Landtagspräsidentin Aras: Erinnerungskultur ist so wichtig wie nie

Stuttgart/Überlingen/Singen/Salem. Erinnerungskultur und Gedenken an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft in der Bodenseeregion würdigte Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) auf ihrer diesjährigen Gedenkstättenreise am Donnerstag und Freitag, 11. und 12. Juli 2024. Aras besuchte Gedenkorte in Öhningen-Wangen, Überlingen, Gailingen und Singen. Über die Bedeutung des Erinnerns für die Zukunft sprach sie in der Schule Schloss Salem mit der Friedenspreisträgerin Aleida Assmann und rund 200 Gästen, darunter viele Schülerinnen und Schüler. 

„Wo einst Diktatur und Menschenverachtung vorherrschten, ist heute unsere Demokratie, dafür können wir nicht dankbar genug sein“, sagte Landtagspräsidentin Aras in ihrem Grußwort zur Gedenkstättenreise 2024 am Donnerstagabend in der Schule Schloss Salem. Das Grundgesetz selbst, gerade 75 Jahre alt geworden, sei die direkte Antwort auf das finsterste Kapitel der Geschichte. Das sei ein entscheidender Punkt all jener Erzählungen, die von den Gedenkstätten bewahrt werden. 

Gedenkstätten zeigten aber auch: „Geschichte ist unbeständig. Oder wie Bundeskanzler Willy Brandt sagte: Die Geschichte kennt kein letztes Wort.“ Deshalb dürften wir unsere Demokratie nicht für selbstverständlich halten, mahnte Aras. Es gelte, sie gegen die Feinde der Verfassung zu verteidigen. Das sei nicht nur Aufgabe des Staates, sondern es sei Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger, mit Haltung dagegenzustehen. „Die Geschichte mag zwar kein letztes Wort kennen, aber wir haben doch alle ein Wörtchen mitzureden“, so die Landtagspräsidentin.  

Aras traf an beiden Tagen auf engagierte Ehrenamtliche in Gedenkstätten und Vereinen, auf Aktive der Jugendgedenkarbeit und viele interessierte Schülerinnen und Schüler aus Überlingen, Salem und Ravensburg. „Einmal mehr ist deutlich geworden, dass gerade auch die ehrenamtlichen Kräfte in kleineren Gedenkstätten eine enorm wichtige Arbeit leisten. Das verdient unser aller Respekt. Sie zeigen Haltung für unsere Grundwerte und Demokratie, indem sie eine lebendige Erinnerungskultur pflegen“, sagte die Landtagspräsidentin. Sie sei froh, dass vier Fraktionen des Landtags sie beim Thema Gedenkstättenarbeit unterstützen und die Förderung durch den Landtag erhöht werden konnte. „Wir – als wehrhafter Rechtssaat und als Zivilgesellschaft – brauchen die Erinnerung so dringend wie nie“, so Aras.

In der Schule Schloss Salem hielt die Kulturwissenschaftlerin und Friedenspreisträgerin Prof. (em.) Dr. Dr. h. c. Aleida Assmann einen Fachvortrag über „Die Zukunft der Erinnerungskultur“. Sie sprach sich dafür aus, den europäischen Gedanken zu stärken und die Gedenkstätten mehr zu vernetzen. Assmann berichtete, wie sie sich seinerzeit für die Errichtung des Holocaustmahnmals in Berlin engagierte.

Der Schulleiter der Schule Schloss Salem, Henrik Fass, hielt ein Grußwort bei der Abendveranstaltung. Schülerinnen und Schüler aus der Region diskutierten mit Aleida Assmann und Muhterem Aras. Moderiert wurde das Gespräch von Anna Koktsidou. Schülerinnen und Schüler der Schule Schloss Salem sorgten für die musikalische Umrahmung.

Begonnen hatte die Gedenkstättenreise am Donnerstagvormittag an der Jacob-Picard-Gedenkstätte und auf dem Jüdischen Friedhof in Öhningen-Wangen. Die Gedenkstätte im Rathaus Wangen ist nach dem Dichter Jacob Picard (1883-1967) benannt und zeichnet christlich-jüdische Geschichte des Dorfes nach. Nach einem Rundgang zu weiteren mit der jüdischen Geschichte Wangens verbundenen Orten im Beisein von Dr. Anne Overlack vom Freundeskreis Jacob Picard im Forum Allmende e.V. und Gert Wolf, dem Nachfahren einer über Generationen ortsansässigen jüdischen Familie, besuchte Aras den 1827 angelegten Jüdischen Friedhof.

Am Nachmittag besichtigte die Landtagspräsidentin die Dokumentationsstätte Goldbacher Stollen in Überlingen. Oswald Burger, Vorstand der Dokumentationsstätte Goldbacher Stollen und KZ Aufkirch e.V., führte Aras, den Oberbürgermeister der Stadt Überlingen Jan Zeitler (SPD) und rund 100 Schülerinnen und Schüler der Gymnasien Überlingen, St. Konrad Ravensburg und der Schule Schloss Salem durch die unterirdische Anlage. 1944 waren rund 800 Häftlinge aus dem KZ Dachau in ein Außenlager nach Aufkirch verlegt worden. Sie mussten ein rund vier Kilometer langes Stollensystem für die Rüstungsproduktion von vier Friedrichshafener Unternehmen schaffen. 243 Häftlinge starben bei dem Einsatz im Goldbacher Stollen. 

Der zweite Tag der Gedenkstättenreise startete am Freitag im Jüdischen Museum Gailingen im ehemaligen jüdischen Schulhaus. Die Dauerausstellung bewahrt die Erinnerung an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger und deren Anteil an der Entwicklung des Ortes und der Region vom 17. Jahrhundert bis in die 1940er Jahre und macht den Verlust für die Gemeinschaft durch den Holocaust bewusst. Heinz Brennenstuhl, Vorsitzender des Vereins für jüdische Geschichte Gailingen e.V. und ehemaliger Bürgermeister, sowie Dr. Thomas Auer, Bürgermeister und Stellvertretender Vorsitzender, begrüßten die Landtagspräsidentin, die sich anschließend in das Goldene Buch der Gemeinde eintrug.

Letzte Station der Gedenkstättenreise war die Theresienkapelle Singen im heutigen Singener Industriegebiet. Sie wurde 1946/47 von deutschen Kriegsgefangenen unter französischer Besatzung errichtet und ist durch das Engagement von Singener Bürgern heute die einzige erhaltene Lagerkapelle in Deutschland. Landtagspräsidentin Aras traf dort den Singener Oberbürgermeister Bernd Häusler (CDU) und die 1. Vorsitzende des Fördervereins Theresienkapelle Singen e. V., Dr. habil. Carmen Scheide. Seit 2015 ist die Theresienkapelle eine Gedenkstätte, die sich auf drei Zeitschichten bezieht: Die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Einsatzes von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in der Singener Industrie, die unmittelbaren Nachkriegsjahre und den Umgang mit der Diktaturerfahrung im gesellschaftlichen Gedächtnis.

Die Landtagspräsidentin wurde auf der Gedenkstättenreise an verschiedenen Stationen von Landtagsabgeordneten aus den jeweiligen Wahlkreisen begleitet. Frühere Gedenkstättenreisen führten die Präsidentin zu Orten des Gedenkens und Erinnerns am Oberrhein (2018), in Südwürttemberg (2019), in Nordwürttemberg (2020), in Nordbaden (2022) und in die Landkreise Tübingen, Freudenstadt und Böblingen (2023). Die Landtagsverwaltung organisiert und veranstaltet die Gedenkstättenreise in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung.