Plenarsitzung des Landtags beginnt mit Gedenken an NS-Opfer

Straub: Lehren der Vergangenheit bleiben konkrete Prüfsteine für alle Demokraten Es gilt das gesprochene Wort! Stuttgart. Mit einer Erklärung von Landtagspräsident Straub zum gestrigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat am Mittwoch, 28. Januar 2004, die Plenarsitzung des baden-württembergischen Parlaments begonnen. Die eigentliche Gedenkfeier des Landtags hatte bereits am Dienstagabend in Stuttgart vor dem Mahnmal am Karlsplatz stattgefunden. Vor den Abgeordneten im Plenarsaal sagte Straub im Einzelnen: >>Der 27. Januar ist als Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gewidmet. Auch der Landtag hat sich gestern wieder daran beteiligt durch eine abendliche Stunde des Erinnerns und der Trauer unweit von hier am Mahnmal zwischen Altem Schloss und Karlsplatz. Trotzdem soll unsere heutige Plenarsitzung nicht routinemäßig beginnen. Wir halten inne, • um in Scham und Demut aller zu gedenken, die dem Rassenwahn, der Menschenverachtung und dem Massenmord der Nazis zum Opfer gefallen sind; • um uns in Hochachtung zu verneigen vor allen, die ihren politischen, weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen treu geblieben sind und die deshalb unter der Tyrannei des barbarischen Hitler-Regimes gelitten, ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Freiheit verloren haben. Wir wollen damit auch deutlich machen, • dass unser Gemeinwesen in bewusster Abkehr von der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft auf einem festen Wertefundament aufgebaut worden ist • und dass unsere tagespolitische Arbeit und unser demokratischer Streit dem Erhalt und der Stärkung dieser Werte zu dienen haben. Menschenwürde, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Teilhabegerechtigkeit, Solidarität, Bereitschaft des Einzelnen zur Mitverantwortung für die Allgemeinheit – all das ist nie endgültig errungen. Viele Gefahren sind offensichtlich: • Die Gefahren, die von den Rändern des politischen Spektrums drohen, • die Gefahren durch von außen kommende Fundamentalisten und Terroristen, die unsere freiheitliche Ordnung erst missbrauchen und dann zerstören wollen. Wir müssen uns als konsequent und wehrhaft erweisen • gegen Extremisten, egal welcher Nationalität; • gegen Hetzer, gleich welcher Ideologie; • gegen Fundamentalisten, unabhängig davon, mit welcher Religion sie sich tarnen. Genauso bedrohlich wie diese offenen Gefahren sind aber Entwicklungen, die schleichend verlaufen und deren Brisanz allzu leicht verkannt wird. Das heißt erstens: Der Antisemitismus darf in der Mitte unserer Gesellschaft nicht dadurch Wurzeln schlagen können, dass über eine pauschalierende Kritik an der Politik Israels alte Ressentiments gegen Juden geweckt werden. Das heißt zweitens: Wir dürfen keine anderen Ausgrenzungen und Diskriminierungen in unserem Gemeinwesen dulden. Und das heißt drittens: Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Problemlösungskompetenz der Parteien, in die Glaubwürdigkeit von uns Politikern und in die Funktionsfähigkeit der demokratischen Entscheidungsprozesse muss erhalten bleiben. Nicht zuletzt Enttäuschung, Resignation und fehlgeleitete Hoffnungen haben den Nationalsozialisten zur Macht verholfen. Deshalb sind nachvollziehbare und verlässliche Antworten auf die wachsenden Sorgen um die materielle Sicherheit und auf die Überforderungsängste in einer komplizierten Welt so wichtig. Die viel zitierten „Lehren der Vergangenheit“ sind nichts Abstraktes. Sie bleiben konkrete Prüfsteine für alle Demokraten. Und sie beschreiben die Verantwortung, der wir auch und gerade in den Parlamenten gerecht werden müssen. Ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben zum ehrenden Gedenken an alle Menschen, die von Nationalsozialisten ermordet, ihrer Menschenwürde beraubt, verfolgt, misshandelt, ausgeplündert oder ins Exil getrieben worden sind, weil sie einer anderen Rasse zugerechnet oder nach einem perversen Schema ausselektiert wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, weil sie sich nicht gleichschalten ließen. Ich danke Ihnen!<<