Landtagsvizepräsident Drexler: Erinnern muss wehtun, sonst wäre es ein fataler Selbstbetrug

Stuttgart/Karlsruhe. Den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat der Landtag von Baden-Württemberg am Donnerstag, 27. Januar 2011, mit einer zentralen Feier im Konzerthaus in Karlsruhe begangen. Erinnern müsse wehtun, sonst wäre es ein fataler Selbstbetrug, sagte Landtagsvizepräsident Wolfgang Drexler (SPD) in seiner Gedenkrede. „Es ist unser Interesse, durch Erinnern zu lernen – das heißt, uns so wachsam und so stark zu machen, dass wir nicht erneut abgleiten in Despotie, in Barbarei oder – um einen modernen Begriff zu verwenden – in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, so Drexler. Im Einzelnen führte der Landtagsvizepräsident aus: >>Am 11. April 1944 schrieb Anne Frank in ihr Tagebuch: „Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein.“ Mit diesem Satz möchte ich Sie begrüßen zur diesjährigen Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg für die Opfer des Nationalsozialismus. Denn die von Anne Frank artikulierte Hoffnung, irgendwann einmal doch wieder Mensch und nicht „nur“ Jüdin zu sein, macht deutlich, was der Kern der Nazi-Barbarei war: Selektion! Menschen wurden klassifiziert und aussortiert. Die einen blieben Menschen, ja sie erklärten sich zu „Herrenmenschen“ – die anderen waren „nur“ Juden oder „nur“ Sinti und Roma, oder „nur“ Russen, „nur“ Zeugen Jehovas, „nur“ Gewerkschafter, „nur“ Kommunisten, „nur“ Sozialdemokraten, „nur“ Behinderte, „nur“ Homosexuelle. Die Nazis erhoben Inhumanität und Menschenverachtung zu Staatszwecken und Staatszielen. Wir gedenken heute – am 66. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz – aller, die in die gnadenlose, pervers-perfekte Verfolgungs- und Tötungsmaschinerie der Nazis gerieten. Es gab auf Erden plötzlich etwas Schlimmeres als den Tod. Auschwitz ist zum Synonym geworden für ein überzeitliches Grauen. Willkür, Versklavung, Misshandlung und Demütigung erdrückten alles und zerstörten die Persönlichkeit des Einzelnen. Den Opfern wurde auch das Allerletzte genommen: ihr Name und ihre Identität. Auch wer das Martyrium überlebte, war in seinem Menschsein zutiefst verletzt und seiner Seele beraubt. Lassen Sie uns, meine Damen und Herren, in Trauer, Scham und Demut innehalten vor den Opfern, ihrem Leid, ihrer Verzweiflung, ihrer Standhaftigkeit. Holen wir dabei in unserem Bewusstsein jene Bilder nach vorne, die sich nicht nur den Befreiern Anfang 1945, sondern auch uns aus den Geschichtsbüchern ins Gedächtnis eingemeißelt haben: die Bilder der Leichenberge, die Bilder der Massengräber, die Bilder der total ausgemergelten Menschen. Blicken wir hin – so intensiv, dass es uns schmerzt! Erinnern muss wehtun, sonst wäre es ein fataler Selbstbetrug. Es ist unser Interesse, durch Erinnern zu lernen – das heißt, uns so wachsam und so stark zu machen, dass wir nicht erneut abgleiten in Despotie, in Barbarei oder – um einen modernen Begriff zu verwenden – in gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Es ist schon angeklungen: Diese Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg findet nicht zufällig in Karlsruhe statt. Im vergangenen Herbst jährte sich zum siebzigsten Mal die Massendeportation der jüdischen Mitbürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Gurs und fünf weiteren Internierungslagern in den südfranzösischen Pyrenäen. Wobei „Internierung“ ein viel zu schwacher Begriff ist für die unsäglichen Lebensbedingungen, die im Oktober 1940 auf die Verschleppten warteten – Menschen, die ihrer Rechte, ihrer Freiheit, ihrer Chancen und ihres Eigentums beraubt waren. Viele überstanden den ersten Winter nicht. Und wem nicht die Flucht gelang, der wurde ab dem Sommer 1942 in die Hölle von Auschwitz und der anderen Vernichtungslager geschickt. Einer, der das Glück hatte, zu überleben, ist heute in unserer Mitte: Sie, Herr Niedermann. Ich begrüße Sie mit außerordentlicher Hochachtung. Mit dem gleichen Nachdruck begrüße ich Sie, Frau Dietz. Flucht 1942 aus Berlin, Internierung in der Schweiz, 1946 Rückkehr nach Deutschland und damit in eine Nachkriegsgesellschaft, die vielfach nicht wahrhaben wollte, dass sie auch moralisch zerstört war – Sie, Frau Dietz, haben ihr Schicksal festgehalten in drei Büchern als Mahnung und als Kraftquelle für uns Heutige. Ich schätze es sehr, dass Sie beide unsere Einladung angenommen haben. Sie bestätigen die Echtheit unseres Gedenkens. Dafür sind wir Ihnen von Herzen dankbar. Sie beide verbindet, dass Sie einen großen Teil Ihrer Energie und Ihrer Zeit in Gespräche mit Schülern investieren, um den Nazigreuel plastisch zu machen und jungen Menschen bleibend Orientierung zu vermitteln. Diese Gedenkstunde ist mir deshalb eine gerne genutzte Gelegenheit, Ihnen namens des Landes Baden-Württemberg Dank und Anerkennung auszusprechen für Ihren unermüdlichen Einsatz, der das Fundament von Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit festigt. 1940 – 2010: Die „runde“ Zahl 70 ist lokal und regional in beeindruckender Vielfalt zum Anlass genommen worden, unser Wissen über die Massendeportation der jüdischen Mitbürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland zu sichern, zu vertiefen, neu und eingängig aufzubereiten. Diesem Engagement gilt auch mein Respekt. Denn wer vergisst, der macht sich im Nachhinein zum Komplizen – der tötet noch einmal. Das konkrete, schonungslose Offenlegen der NS-Verbrechen und das sichtbare Annehmen der uns erwachsenen Verantwortung sind Kernbestandteile unserer politischen Kultur und eines wirklich geläuterten Nationalverständnisses. Vor allem aber liegt darin der Wunsch, den Opfern wenigstens in der öffentlichen Wahrnehmung ihre Würde und ihre Einmaligkeit zurückzugeben – sie wieder zu unseren Mitbürgern zu machen. Ein gelungenes Beispiel dieses Forschens und Dokumentierens wird uns gleich anschließend präsentiert: die Filmsequenz „Auf der Spurensuche zum Internierungslager Gurs“. Die vier Jugendlichen Bettina und Anabel Elsner, Vincent Bewerunge und Yannick Hug sind per Zug auf derselben Strecke unterwegs gewesen, die für die Deportierten zum „Prolog“ des Martyriums, zur ersten Etappe auf dem Weg in den Tod wurde. Inzwischen entwickeln gottlob viele junge Leute ein großes, elanvolles Interesse, das dunkle Kapitel eigenständig und im Detail zu durchdringen. Sie möchten nicht lediglich belehrt werden; sie streben danach, selbst zu ergründen, was wie geschehen ist und warum es geschehen konnte. Für die Jugendlichen der dritten und vierten Generation nach dem Krieg ist die NS-Zeit naturgemäß relativ weit entfernt. Umso höher sollten wir schätzen, dass sie unserer immerwährenden staatsbürgerlichen Verantwortungs- und Haftungsgemeinschaft gerecht werden und zu persönlichem Mitgefühl mit den Opfern finden wollen. Empathie kann nicht verordnet werden. Trotzdem ist sie unerlässlich. Nüchternes Rezipieren und routinemäßiges Auswendiglernen können nämlich das Gegenteil bewirken – sprich: vordergründiges Abhaken, schnelles Verdrängen. Die Kenntnis der historischen Fakten muss so in eine Beziehung zur Gegenwart gesetzt werden, dass sie im Alltag zu moralischer Sensibilität, zu politischer Verantwortung und zu Zivilcourage im direkten Umfeld führt. Deshalb darf bei der Annäherung an die nationalsozialistischen Verbrechen nicht versäumt werden, die Kälte der Statistiken und die Sterilität von Sachdarstellungen zu überwinden. Das Geschehen im Herbst 1940 war Teil des singulären Menschheitsverbrechens der Nazis. Für das Kriminelle, Widerliche, Amoralische gibt es kaum Worte. Trotzdem ist ein Aspekt besonders ekelig: Die Massendeportation der jüdischen Mitbürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurde von den regionalen Nazi-Schergen mit vorauseilendem Kadavergehorsam betrieben, um den NS-Größen in Berlin zu gefallen. Wir erinnern heute also an einen absoluten Tiefpunkt unserer Landesgeschichte. Allerdings dürfen wir nicht unterschlagen: Auch die badischen Juden hatten es immer schwer gehabt. Das Großherzogtum Baden war zwar unbestritten ein aufgeklärtes, fortschrittliches Gemeinwesen. Dank eines bürgerlich-sperrigen Freigeistes entfalteten sich der Verfassungsstaat und die parlamentarische Demokratie hier wegweisend. Aber selbst im liberalen Baden mussten die Juden um ihre rechtliche Gleichstellung lange kämpfen. Und ihre gesellschaftliche Integration litt stets unter dem allgemeinen Argwohn gegen ihre kulturelle Traditionstreue. Die Nazis verschärften ihr Selektieren – und das war das Perfide – im Gleichschritt mit der innen- und außenpolitischen Konsolidierung ihres Regimes: erst rassistische Hetzreden und Zeitungsartikel, dann das Beschimpfen und Drangsalieren der Juden, dann erklärte man Menschen mit Behinderung für lebensunwert, andere zu Untermenschen. Und schon gab es kein Halten mehr – ohne dass es die Mehrheit störte. Die gesetzgeberisch-administrative Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger aus dem staatlichen und gesellschaftlichen Leben und ihre existenzielle Verfolgung verbanden sich vor allem nach der organisatorischen Verschränkung von Polizei, Gestapo und SS zum staatlichen Terror auf allen Ebenen: Boykott jüdischer Geschäfte, Ausgliederung aus der Beamtenschaft, Herabstufung zu einer Gruppe minderen Rechts, völlige politische Entrechtung und Diskriminierung durch die Nürnberger Rassegesetze, Kennzeichnungspflicht. Ab 1935 Inhaftierungen in Konzentrationslagern; 1938 brannten die Synagogen; ein Jahr darauf, 1939, im Schatten des Krieges, wurde aus rassistischen Ideen endgültig eine unfassbare Mordmaschinerie, die ihren finalen Schub durch die Wannsee-Konferenz 1942 erhielt. Der eigentliche Schrecken liegt darin, dass es sich ganz unspektakulär vollzog – scheinlegal in den hergebrachten Verfahren und neben dem normalen Alltag. Richtig betrachtet, begann der Weg nach Gurs und dann in den Tod nicht auf den badischen Bahnhöfen. Der Mord begann in den Köpfen. Und zwar nicht allein in den Hirnen der Nazis. Sondern auch im Denken und Fühlen der Mehrheit. Die Nazis konnten schon vor dem 30. Januar 1933 hergebrachte Denkstrukturen nutzen, weitverbreitete Vorurteile instrumentalisieren und auf vorhandene rassistische Haltungen bauen. Die Nazis mussten weder den Antisemitismus noch die Stigmatisierung der Sinti und Roma noch die Geringschätzung Behinderter künstlich erzeugen. Sie fanden die Ressentiments als Startkapital vor. Und die Ressentiments sind nicht mit der Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 verschwunden. Noch heute wird gar nicht selten – abwertend, verachtend, ausgrenzend – von „den“ Juden gesprochen. Und dummes, unreflektiertes Geschwätz bildet die oberste Schicht des Nährbodens dafür, dass bei uns in Deutschland noch immer jüdische Einrichtungen von der Polizei bewacht werden müssen, dass bei uns in Deutschland noch immer jährlich 800 antisemitische Straftaten begangen werden. Führen wir uns dezidiert vor Augen: Antisemitismus – der Hass auf „die“ Juden – ist zwei Jahrtausende alt. Er war zunächst religiös begründet, bevor im 19. Jahrhundert die „rassistische“ Komponente dazu kam. Beim Antisemitismus handelt es sich um eine quasi immer weitervererbte Anschauung, die in der Existenz der Juden die Ursache sozialer, politischer, religiöser und kultureller Probleme sieht. Der Antisemit kritisiert die Juden nicht. Der Antisemit nimmt den Juden übel, dass es sie gibt. Er bestreitet deren Lebensrecht. Dieser eliminierende Antisemitismus verbindet ganz offen die Skinhead-Szene. Anschläge gegen jüdische Institutionen und Friedhöfe wie auch Angriffe gegen Personen zeigen es. Aber das ist nur eine Ausprägung – gleichsam das „klassische“ Gesicht. Daneben steht der moderne Antisemit. Der moderne Antisemit hebt nicht den Arm zum Hitlergruß und schreit dabei „Juden raus!“. Der moderne Antisemit dröhnt sich keine Hardrock-Hasslieder in die Birne. Der moderne Antisemit tritt ganz anders auf. Er hat keine Glatze, dafür Manieren; er trauert um die Juden, die im Holocaust ermordet wurden, stellt aber zugleich die Frage, warum die Überlebenden und ihre Nachkommen aus der Geschichte nichts gelernt hätten und heute die Araber so misshandelten, wie sie selber misshandelt wurden. Das scheinbar harmlose Hinterfragen der Politik Israels ist zu einer Larve des glatt geschliffenen Antisemitismus geworden, da man spitzfindig und mit Unschuldsmiene sagen kann: Ich meine doch bloß die israelische Regierung. Darf Israel nicht kritisiert werden? Der moderne Antisemit lebt in der Mitte der Gesellschaft. Er stuft sich selbst als nicht rechtsextrem ein. Er versteht sich auf wohlüberlegte, geschickte Formulierungen und subtile Rechtfertigungsstrategien. Faktisch verwendet er jedoch das gesamte Repertoire gängiger judenfeindlicher Stereotypen. Der Antisemitismus wandelt sich – wie alle sozialen Phänomene. Jetzt versucht er dadurch salonfähig zu werden, dass er den ausdrücklichen Bezug auf Hitler und die Nazis vermeidet. Daher können wir ihn nicht allein mit einer Ausrichtung an zwölf Jahren schrecklicher deutscher Geschichte bekämpfen. Wir brauchen Konzepte, die berücksichtigen, dass sich das Ressentiment aus mehr speist als aus der Spanne von 1933 bis 1945. Die Mechanismen und Erscheinungsformen von Stigmatisierung, Selektion, Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen, mit diesem Wissen die Gegenwart aufmerksam zu beobachten und bei Bedarf als Demokrat konsequent zu handeln – darum geht es. Das schließt ein, mit der Erfahrung ernst zu machen: Wer tolerant sein will, muss die Grenze zum Nichttolerierbaren kompromisslos festlegen. Und der Bann darf nicht erst bei den Umtrieben der militanten Neo-Nazis beginnen. Der „Rubikon“ wird schon überschritten beim Abwerten und Brandmarken von Juden – und, wie eingangs mit den Worten Anne Franks dargestellt, beim Klassifizieren, Verpönen und Ächten von Flüchtlingen, Behinderten, Homosexuellen, Obdachlosen, Muslimen oder anderen Gruppen. Ignatz Bubis gab einmal ein autobiografisches Interview, dessen Text nachher in einem kleinen Büchlein erschienen ist. Und Bubis wählte dafür den Titel „Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Die Botschaft dieser Selbstbeschreibung müssen wir erfassen und in uns aufnehmen. Und diese Botschaft heißt: Wir sind eine pluralistische Gesellschaft mit einer religiösen Vielfalt. Der Schlüssel für ein gelingendes Miteinander ist daher, jenen Wert zu leben und zu lehren, der im jüdischen, im christlichen und übrigens auch im islamischen Glauben tief verankert ist: den Wert der Gemeinschaft auf Grundlage der Würde des Einzelnen. Jede Verletzung dieses Wertes muss – ohne Anschauung der Person – unsere Empörung auslösen. Da darf es keine Gleichgültigkeit, kein Beschwichtigen, kein Relativieren geben. Das beinhaltet nicht zuletzt, dass unsere Gesellschaft sich entschlossener dazu durchringt, anderen Zielen zu folgen als Massenkonsum, Verachtung für die Schwächeren, als reinen Nützlichkeitserwägungen und einer maßlosen Konkurrenz aller gegen alle. Und deshalb brauchen wir wieder mehr Zivilcourage und Mut. Ich wünsche mir viele mutige Frauen und Männer in unserem Land, die dann mahnend und protestierend hinstehen, ihre Stimme am Stammtisch, im Büro, im Laden, im Verein und in der Familie erheben, wenn sich wieder Unverbesserliche und Unbelehrbare mit ihren menschenverachtenden Parolen zu Wort melden.
Uns obliegt, eine Gesellschaft zu gestalten und zu behaupten, in der die praktische Konkordanz von Individualität und Freiheit einerseits und von Gleichheit und Solidarität andererseits nicht nur Programm, sondern Realität ist. In diesem Sinn möchte ich schließen mit einem Gedanken von Hannah Arendt, der bescheiden klingt, aber einen hohen Anspruch formuliert. Er lautet: „Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus für das Heute ergibt.“