Bindungen liegt die Kraft der Kirchen mei-nes Erachtens, - in der Bereitschaft zur theologischen Klarheit gegen mancherlei Nivellierungsversuche; - in der Unterscheidung zwischen Letztem und Vorletztem, die wir Dietrich Bonhoeffer verdanken; - in der Haltung eines Christenmenschen, der auf sein Glaubensfundament vertraut und sich mit Zuversicht, Selbstbewusstsein, Offenheit und fröhlicher Dankbarkeit auf die Welt einlässt; - und nicht zuletzt im Vorbild Martin Luthers, der noch im Angesicht des unmittelbar be-vorstehenden Weltuntergangs etwas ökonomisch völlig Unsinniges tun wollte, nämlich einen Apfelbaum pflanzen. Ich bin sicher, die Begegnungen und Gespräche des heutigen Abends werden von dieser Kraft der Kirchen ein eindrucksvolles, nachwirkendes Zeugnis ablegen.