Mehr Wertschätzung für soziale Berufe gefordert
Stuttgart. Der Landtag von Baden-Württemberg hat die von Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) initiierte erfolgreiche Gesprächsreihe „WERTSACHEN – Was uns zusammenhält“ fortgesetzt. Die Auftaktveranstaltung zur zweiten Staffel der Reihe stand am Dienstag, 5. April 2022, unter der Überschrift „Gerechtigkeit – Was sind uns Pflegeberufe wert?“ Expertinnen und Experten aus dem Gesundheitswesen tauschten sich in einer Podiumsdiskussion mit Publikumsrunde im Haus des Landtags aus.
Die Diskussionsrunde wurde von rund 200 Gästen, darunter zahlreiche Abgeordnete des Landtags von Baden-Württemberg, in der Lobby des Landtags mitverfolgt. Zudem gab es einen im Internet übertragenen Livestream.
Die Pflegeberufe seien „ein immens wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft – wir müssen sie wertschätzen“, sagte Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Dazu gehörten auch eine bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Die Politik sei aufgerufen, für mehr Gerechtigkeit in der Pflege zu sorgen. Das sei ein Auftrag unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar und universell. Diese Würde bemisst sich nicht nach Alter, Gesundheitszustand oder Beitrag zum Bruttosozialprodukt.“ In diesem Bewusstsein finde man die richtigen Antworten auf die Frage „Was sind uns Pflegeberufe wert?“. Zweck der Wertsachen-Veranstaltung sei, die Forderungen und Anliegen der Betroffenen in die Politik hineinzutragen, so Aras.
Dass Pflege – ob im Krankenhaus oder im Pflegeheim – systemrelevant ist, hat die Pandemie überdeutlich gezeigt. Aber wie könnte eine angemessene Wertschätzung der Arbeit von Pflegenden konkret aussehen? Darüber diskutierten im Landtag die Krankenpflegerin und „Spiegel“-Bestseller-Autorin Nina Böhmer, Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe, emeritierte Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen, und Dr. Joachim Rock, Abteilungsleiter für Arbeit, Soziales und Europa im Paritätischen Gesamtverband. Axel Graser, Leiter des SWR Studio Stuttgart, moderierte die Podiumsdiskussion, bei der auch Fragen aus dem Publikum eingereicht werden konnten.
In einem Filmbeitrag von Journalistin Tabea Günzler und Prof. Stephan Ferdinand von der Hochschule der Medien äußerten sich Pflegekräfte zu den schönen und den frustrierenden Seiten ihres Berufs. Bei der anschließenden Podiumsdiskussion schilderte Nina Böhmer, Krankenpflegerin und Autorin des Buchs „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“, ihre Erfahrungen: „Die schlechten Arbeitsbedingungen in der Pflege sind kein Geheimnis. Ich selbst habe große Angst davor, alt zu werden und dann einmal nicht die Pflege erhalten zu können, die ich bräuchte.“
Die Podiumsrunde erörterte systemische Fehler in der Pflege und forderte deren politische Aufarbeitung. Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe nannte die in den 1990er Jahren eingeführten Fallpauschalen als Beispiel für eine fundamentale Fehlentwicklung in der Betrachtung von Pflegeleistungen: „Die betriebswirtschaftlichen Maßstäbe, die an die Pflege angelegt werden, sind fehl am Platz. Es handelt sich eben nicht um Maschinen und Arbeit wie am Fließband, sondern um Menschen.“ Dr. Joachim Rock fügte an: „Wir müssen endlich unser Bild ändern, dass Pflege keine produktive Dienstleistung sei. Pflege wird oft nur als Kostenfaktor gesehen. Wie soll dieser Bereich dann für junge Menschen attraktiv erscheinen?“
Der Experten auf dem Podium waren sich einig: Applaus von Balkonen und Einmalzahlungen seien ganz nett, reichten aber nicht. Es brauche echte Reformen und eine Neubewertung von Arbeit am und mit dem Menschen, um das System Pflege aufzuwerten. Dafür sprachen sich auch die Gäste in der Publikumsrunde aus.