Landtagspräsident Straub: Zuwanderungsdruck aus Afrika ist ein gesamteuropäisches Problem
Grußwort anlässlich eines Vortragsabends mit Professor Dr. Theodor Hanf Es gilt das gesprochene Wort! Stuttgart. „Afrika - Nachbarkontinent Europas“ lautete das Thema eines Vortrags, den der Direktor des Arnold Bergstraesser Instituts Freiburg, Professor Dr. phil. Theodor Hanf, am Mittwochabend, 21. Januar 2004, im Landtag hielt. Zuvor hatte Landtagspräsident Peter Straub (CDU) den Redner sowie die zahlreichen Gäste mit folgenden Worten begrüßt: >>Der Bundeskanzler besucht in dieser Woche vier afrikanische Staaten. Afrika findet damit viel mediale Beachtung. Aufgrund der geringen Halbwertzeit öffentlicher Aufmerksamkeit steht allerdings zu befürchten: In vierzehn Tagen kann man die Metapher vom „vergessenen Kontinent“ wieder sehr wörtlich nehmen. Denn es gilt leider: Afrika ist im Mikrokosmos des deutschen Alltags meist nur dann angesagt, wenn der gleichnamige Mega-Hit der Gruppe Toto im Radio läuft oder wenn prächtige Bilder exotischer Tiere in den afrikanischen Nationalparks über unsere Bildschirme flimmern. Ein Beobachter meinte einmal, dass man als Fernsehkonsument einfach überfordert werde von der Dimension der Armut, von der Quantität des Leidens – Stichworte Ebola oder Aids – und von der Qualität des Horrors, der unser Vorstellungsvermögen übertrifft. Dieser Befund ist nicht von der Hand zu weisen. Zumal uns manche Details erst recht abstumpfen lassen – beispielsweise die Facette, dass selbst das Erdölland Nigeria Entwicklungshilfe erhielt. Ja, wir fühlen uns schnell irgendwie berechtigt, nicht hin-, sondern wegzuschauen. Wir verkennen aber dabei zum Beispiel, dass Millionen in Afrika bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um Europa zu erreichen. Wohlgemerkt: Europa, also auch Stuttgart und Berlin, nicht bloß Süditalien oder Südspanien. Mit anderen Worten: Dieser Zuwanderungsdruck ist ein gesamteuropäisches Problem, mithin auch unser Problem. Ähnliches gilt übrigens für den Gürtel des Islamismus, der von Ostafrika bis zu den Maghreb-Staaten zu entstehen droht. Als umso erfreulicher empfinde ich deswegen, dass die Einladung zum heutigen Vortragsabend „Afrika – unser Nachbarkontinent“ eine derart bemerkenswerte Resonanz gefunden hat. Wir sind dabei keine Trittbrettfahrer der Kanzlerreise. Wir haben uns nicht versammelt, weil es in dieser Woche angesagt ist, sich mit Afrika zu befassen. Angesichts des – neu deutsch ausgedrückt – strukturellen Desinteresses gegenüber Afrika ist das Haus des Landtags von Baden-Württemberg in den nächsten Stunden vielmehr eine „Enklave des echten Interesses“. Und deshalb möchte ich Sie, meine Damen und Herren, herzlich begrüßen mit einem Bonmot aus meinem Zitatenvorrat, das ich mir für einen besonderen Anlass aufgespart habe. Dieses Bonmot stammt von Ralph Waldo Emerson und lautet: „Freunde, die ein Haus besuchen, sind dessen Zierde.“ Besonders herzlich willkommenen heiße ich natürlich die drei Akteure des heutigen Abends. An erster Stelle selbstredend Sie, verehrter Herr Professor Hanf. Es freut mich wirklich sehr, dass wir Sie als Referenten gewinnen konnten. Denn kaum ein deutscher Wissenschaftler genießt in Afrika und auch im Nahen Osten ein höheres Ansehen als Sie. Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts in Freiburg, Direktor des UNESCO-Instituts Centre des Sciences de l'Homme in der libanesischen Stadt Byblos, Hochschullehrer an den Universitäten in Frankfurt am Main und Freiburg, Ehrenprofessuren zum Beispiel in Stanford und Kinshasa, Mitglied in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien sowie im Wortsinne Wissenschaftler, sprich: jemand, der durch empirische Forschung Erkenntnisse gewinnt, nicht allein diese eindrucksvolle Tätigkeitsliste begründet Ihren Ruf und Ihren Einfluss. Entscheidend ist vielmehr Ihre Fähigkeit, im Kantschen Sinne Frieden zu stiften und das zu fördern, was für eine gedeihliche Entwicklung unverzichtbar ist – nämlich: Interessenausgleich, Demokratie, Bildung und das Entstehen einer Zivilgesellschaft. So gaben Sie mit der von Ihnen 1978 initiierten Titisee-Konferenz einen der grundlegenden Impulse für jenen Prozess, der in Südafrika schließlich zu einer Regierung nationaler Einheit führte. Als zweiten Akteur begrüße ich Sie, verehrter Herr Dr. Hirsch. Sie haben sich dankenswerterweise bereit erklärt, die anschließende Diskussion zu moderieren. Damit ist auch diese Rolle höchst kompetent besetzt. Denn Sie leiten den Arbeitsbereich Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Evangelischen Akademie Bad Boll und befassen sich speziell mit der interkulturellen Kommunikation, dem interkulturellen Lernen sowie mit den Folgen der Globalisierung. Und ich denke, Ihnen ist es heute Abend über das eigentliche Thema hinaus wichtig, zu zeigen, dass die Evangelische Akademie Bad Boll trotz der angekündigten herben Sparmaßnahmen ein Motor des gesellschaftlichen Diskurses bleiben möchte – und zwar vermehrt auch als Dienstleister außerhalb der klassischen Tagungsarbeit. Last, but not least begrüße ich Sie, verehrter Herr Dr. Schmid. Sie waren der Anstoßgeber für diesen Vortragsabend; und Sie werden uns gleich in die Thematik detailliert einführen. In den vergangenen zwölf Jahren haben Sie die Stiftung Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg zu dem gemacht, was sie heute ist: ein anerkanntes Kompetenzcenter für eine praktisch wirksame und nachhaltige Entwicklungspolitik. Sie erschließen, veredeln und vernetzen vorhandenes Engagement. Und Sie sorgen dafür, dass die ausgebrachten Saaten aufgehen. Vor allem gilt: Die Stiftung Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg kann sich an den eigenen hohen Ansprüchen messen lassen. Deshalb nutze ich die Gelegenheit gerne, Ihnen und Ihrem Team, verehrter Herr Dr. Schmid, Dank und Anerkennung auszusprechen für Ihr erfolgreiches Wirken im Dienste unserer gemeinsamen Verantwortung für die E I N E Welt, in der wir leben. Meine Damen und Herren, die Meerenge von Gibraltar ist 20 Kilometer breit; Tunesien und Sizilien liegen 150 Kilometer auseinander; und von Tunis nach Frankfurt beträgt die Flugzeit gerademal zweieinhalb Stunden. Das heißt: Zwischen Afrika und Europa kann es keinen Cordon sanitaire geben – weder räumlich und schon gar nicht im übertragenen Sinn. Wir müssen uns dem großen Nachbarn im Süden stellen – seinen immensen Problemen ebenso wie den ansatzweise erkennbaren positiven Entwicklungen, die noch Sämlinge sind, die aber zu fruchttragenden Bäumen werden können. Das erfordert von uns eine doppelte Bereitschaft: die Bereitschaft zu vielfältiger Selbstkritik und die Bereitschaft zu echter Partnerschaft. Da ist zum Beispiel die Mitverantwortung der Industrienationen an den zahllosen Kriegen und ethnischen Konflikten, die eines gemeinsam haben: Sie werden mit Waffen aus dem Norden geführt. Und diese Waffen wiederum werden finanziert durch Diamanten und Gold in den Schaufenstern unserer Juwelierläden und durch kongolesisches Coltan beziehungsweise Tantal in unseren Handys, Laptops und Spielkonsolen. Da sind zum Beispiel die Agrarsubventionen, die Millionen afrikanische Bauern in den Ruin treiben. Schwarzafrika produziert heute summa summarum weniger Lebensmittel für den Eigenbedarf als vor zehn Jahren. Da ist als weiteres Beispiel die Schuldenfalle, in der die meisten afrikanischen Länder sitzen und aus der sie wohl nur durch ein internationales Insolvenzverfahren befreit werden können. Und da sind zum Beispiel die ungenügende Informationsinfrastruktur, die Benachteiligung beim Zugang zum Internet. Die digitale Spaltung der Welt geht besonders zu Lasten Afrikas. Das alles und noch viel mehr dürfen wir nicht leugnen – auch wenn es unserem Selbstbild widerspricht. Andererseits sollten wir jene positiven Ansätze sehen, die es auch – und gottlob immer mehr – gibt. In der Vergangenheit hat Afrika – aus nachvollziehbaren Gründen – die Verantwortung für viele seiner Probleme auf den Kolonialismus abgeschoben. Inzwischen wächst der politische Wille in Afrika, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und eine wirkliche Eigenentwicklung anzustoßen. Dass sich die Länder des Südens auf der Welthandelskonferenz im vergangenen September in Cancun zum ersten Mal einmütig den Forderderungen der Industriestaaten widersetzten, ist ein Ausdruck dieses neuen Denkens gewesen. Ein anderes Signal sind die politischen Bestrebungen, sich regional zu organisieren. Die Afrikanische Union und regionale Strukturen treten immer öfter in Erscheinung – gerade wenn es gilt, lokale Konflikte einzudämmen. Und Südafrika ist ungeachtet aller inneren Probleme ein stabilisierender Faktor für den ganzen Kontinent geworden. Auch Mali, Madagaskar oder Mosambik scheinen auf einem guten Weg zu sein. Und das jüngst geschlossene Friedensabkommen im Sudan gehört natürlich gleichfalls zu den positiven Zeichen. In Afrika bewegt sich etwas. Es verbessern sich die Bedingungen, die es braucht, damit Schulen und ein Gesundheitswesen aufgebaut werden können. Und Afrikas Stimme im Weltkonzert wird deutlicher. Eine neue nachkoloniale Generation hört auf, über die Vergangenheit zu klagen – sie will die Zukunft selbst in die Hand nehmen. Trotz Kindersoldaten und trotz großen Elends kann man sagen: Afrika ist nicht verloren. Ich hoffe, dass ich Ihnen, verehrter Herr Dr. Schmid, und Ihnen, verehrter Herr Professor Hanf, gerade mit dieser zuversichtlichen Einschätzung eine brauchbare Vorlage geliefert habe. Machen Sie aus der von mir eingangs apostrophierten „Enklave des Interesses“ eine „Oase der Motivation“ – nämlich der Motivation, sich nachhaltig für Afrika einzusetzen und jene Prozesse, die durch die Kanzlerreise Impulse erhalten, auf der Ebene der Menschen und der konkreten Projekte praktisch voranzubringen!<<