Landtagsvizepräsident Frieder Birzele eröffnet Schülerparlament:
Technischer Fortschritt erweist sich für die praktische Politik als Herausforderung mit vielen Gesichtern Stuttgart. Rund 100 Jugendliche aus Baden-Württemberg sind am heutigen Montag, 27. September 2004, im Stuttgarter Landtag zu einem zweitägigen Schülerparlament zusammengekommen. In parlamentarischen Debatten und Arbeitskreisen setzen sich die Schülerinnen und Schüler mit aktuellen Umwelt- oder gesellschaftspolitischen Problemen rund um die Themen Mobilität und Kommunikation auseinander. Eröffnet wurde die Veranstaltung am Montagvormittag von Landtagsvizepräsident Frieder Birzele (SPD). Sein Grußwort hatte folgenden Wortlaut: >>Ohne dieses „Schülerparlament“ würde dem „Wissenschaftssommer Stuttgart“ nicht nur eine weitere Veranstaltung fehlen – er wäre um ein Stück Substanz ärmer. Aus dem Mund des Gastgebers mag diese Feststellung ein bisschen überheblich klingen. Ich möchte durch sie aber zweierlei zum Ausdruck bringen: Erstens meinen Respekt, dass die Verantwortlichen des „Wissenschaftssommers Stuttgart“ beides hautnah erlebbar machen wollen: nicht nur die Faszination von Wissenschaft und Forschung, sondern auch – und jetzt verwende ich bewusst den Plural - die politischen Dimensionen und Herausforderungen des technischen Fortschritts. Und zum anderen möchte ich natürlich Ihnen, meine Damen und Herren, Dank und Anerkennung bekunden für Ihre Bereitschaft, heute und morgen in die Rolle von uns Politikern zu schlüpfen und sich ganz praktisch jener komplizierten Matrix zu stellen, in der die Sphären des Notwendigen und Zumutbaren, des Machbaren und des Verantwortbaren, des Denkbaren und des Finanzierbaren verknüpft sind. Der Landtag von Baden-Württemberg stellt Ihnen dafür gerne seine Räume und seine Infrastruktur – sozusagen – als „Originalkulisse“ zur Verfügung. Ich sage deshalb: Herzlich willkommen! Fühlen Sie sich wie zuhause! Mit Sicherheit liegen zwei spannende, erkenntnisreiche Tage vor Ihnen. Denn Sie wollen an konkreten Beispielen wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Möglichkeiten politisch bewerten – wobei politisch bewerten auch heißt: ökonomisch, ökologisch und sozial einschätzen. Und Sie wollen in Verfahren, die den parlamentarischen Abläufen nachempfunden sind, Handlungsnotwendigkeiten identifizieren und Entwicklungschancen aufzeigen. Sie werden daher eigentümliche Phänomene erleben. Zuvorderst wahrscheinlich: den Wunsch nach Eindeutigkeit. Von uns Politikern werden klare Aussagen und dezidierte Meinungen verlangt, wenn es darum geht, mit neuen technischen Errungenschaften oder mit irritierenden Folgewirkungen zurechtzukommen. Die ersehnte Eindeutigkeit ähnelt bisweilen jedoch einer Luftspiegelung: Je näher und länger man sich mit einem Problem befasst, je mehr Einsichten man dazu gewinnt, desto schwieriger wird oft das Urteilen. Tatsache ist: Die Politik kann eine wachsende Zahl von Aufgaben nicht mehr ohne wissenschaftlichen Sachverstand erfüllen. Deshalb gehören Expertenhearings richtigerweise zur Agenda dieses „Schülerparlaments“. Tatsache ist aber auch, dass wir immer häufiger erleben, dass Wissenschaftler gleicher Fachrichtung zum selben Thema ganz unterschiedliche Auffassungen vertreten. Trotzdem muss die Politik und nicht die Wissenschaft entscheiden, was sinnvoll und was falsch ist, was verantwortbar und was unverantwortlich ist. Und trotzdem muss die Politik aus der Analyse des Vorhandenen schlüssige Zukunftskonzepte erarbeiten. Und da kommt ein zweites Phänomen ins Spiel, das wir zurzeit fast identisch bei den Sozialreformen auf Bundesebene erleben: Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz – dafür sind im Prinzip fast alle. Und kaum wer bestreitet, dass es tief greifender Veränderungen bedarf. Aber wenn damit höhere Kosten für den Einzelnen oder kleine Einbußen an individueller Bequemlichkeit verbunden sind, dann sinkt die Zustimmung rapide. Bedenken Sie deshalb bei Ihrem Tun in den nächsten beiden Tagen also auch den Aspekt, dass in einer Demokratie die Menschen – neudeutsch gesagt – mitgenommen werden müssen; dass also die Chancen und Gefahren neuer Techniken ganz sachlich vermittelt werden müssen, und dass die gezogenen politischen Konsequenzen glaubwürdig und geradlinig zu vertreten sind. Unverständlichkeit schafft oder vertieft Unsicherheit. Und Unsicherheit verursacht Fehlreaktionen. Dieses Phänomen erleben wir auch in einem ganz anderen Bereich: im Alltag - zum Beispiel beim Telefo¬nieren mit dem Handy. Ungewissheit führt hier entweder zu törichter Unbekümmertheit oder – im anderen Extrem - zu panischen Forderungen nach strengsten Regelungen beziehungsweise Verboten. Und damit bin ich bei einem weiteren Punkt, den Sie, meine Damen und Herren, zumindest im Hinterkopf behalten mögen. Das politische Verarbeiten wissenschaftlicher Erkenntnisse schafft nicht selten mehr Bürokratie. Sei es überwachende Bürokratie, sei es Bürokratie, die Fördermittel verteilt. Und auch da hält die Praxis ein überraschendes Phänomen bereit. Denn viele, die gerne über zu viel Verwaltung klagen, sind identisch mit denen, die mehr Schutz durch den Staat und durch Gesetze wünschen. Und viele, für die Subventionen die Quelle allen Übels sind, sprechen plötzlich von Zukunftsinvestitionen und verlangen öffentliche Förderung für allerlei Dinge. Diese wenigen Blicke ins „politische Nähkästen“ sollten Ihnen zeigen: Der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt erweist sich für die praktische Politik als Herausforderung mit vielen Gesichtern: Nicht alles Machbare ist ethisch verantwortbar. Nicht alles Mögliche ist finanzierbar. Nicht alles Notwendige ist reibungslos durchsetzbar. Es geht um ein ständiges Ringen. Dazu gehört, den Blick nicht nur auf Gefahren oder Hindernisse zu richten, sondern immer such den Nutzen zu berücksichtigen. Und dazu gehört nach getroffenen Entscheidungen jene standhafte Haltung einzunehmen, die der Bundeskanzler bei den Sozialreformen beweist und die ihn sinngemäß und frei nach Martin Luther sagen lässt: Hierin gehe ich – ich kann nicht anders! Allerdings, technischer Fortschritt und Politik – das bedeutet: Hellwache Gewissenhaftigkeit und ein genauso dynamischer wie ausdauernder Optimismus müssen zusammenfinden. In diesem „Schülerparlament“ werden sie es tun. Dessen bin ich gewiss. Und deshalb überlasse ich Ihnen, meine Damen und Herren, jetzt gerne den Plenarsaal und die anderen Sitzungsräume des Landtags von Baden-Württemberg zum guten Gebrauch!