Präsidentin Aras: Die größte Gefahr liegt darin, die Menschenrechte für selbstverständlich zu nehmen

Stuttgart. „Der Mensch steht im Mittelpunkt. Seine Würde ist unveräußerlich. Seine Rechte gelten ohne jede Einschränkung.“ Das betonte Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) bei der digitalen Veranstaltung zum Tag der Menschenrechte am Mittwochabend, 8. Dezember 2021, im Haus des Landtags, in Bezug auf den 1. Satz des 1. Artikels der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Teilnehmer der Veranstaltung waren neben Aras der Tübinger Völkerrechtler Prof. Dr. Jochen von Bernstorff sowie die Jesidin und IS-Überlebende Sanaa Ali Alneamat.  

Die Botschaft dieses ersten Satzes sei kraftvoll und unmissverständlich, so die Präsidentin. „Egal, wer man ist, wo man herkommt, wo man lebt, wie man aussieht, was man glaubt, wie man liebt und egal, was man getan hat: Jeder Mensch ist gleich viel wert und hat die gleichen Rechte.“ Muhterem Aras führte aus, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte die Antwort auf historisches Unrecht gewesen sei. „Sie war das gemeinsame Bekenntnis der Vereinten Nationen zu Frieden und Gerechtigkeit in der Welt“, sagte sie. Auch heute, fast 73 Jahre später, strahle dieses Bekenntnis noch immer in politisches Handeln weltweit aus. 

Landtagspräsidentin Aras machte darauf aufmerksam, dass sich gerade in der globalen Corona-Pandemie zeige, wie schnell konkretes politisches Handeln die Menschenrechte unterlaufen könne. Laut des Jahresberichts von Amnesty International hätten sich Ungleichheit, Diskriminierung und Unterdrückung in der Pandemie weltweit erheblich verschärft. „Die Corona-Pandemie ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine Krise der Menschenrechte“, befand Aras. Doch die Vereinten Nationen hätten 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte etwas bewiesen: „Dass globale Kooperation möglich ist und dass internationale Zusammenschlüsse die Weltgemeinschaft weiterbringen.“ Doch die größte Gefahr liege darin, die Menschenrechte für selbstverständlich zu nehmen. „Wenn wir sie nicht einfordern, verlieren sie ihre Kraft“, so Aras.

Prof. Dr. Jochen von Bernstorff, der dieses Jahr den Tübinger Menschenrechtspreis verliehen bekommen hat, lehrt Verfassungsrecht sowie Völkerrecht und Menschenrechte an der Universität Tübingen. Er thematisierte in seinem Fachvortrag die Erfolge und Herausforderungen des internationalen Menschenrechtsschutzes. „Trotz aller Erfolge des Menschenrechtsdiskurses werden in absoluten Zahlen heute mehr Menschen gefoltert, getötet, willkürlich weggesperrt oder leben in Verelendung und absoluter Armut als jemals zuvor auf diesem Planeten“, sagte von Bernstorff. Durch die Klimakrise werde sich die Lage weiter enorm zuspitzen, wenn die wichtigsten nationalen Regierungen nicht doch noch radikal umsteuerten. 

Dem Völkerrechtler zufolge betreffen Menschenrechtsverletzungen zahlreiche Bereiche. Dazu zählten etwa globale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten beim Klimaschutz, der Ernährung, der Bildung, Lebenschancen und auch der Verteilung von Covid-19-Impfstoffen. „Während in westlichen Industrienationen um die 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung geimpft sind, liegt die Impfquote in den ärmsten und besonders bevölkerungsreichen Ländern der Erde immer noch bei unter fünf Prozent. Und während wir anfangen, 5-Jährige zu impfen, verhindern globale Patentschutzregeln den schnellen Aufbau eigener kostengünstiger Herstellungskapazitäten im globalen Süden“, so von Bernstorff. Mitverantwortlich für globale Ungerechtigkeiten seien auch die EU und andere westliche Staaten, die nur eine geringe Bereitschaft zeigten, Wohlstand zu teilen.    

Anschließend sprach Anna Koktsidou (SWR), die Moderatorin des Abends, mit Sanaa Ali Alneamat vom Verein Farida. Sie ist eine im Irak geborene Jesidin und ist vor dem Terror des IS-Regimes nach Deutschland geflohen. Sie hat brutale Gewalt, tiefstes Leid und einen menschenverachtenden Genozid überlebt. Bei der Veranstaltung berichtete sie darüber, wie sie gemeinsam mit ihrer Familie von IS-Terroristen entführt, gefangen gehalten und misshandelt wurde. „Sie haben alles mit uns gemacht“, sagte Sanaa Ali Alneamat. „Nach vier Monaten konnte ich zusammen mit meiner älteren Schwester fliehen“, berichtete sie. Ihre jüngere Schwester blieb fünf Jahre in IS-Gefangenschaft. Ihre Eltern und ihren beiden Brüdern werden bis heute vermisst. Sanaa Ali Alneamat sagte, sie gehe nicht davon aus, dass sie noch am Leben seien. Heute engagiert sich Sanaa Ali Alneamat im Verein Farida e.V. und kämpft für Menschenrechte. 

Auch die Zuschauerinnen und Zuschauer des Livestreams konnten Fragen an die Runde stellen. Die Aufzeichnung der Veranstaltung kann auf dem YouTube-Kanal des Landtags angesehen werden: https://www.youtube.com/watch?v=PnCWT8nTGKg