Präsident Peter Straub: Der eigentliche Kampf gegen Extremismus und Antisemitismus besteht im Kampf um die Köpfe und Herzen
Stuttgart/Laupheim. Den Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus hat der Landtag von Baden-Württemberg am Freitag, 27. Januar 2006, mit einer Gedenkfeier in Laupheim begangen. Vor Beginn der Feier im Schloss Großlaupheim legte Landtagspräsident Peter Straub (CDU) an der Gedenktafel des Jüdischen Friedhofs in Laupheim einen Kranz nieder. Der eigentliche Kampf gegen den Extremismus und Antisemitismus bestehe im Kampf um die Köpfe und Herzen, sagte Straub in seiner Gedenkrede. Wörtlich führte er aus: >>Wer die Würde eines Menschen antastet, vergeht sich an der Würde aller Menschen. Und zum Verbrecherischen und Abscheulichen kommt als Drittes die eigene Dummheit. Wir können nachher einen Ort besuchen, der davon einen plastischen Eindruck vermittelt: das „Museum zur Geschichte von Christen und Juden”. Was dort dokumentiert ist, spiegelt das Entscheidende wider: Die Juden in Deutschland sind angestammte Mitglieder der Gesellschaft, Mitbegründer der Nation und Quelle der Kultur. Unsere Wurzeln liegen nicht allein im Christentum. Zu unseren Wurzeln gehört das Jüdische. Mendelssohn, Heine, Marx, Einstein, Kafka, Rathenau – diese und andere große Namen prägten die Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft Deutschlands. Und das heißt: Die Nazi-Tyrannei und die Shoa waren ein Zivilisationsbruch und ein abartiges Schreddern der eigenen Lebensgrundlagen. Barbarische Inhumanität und geis-tige Finsternis befeuerten sich wechselseitig. Tiefer kann ein Volk nicht sinken. Wir müssen die Erinnerung an diese – welthistorisch singuläre – Katastrophe wach halten. Das unterstreichen wir am 27. Januar, am Jahrestag der Befreiung des Ver-nichtungslagers Auschwitz. Das öffentliche Gedenken sollte aber nicht den Irrtum fördern, dass die Shoa Deutschlands die ganze jüdische Geschichte sei. Natürlich: Die Brandspur des Antisemitismus reicht Jahrhunderte zurück; und die politisch-moralische Enthemmung ab der Machtergreifung Hitlers hatte eine Vorgeschichte. Zudem steht über allem das bekannte Wort von Elie Wiesel: „Seit Auschwitz ist nichts mehr so, wie es einst war.“ Eine gedeihliche Zukunft bedarf jedoch des Bewusstseins, dass es jüdisches Leben hier zu Lande seit dem Jahr 321 gibt. Die jüdischen Gemeinden, die bei uns wieder erblühen, sind also nichts Fremdes, nichts Aufgepfropftes. Sie gehören im Kern oft länger zu uns als manches, was wir an Heimatfesten würdigen. Die Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland ist ein historisches Geschenk. Ein unschätzbares Glück. Und eine damit große Verpflichtung. Auch deshalb konfrontieren wir uns in dieser Stunde mit dem Unfassbaren. Wir sehen vor uns die Bilder der Leichenberge und die Bilder der geschundenen, aufs Skelett abgemagerten Häftlinge. Voll Trauer und Scham ringen wir um Luft. Die Nazis erhoben Inhumanität und Menschenverachtung zu Staatszielen. Mütter und Väter; Kinder und Greise; Juden; Sinti und Roma; russische Kriegsgefangene; Homosexuelle; Zeugen Jehovas; die polnische Intelligenz; Behinderte; Gewerkschafter; Frauen und Männer, die an ihren politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen bis zur letzten Konsequenz festhielten – 12 Millionen Menschen wurden systematisch ausgegrenzt, gejagt, gequält, ermordet. Es gab auf Erden plötzlich etwas Schlimmeres als den Tod. Auschwitz ist zur Chiffre geworden für ein überzeitliches Grauen. Die Allgegenwart von Willkür, Versklavung, Misshandlung und Demütigung zerstörte die Persönlichkeit des Einzelnen. Den Opfern wurden ihr Name, ihre Identität und damit ihre Würde genommen. Auch wer das Martyrium überlebte, war in seinem Menschsein zutiefst verletzt und seiner Seele beraubt. Die Mehrheit der Deutschen hat nichts Konkretes erfahren von der Apokalypse in den Konzentrationslagern, vom perfektionierten Terror, von der Bestialität der SS-Schergen in den militärisch überfallenen und besetzten Ländern. Aber Hitlers Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie brauchte willfährige oder wenigstens gleichgültige Werkzeuge. Und dass Unrecht geschieht, konnten viele beobachten. Die völkische Hetze schwoll an, Verhaftungen einzelner und Abtransporte ganzer Familien gehörten zum Alltag. Das Böse triumphierte nicht zuletzt, weil die Anständigen wegsahen. All das ist – und bleibt – unser Erbe. Wir finden keine Entlastung, wenn wir differenzieren zwischen „denen damals” und „uns heute”. Wir haben einer spezifischen Verantwortung gerecht zu werden. Und wir müssen Rechenschaft ablegen, ob es uns gelingt. Das Gedenken am 27. Januar kann lediglich Zeichen setzen und unsere Sinne schärfen. Not tut, dass wir im Alltag – jeder an seiner Stelle – das Mögliche leisten, um Intoleranz, Antisemitismus und Gewaltphilosophien den Boden zu entziehen. Die Gefahr des Extremismus wird üblicherweise an Wahlergebnissen abgelesen: Sind radikale Kräfte mit ihren Radau-Parolen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, herrscht allseits Erleichterung. Das ist verständlich. Das ist jedoch zugleich oberflächlich und damit fahrlässig. Denn wir alle wissen: Es gibt ein radikales Denken, das sich nicht in Wahlresultaten niederschlägt und trotzdem zerstörend wirkt. Mit wachsender sozialer Verunsicherung nehmen die gefährlichen Phrasen zu. Und die Angst vor einem materiellen und gesellschaftlichen Abstieg hat längst die so genannte Mittelschicht erreicht. Wo wird es enden? Und wann erwischt es mich? – Bange Fragen dieser Art stellen sich bereits hoch qualifizierte Arbeitnehmer. Das sollte uns alarmieren. Bei allem ökonomischen und technologischen Wandel muss unser Wertesystem erkennbar und praktisch erlebbar bleiben. Dass wir Export-Weltmeister sind, kommt allzu häufig nicht bei den Menschen an. Vielerorts scheint die Kunst der Unternehmensführung vorrangig im Abbauen von Arbeitsplätzen und im Verlagern von Betrieben zu bestehen. Unser marktwirtschaftliches System verliert seine Legitimation, wenn wachsende Teile der Bevölkerung vom Erfolg ausgegrenzt werden. Soziologen warnen nicht grundlos vor einer „Armee der dauerhaft Überflüssigen”. Wer sich abserviert und im Stich gelassen fühlt, wird empfänglich für extremistische Ideologien, für primitive Animositäten, für blanken Hass. Demokratie heißt: Die Menschen werden gebraucht – auch volkswirtschaftlich gebraucht. Das Bewusstsein dafür darf nirgends verloren gehen. Es gilt das Primat der Menschenwürde. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person” – diese Sätze aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sind keine philanthropischen Wünsche; sie sind geltendes Gesetz. Alles politische Handeln muss sich daran messen lassen. Innenpolitisch und im internationalen Kontext. Beim Blick in die Welt können wir leider nicht verhehlen: Mannigfaltige Fragen sind unbeantwortet: Warum waren die Pogrome in Kambodscha, in Ruanda, im früheren Jugoslawien oder im Sudan nicht im Ansatz zu verhindern? Wie begegnet die zivilisierte Welt Despoten? Wie reagiert die Staatengemeinschaft auf rechtswidrig vorangetriebene Atomprogramme? Wie gehen wir damit um, dass zu viele Köpfe in islamischen Ländern von einem Hass auf Israel vergiftet sind? Der iranische Präsident tritt derzeit den globalen Wertekonsens zynisch und provozierend mit Füßen: Indem er dreist nach Massenvernichtungswaffen strebt. Und durch seine skandalösen anti-semitischen und anti-israelischen Äußerungen. Nicht bloß die EU, die UN und die supranationalen Organisationen, auch alle Religionsgemeinschaften sind aufgefordert, Wege zu finden, ihm vernünftig und dennoch unmissverständlich klar zu machen, dass sein Treiben und seine Hetz-Tiraden im 21. Jahrhundert nicht akzeptiert werden. Innenpolitisch ist uns aufgegeben, – das Bewusstsein für den Wert der Demokratie zu stärken; – jeder Form von Extremismus, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit mutig zu begegnen; – und unsere Verfassungsordnung vor jeglicher Aushöhlung konsequent zu schützen. Radikalismus und Antisemitismus haben viele Gesichter. Der Kampf gegen sie muss deswegen differenziert geführt werden. Und er sollte ganz vorne beginnen. Da ist die Verrohung des Denkens und Handelns schon bei Kindern. Das Ächten von Gewalt und das Vermitteln von gegenseitigem Respekt sind Herausforderungen für die ganze Gesellschaft. Kinder müssen unmittelbar erfahren, was Nächstenliebe, Rücksicht und Mitmenschlichkeit bedeuten. Der demokratische Rechtsstaat garantiert allen Menschen das Recht auf die Unversehrtheit der Person. Er ist verpflichtet, dieses Recht auch durchzusetzen. Und das bedeutet: Vieles ist nicht in Ordnung, solange in Deutschland das jüdische Gemeindeleben von der Polizei geschützt werden muss. Die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie darf sich aber nicht in polizeilicher Repression erschöpfen. Unverzichtbar ist präventives Handeln von der Gesetzgebung über die schulische und politische Bildung bis hin zur Förderung des bürgerschaftliches Engagements. Der eigentliche Kampf gegen den Extremismus und Antisemitismus besteht im Kampf um die Köpfe und Herzen. Es geht darum, Resistenz zu erzeugen. Resistenz gegen sämtliche Protagonisten einfacher Lösungen; gegen braune Dumpfbacken; gegen jene nun fein gewandeten Biedermänner, die alte Klischees bedienen oder neue produzieren. Und es geht darum, Zivilcourage zu wecken. Was alle betrifft, kann bloß miteinander gelöst werden. Wir müssen gemeinsam für eine friedfertige Gesellschaft eintreten. Dabei sollten wir nicht leugnen: Populisten finden dann Resonanz, wenn sich das Zerrbild verfestigt, Politik und Medien beschäftigten sich nicht ernsthaft genug mit den Problemen, die im persönlichen Umfeld als existenziell empfunden werden. Zur Prävention gehört daher eine gelingende Integration. Gerade angesichts der Internationalisierung des Lebens muss unstrittig sein: Freiheit ist nie voraussetzungslos. Sie braucht ein kollektives Fundament. Wir dürfen keine Gruppen dulden, die sich in einer Trutzburg fundamentalistischer Ideen verschanzen, ihre Ziele verabsolutieren und Andersgläubige negieren oder gar militant bekämpfen. Offenheit und Toleranz lassen sich nur bewahren, wenn Fremdes als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. Sonst greifen Mechanismen, die dem Antisemitismus sehr ähnlich sind. Erfolgreiche Integration hilft, Radikalisierungsprozesse zu verhindern. Der 27. Januar – der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – ist ein Brückenschlag von der Vergangenheit zu den Problemen unserer Zeit. Mögen wir an allen Tagen des Jahres die Kraft haben, über diese Brücke zu gehen. Damit es nicht wieder geschieht – so oder anders!