Präsentation im Hauptgeschoss des Landtagsgebäudes
Gedenkbuch für NS-verfolgte Abgeordnete Stuttgart. An unter der Nazi-Herrschaft ermordete oder aufgrund der Verfolgung zu Tode gekommene Mitglieder des Badischen Landtags und des Württembergischen Landtags erinnert ein Gedenkbuch, das jetzt im Haus des Landtags in der Foyerzone neben dem Mosersaal aufgelegt wurde. Anlässlich des 70. Jahrestages der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hatte das Präsidium des Landtags im Jahr 2003 eine solche Dokumentation in Auftrag gegeben. Erstmals öffentlich präsentiert wurde das Gedenkbuch in einer Feier am Dienstagabend, 30. März 2004, im Stuttgarter Landtag. Bei dieser Gelegenheit sagte Landtagspräsident Peter Straub (CDU) wörtlich: >>Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus darf sich nicht im Pauschalen und Abstrakten verlieren. Es muss die unterschiedlichen Einzelschicksale beschreiben, die konkreten Wege und Orte des Leidens benennen, die scheinlegalen und die verbrecherischen Mechanismen der Diktatur und der Verfolgung beleuchten. Das ist eine große, facettenreiche Aufgabe, der sich in den letzten Jahren die Gedenkstättenarbeit, zahlreiche lokale Projekte und vielfältige bürgerschaftliche Initiativen erfolgreich gewidmet haben. Nun trägt auch der Landtag von Baden-Württemberg einen spezifischen Mosaikstein bei. Dieses Gedenkbuch nämlich. Genauer: Der 70. Jahrestag der Machtergreifung durch die Nazis im vergangenen Jahr ist für das Landtagspräsidium Anlass gewesen, den Beschluss zu fassen, dass zum Gedenken an die ermordeten oder aufgrund Verfolgung zu Tode gekommenen Mitglieder des Badischen und des Württembergischen Landtags hier in unserem Parlamentsgebäude eine Dokumentation ausgelegt wird. Heute kann ich Ihnen das Werk vorstellen. Darin werden die Lebenslinien von achtzehn badischen und württembergischen Abgeordneten skizziert, die sich nicht gleichschalten ließen, die sich nicht von ihren Überzeugungen lossagten, die sich – bereit zur letzten Konsequenz – dem Regime widersetzten. Die achtzehn Schicksale zeigen exemplarisch, was es bedeutet, wenn wir sagen, dass unser Grundgesetz und unsere Landesverfassung mit der Verpflichtung auf die unveräußerlichen Menschen- und Bürgerrechte aus der bewussten Abkehr von der Ideologie und den Strukturprinzipien der Nazi-Diktatur herrühren. Überdies soll die Dokumentation erinnern, • wie die Rechtsordnung der Weimarer Republik Schritt für Schritt scheinlegal und pseudo-demokratisch, ja öffentlich außer Kraft gesetzt wurde, • wie das diktatorische und menschenverachtende System in schnellen Schritten aufgebaut wurde, • wie das politische Leben und wie die einzelnen Bereiche der Gesellschaft nacheinander gleichgeschaltet wurden, • wie der Föderalismus zerstört wurde, • wie die Nazis ungehemmt Gewalt einsetzten, nachdem sie ihre Macht zementiert hatten, • wie demokratisch gewählte Abgeordnete unter Missachtung fundamentaler Abgeordnetenrechte und bewusster Verletzung von Verfassungsbestimmungen gepeinigt, verfolgt, verhaftet und ermordet wurden, • wie dicht das Netzwerk der Terrorstätten auch im deutschen Südwesten war, in dem die Nazis ihr primitives, absurdes Freund-Feind-Weltbild auslebten und all jene peinigten und vernichteten, die sie zum Feind erklärt hatten. Kurt Schumacher, Eugen Bolz – in dem Gedenkbuch finden sich prominente Namen. Namen, deren Rang wir kennen und zu denen wir mit größtem Respekt aufschauen. Andere der achtzehn Namen zählen leider weniger zu unserem Gemeingut. Wer sich mit deren Lebenslauf und mit deren Bildportraits konfrontiert, wird eigentümlich beklommen. Man spürt: Gedenken braucht den Blick in Gesichter – Gesichter lassen jene Identifikation besonders nachhaltig entstehen, die das Postulat „Nie wieder“ zu einem wehrhaften Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit macht. Unsere Dokumentation mehrt nicht nur Wissen – sie bewahrt Spuren, sie hat sogar im Einzelfall Spurenfragmente zusammengefügt. Das heißt nicht zuletzt: Das äußerlich schlichte Buch und das einfache Pult „verheimlichen“, wie viel intellektuelle Mühen und wie viel aufwändiges und geduldiges Forschen in dem Projekt stecken. Leider mussten wir feststellen, dass über etliche Abgeordnete nur noch wenig bekannt ist. Trotz intensiver Recherchen ist es bei einigen nicht gelungen, mehr zu ermitteln als die knappen Lebensdaten. Zu großem Dank verpflichtet sind wir • den unterschiedlichen Archiven, von denen wir engagiert unterstützt worden sind, • und allen, die uns wissenschaftliche Beiträge und Ausarbeitungen zur Verfügung gestellt haben. Ganz wertvolle Beiträge verdanken wir den beiden Ehrengästen in unserer Mitte. Ich spreche von Ihnen, verehrte Frau Dr. Rupf-Bolz, und von Ihnen, lieber Herr Kollege Helmstädter. Sie, verehrte Frau Rupf-Bolz, haben als Tochter von Eugen Bolz und damit als Zeitzeugin beides beigesteuert: wichtige Unterlagen und ebenso wichtige persönliche Hinweise. Ähnliches gilt für Sie, lieber Herr Kollege Helmstädter. Sie sind ein Enkel des badischen Landtagsabgeordneten Julius Helmstädter, der am 11. Februar 1945 im KZ Dachau seinem Martyrium erlegen ist. Von Ihnen haben wir bedeutsame Materialien wie Briefe und Polizeiakten erhalten. Und bevor lange herumgerätselt wird, darf ich sagen: „MdL“ waren Sie von 1972 bis 1980 – und zwar als Abgeordneter in der dritten Generation. Denn Ihr Vater, Fritz Helmstädter, gehörte dem Württemberg-Badischen Landtag, der Verfassunggebenden Landesversammlung und dem Landtag von Baden-Württemberg von 1947 bis 1968 an. Ich heiße Sie, verehrte Frau Rupf-Bolz, und Sie, lieber Herr Kollege Helmstädter, ganz herzlich willkommen. Ihre Anwesenheit ehrt uns. Nicht verschweigen möchte ich, dass ein Großteil der Arbeit an diesem Gedenkbuch mit „Bordmitteln“ – sprich von der Abteilung II der Landtagsverwaltung – geleistet worden ist. Mein Dank gilt speziell Ihnen, lieber Herr Dr. Bradler, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landtagsarchivs. Alle haben sich die Aufgabe in eindrucksvoller Weise zu Eigen gemacht. Wert legte das Landtagspräsidium darauf, dass das Gedenkbuch nicht an irgendeinem Tag seiner Bestimmung übergeben wird, sondern mit einem aussagekräftigen Bezug zu einem der Opfer. Es hat sich deshalb bestens gefügt, dass die Arbeit jetzt vollendet werden konnte. Denn vor exakt 70 Jahren – in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1934 – ist Ludwig Marum im KZ Kislau bei Bruchsal von den Nazi-Mördern stranguliert und – zur Vortäuschung eines Selbstmordes – am Fensterkreuz seiner Zelle aufgehängt worden. Ludwig Marum stammte aus einer jüdischen Familie. Er war Sozialdemokrat und Rechtsanwalt. Schon 1914 kam er in den Badischen Landtag. 1918 übernahm er in der ersten provisorischen Regierung Badens das Amt des Justizministers. Von 1919 bis 1928 war er Vorsitzender der SPD-Fraktion im Badischen Landtag, anschließend Reichstagsabgeordneter. Am 10. März 1933 wurde er von den Nazis – unter Missachtung seiner Immunität als Abgeordneter – verhaftet, auf einem offenen Lkw am hellen Tag durch die Straßen Karlsruhes ins Gefängnis verfrachtet und zwei Monate später in das KZ Kislau verschleppt. Gleichsam wie in einem Brennglas bündeln sich in der Person und im Schicksal Ludwig Marums dreierlei: • erstens die Mischung aus Willkür, Inhumanität und verkommenem Denken, die den Nazi-Terror kennzeichnete; • dazu der Gedanke, dass vielleicht doch mehr erkennbar gewesen wäre, wenn man intensiver hingesehen hätte; • und schließlich die Erkenntnis, wie schnell es kein Halten gibt, wenn den Anfängen des Totalitären nicht gewehrt wird. Ludwig Marum verkörpert jedoch zugleich die zweite Seite. Am 27. April 1933 schrieb er seiner Frau aus dem Karlsruher Gefängnis: „Ich werde mir aber die Freiheit nicht erbetteln, und ich will auch nicht, dass ihr oder andere um meine Freiheit bettelt. Meine Freiheit können sie mir nehmen, aber nicht meine Würde und meinen Stolz." Und in der Tat: Die Nazi-Schergen konnten Ludwig Marum nicht seiner Würde berauben. Ludwig Marum und die weiteren siebzehn Namen sind somit Synonyme für unsere erste politische Verpflichtung – die Verpflichtung, sicherzustellen, • dass niemals wieder solche Briefe geschrieben werden müssen; • dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, dass Demokratie, Parlamentarismus und die Unabhängigkeit der vom Volk gewählten Abgeordneten nie mehr mit Füßen getreten werden. Deswegen steht über diesem Gedenkbuch der zentrale Satz, der uns – die demokratischen Kräfte dieses Landes – unverbrüchlich eint: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Möge es uns, den Abgeordneten des Landtags von Baden-Württemberg, gelingen, die Dokumentation zu dem zu machen, was sie für uns und für die Besucherinnen und Besucher dieses Hauses sein soll: • ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens, • ein Ort der politisch-ethischen Selbstvergewisserung • und ein Ort der historisch-politischen Bildung.