Landtagsvizepräsidentin Lösch: Erinnerungskultur und heutige Verantwortung hängen unauflöslich zusammen

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Stuttgart. Erinnerungskultur und heutige Verantwortung hängen unauflöslich zusammen. Dies betonte Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch (Grüne) bei der Gedenkfeier des Landtags für die Opfer des Nationalsozialismus am Dienstag, 27. Januar 2015, im Plenarsaal im Stuttgarter Kunstgebäude. Der 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz solle auch Anlass sein, selbstkritisch zu reflektieren, wie sich die Gesellschaft mit den Menschheitsverbrechen der Nazis auseinandergesetzt habe und wie sie es – um ihrer selbst willen – weiterhin tun müsse, sagte Lösch. Gedenken heute heiße zudem, die Kraft der Vielfalt zu erkennen. Denn gelebte Vielfalt mache ein Gemeinwesen stabil und resistent gegen Fundamentalismen aller Art. Wörtlich führte die Landtagsvizepräsidentin aus:

>>„Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. Man soll und darf die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lassen, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwart werden könnte.“ Dieses Wort des Schriftstellers und Auschwitzhäftlings Jean Améry ist im Jahr 2015 von bedrückender Aktualität. Und heute – am 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz – wird dieser unauflösliche Zusammenhang von Erinnerungskultur und heutiger Verantwortung ganz besonders deutlich. Entsprechend herzlich begrüße ich Sie zur Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg für die Opfer des Nationalsozialismus.

Wir gedenken heute aller Menschen, denen durch die NS-Terrorherrschaft und den von Deutschland ausgegangenen Angriffskrieg ihre Rechte, ihr Besitz, ihre Heimat, ihre Würde, ihr Leben geraubt wurden: Juden, Sinti und Roma, Jenische, Angehörige der slawischen Völker, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, politisch Verfolgte, Zeugen Jehovas, Kranke, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle. Wir gedenken auch jener, die verfolgt, drangsaliert und getötet wurden, weil sie sich nicht beugten oder weil sie anderen Schutz und Hilfe gewährten.

Auschwitz, das ist der Inbegriff für ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Verbrechen, einen industrialisierten Völkermord – geplant und ausgeführt von deutscher Hand. Für uns Deutsche verbindet sich mit diesem Ort tiefe Scham. Ja, Auschwitz sprengt jegliche Vorstellungskraft: hier regierten Unmenschlichkeit, Grausamkeit und Barbarei, wurden Menschen bestialisch gequält, gefoltert und ermordet. Hier war buchstäblich die Hölle auf Erden.

Weite Teile unserer Nachkriegsgesellschaft indes wollten „vergessen“. Sie fokussierten sich auf den Wiederaufbau – und versteckten sich zugleich darin. Schuld wurde ausgeblendet, verharmlost und negiert. Das Resultat war ein öffentliches, ja ein offizielles Schweigen, das erst 18 Jahre nach Kriegsende durchbrochen wurde – dank des Frankfurter „Auschwitz-Prozesses“.

Der 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz sollte deshalb auch Anlass sein, selbstkritisch zu reflektieren, wie sich unsere Gesellschaft mit den Menschheitsverbrechen der Nazis auseinandergesetzt hat und vor allem wie sie es – um ihrer selbst willen – weiterhin tun muss.

Als Impulsgeber dafür konnten wir einen der profiliertesten deutschen Historiker gewinnen – Sie, sehr geehrter Herr Professor Steinbach. Herzlich willkommen! Vor Ihrer Rede wollen wir uns vor Augen führen: Auschwitz war die größte „Mordfabrik“ in der Schreckensmaschinerie des „Dritten Reichs“ – und doch nur ein Teil der Apokalypse auf Erden. Belzec, Sobibor, Treblinka, Majdanek – ähnliche Vernichtungslager, aber auch sie nur „Zweigstellen“ in der Infrastruktur des Grauens. Einer Infrastruktur mit – wahnsinnigen – 42.000 Orten.

Ein besonders mörderischer davon war das KZ Natzweiler-Struthof, ab 1941 im annektierten Elsass errichtet. Widerstandskämpfer und politisch Verfolgte aus ganz Europa wurden dorthin verschleppt. Es diente der NS-Kriegsindustrie. Nach und nach entstanden 70 Außenlager links und rechts des Rheins, insbesondere bei uns im heutigen Baden-Württemberg.

„Natzweiler-Struthof“ also ist ein weiteres Synonym für Versklavung und Vernichtung. Aber heute auch der Name eines wegweisenden Gedenk-, Dokumentations- und Lernortes! Sie, sehr geehrte Frau Doktor Neau-Dufour, werden uns beides nahebringen. Sie sind Leiterin des dort geschaffenen „Europäischen Zentrums der deportierten Widerstandskämpfer“, einer Einrichtung des französischen Verteidigungsministeriums. Ich begrüße auch Sie auf das Herzlichste!

Ein Außenlager von Natzweiler-Struthof liegt direkt vor unserer Haustüre: In den bombensicheren Engelberg-Autobahntunnelröhren bei Leonberg mussten Häftlinge unter entsetzlichen Bedingungen Flugzeugteile fertigen. Eine 1999 gegründete KZ-Gedenkstätteninitiative hält auf mannigfaltige Weise die Erinnerung daran wach. Ihr gilt unser Dank – auch stellvertretend für die erfreulich reiche bürgerschaftliche Erinnerungskultur in unserem Land.

Junge Menschen zu motivieren, den „Staffelstab“ der Verantwortung aufzunehmen und weiterzutragen, ist dabei eine entscheidende Aufgabe. Wie das beispielhaft gelingen kann – davon wird uns die Theater-AG des Robert-Bosch-Gymnasiums Gerlingen einen Eindruck vermitteln.

Ja, der 27. Januar hebt Zeit und Raum auf! Er macht gegenwärtig, was war, damit uns bewusst wird, was nie mehr sein darf – genauer: was wir nie mehr relativieren, nie mehr zur Disposition stellen, nie mehr aufgeben dürfen! Weder von Staats wegen wie nach dem 30. Januar 1933. Noch durch einen Erosionsprozess in unserer Gesellschaft:

Menschenwürde, Freiheitsrechte, Demokratie – sie sind unter jeglichen Umständen und von allen zu achten! Und: zu verteidigen!

Es waren auch respektable Demokraten, die Hitler die Macht übergaben – er musste sie, entgegen der geläufigen Formulierung, nicht „ergreifen“. Und es waren auch ausgesprochen gewissenhafte, fest im Glauben verankerte Reichstagsabgeordnete, die am 24. März 1933 – anders als die SPD – dem Ermächtigungsgesetz zustimmten – aus falsch verstandenem Patriotismus; im fatalen Irrglauben, es werde schon nicht so schlimm kommen; und wenn, dann könne man die Nazis jederzeit stoppen.

Die Lehre lautet: Alle Demokraten müssen konsequent und kompromisslos standhaft sein, wenn Deutsch zur Sprache des Antisemitismus und des Chauvinismus wird. Wenn Deutsch zur Sprache der Menschenfeindlichkeit, des Stigmatisierens, des rassistischen oder religiösen Vorurteils wird. Zur Sprache des Hasses und der Unbarmherzigkeit. Da darf es kein Zögern, kein Beschwichtigen, kein Lavieren geben!

So betrachtet, begehen wir den „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ dieses Jahr mit dem Gefühl, dass unsere Gesellschaft hellhöriger, ja bereiter geworden ist, sich rechtzeitig zu erheben. Immer mehr Menschen quer durch alle Alters- und Berufsgruppen, immer mehr Menschen quer durch alle religiösen und politischen Überzeugungen überlassen unsere Straßen und Plätze und damit die Nachrichten und Fernsehbilder nicht denen, die dumpf und demagogisch Ängste wecken wollen. Nicht denen, die unverhohlen Ausgrenzung und Diskriminierung propagieren. Nicht denen, die unter der Maske eines biederen, engstirnigen Pseudo-Patriotismus schieren Nationalismus predigen. Nicht denen, die naiv mitlaufen, als hätte es die Geschichte nicht gegeben.

Deutschland scheint wachsam in diesen Wochen. Und es schöpft dabei sichtbar Stärke aus seiner Vielfalt. Wir erfahren: Gelebte, funktionierende Vielfalt, zu der wir alle positiv beitragen, macht ein Gemeinwesen stabil! Und: resistent! Gegen den braunen Bazillus! Und gegen Fundamentalismen aller Art! Dem „Zusammenhalt in Vielfalt“ wohnen eine unverzichtbare Kraft und damit ein besonderer Wert inne!

Gedenken heißt deshalb gerade heute: auch diese „Kraft der Vielfalt“ zu erkennen! Sie ausdrücklich anzuerkennen! Und sie als kategorische Aufforderung zu begreifen, für Solidarität, für Toleranz, für Humanität und für demokratische Wehrhaftigkeit im grenzüberschreitenden, ja im globalen Maßstab einzustehen! Also einzustehen für die universelle Verbindlichkeit der Menschenrechte und der grundlegenden moralischen Werte!

Deshalb war es wichtig, dass wir – dass Muslime, Christen und Juden vereint – so dezidiert auf die Anschläge islamistischer Terroristen vor knapp drei Wochen in Paris reagiert haben. Auf DIE Anschläge – Plural! Auf das Massaker in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ UND auf das Attentat auf einen jüdischen Supermarkt für koschere Speisen. Wir haben klargemacht: Getroffen wurde Frankreich, betroffen sind auch wir! Auch wir finden uns deshalb zusammen gegen Hass und Intoleranz! Auch wir verteidigen gemeinsam gegen Mörder gleich welcher Herkunft unsere Freiheit und all das, was uns ein Leben in Frieden, Respekt und Würde ermöglicht!

„Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum.“ Gesagt hat das der 2011 verstorbene Noach Flug, der sich jahrzehntelang – unter anderem als Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees – für das Gedenken an die NS-Opfer, für die Überlebenden des Holocausts, aber auch für die Verständigung mit Deutschland eingesetzt hat. Er verweist damit unter anderem auf die große Bedeutung von Gedenkorten und Zeitzeugen als Kristallisationspunkte und Impulsgeber eines nachhaltigen Erinnerns.

Dass die Erinnerung „lebensnotwendig“ ist und „kein Verfallsdatum“ hat, ist vollkommen zutreffend: Einen Schlussstrich kann und darf es nicht geben. Unsere schuldbeladene Vergangenheit lastet bleibend auf uns und bedeutet eine fortwährende Verantwortung. Für uns Heutige verbindet sich diese Verantwortung jedoch weniger mit Schuld, als vielmehr mit dem Auftrag, wachsam zu sein: Wir müssen die Würde jedes Einzelnen schützen und jeglicher Menschenfeindlichkeit wehren.

Bekunden wir deshalb unsere Akzeptanz, unser Interesse und unser Verbundensein auch im Alltag, damit unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ermutigt werden, sich nicht zu verleugnen – sondern auf Einschüchterung und Bedrängnis, so schwer immer wieder es fällt, mit Offenheit und Stärke zu reagieren!

Das alles wollen wir Punkt 12:00 Uhr auf besondere Weise bekräftigen, indem wir Teil der landesweiten Schweigeminute werden, zu der Sie, Herr Ministerpräsident, sämtliche Landesbehörden aufgerufen haben.

Ja, Hass lässt sich bekämpfen. Die wirklich Klugen, die wirklich Mutigen, die wirklich Rechtschaffenen dürfen nicht schweigen – sie müssen konkret dagegenhalten! Heute, am 27. Januar – und an allen Tagen des Jahres! Bei Demonstrationen – und in der Nachbarschaft, auf Schulhöfen, in Fußballstadien, schlicht: überall! Deshalb: Wir werden die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten und noch wichtiger: das unsägliche Leid der Opfer niemals vergessen. Dazu trägt auch die Ausstellung bei! Möge sie auf ein großes Interesse stoßen! Lassen Sie sich davon berühren: nachdenklich, einfühlsam und Anteil nehmend. <<

Weiteres Programm

Der Rede Löschs folgte ein Vortrag von Dr. Frédérique Neau-Dufour, Leiterin des Centre européen du résistant déporté im ehemaligen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, über „Das Ende des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof – Gedenken in Frankreich und Baden-Württemberg“. Danach sprach Prof. Dr. em. Peter Steinbach, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, zum Thema „Von der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zur Konfrontation mit dem Schrecken“. Sodann rief Ministerpräsident Winfried Kretschmann alle Anwesenden auf, an der landesweiten Schweigeminute teilzunehmen als Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Im Anschluss wurden Ausschnitte aus einer Filmdokumentation über eine Aufführung „Hinterm Berg - zur Geschichte des KZ-Außenlagers Leonberg“ der Theater-AG des Robert-Bosch-Gymnasiums Gerlingen gezeigt. Ein Interview mit Mitgliedern der Theater-AG schloss sich an.

Nach der Gedenkstunde, die von Preisträgerinnen und Preisträgern des Wettbewerbs „Jugend musiziert“ musikalisch umrahmt wurde, präsentierten sich Opferorganisationen mit Infoständen im Haus der Katholischen Kirche. Dort war auch die Ausstellung „Freiheit – so nah, so fern. Das doppelte Ende des Konzentrationslagers Natzweiler“ zu besichtigen.

Bereits vor der Veranstaltung im Landtag hatte um 10:45 Uhr ein stilles Gedenken am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus am Karlsplatz in Stuttgart stattgefunden. Dabei legten unter anderem Vertreter des Landes und von Opferorganisationen Kränze und Gestecke nieder.