Präsidentin Aras: Die Zukunft des Erinnerns und die Zukunft unserer Demokratie liegen in unser aller Hand
Stuttgart/Mössingen/Rexingen/Gäufelden/Rottenburg am Neckar. Im Zeichen der Erinnerung an die Opfer der NS-Diktatur und an den Widerstand gegen den Terror stand am 12. und 13. Juli 2023 die diesjährige Gedenkstättenreise von Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne). Sie besuchte verschiedene Gedenkorte in den Landkreisen Tübingen, Böblingen und Freudenstadt, um an den Beginn der Zerstörung der Demokratie vor 90 Jahren zu erinnern.
Der 30. Januar 1933 markiert mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler den Beginn der NS-Diktatur, die Terror, Verfolgung und Vernichtung nach sich zog. Schon im März 1933 war mit dem Ermächtigungsgesetz die für eine demokratische Staatsordnung konstituierende Gewaltenteilung aufgehoben worden. „Die vielen Gedenkorte in Baden-Württemberg erinnern uns nicht nur an historische Ereignisse. Sie erinnern uns, dass unsere Grundwerte eine Antwort sind: auf Unrecht, auf Hass, auf Unmenschlichkeit“, erklärte Landtagspräsidentin Aras im Rahmen der Gedenkstättenreise. Gedenkorte seien eine Mahnung, „für diese Grundwerte auch einzustehen“.
„Unsere Demokratie hat nur eine Zukunft, wenn das Erinnern eine Zukunft hat“, zeigte sich Aras überzeugt. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit könne dabei helfen zu verstehen, wie fragil Demokratie ist, wenn Menschen sich nicht aktiv dafür einsetzen. „Gesetzestexte allein können unsere Werte nicht garantieren. Dazu braucht es Zivilcourage. Es braucht Menschen, die aufstehen, wenn diese Werte angegriffen werden.“ Darin, so Aras, „besteht unsere Pflicht als mündige Bürgerinnen und Bürger, als Demokratinnen und Demokraten“.
Bei ihren Gedenkstättenreisen in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung sucht die Landtagspräsidentin den Austausch mit Ehrenamtlichen, die sich an unterschiedlichen Gedenkorten in Baden-Württemberg für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen einsetzen.
Aras traf in den vergangenen beiden Tagen unter anderem auf engagierte Ehrenamtliche in Gedenkstätten und Vereinen, auf Aktive der Jugendgedenkarbeit sowie auf Nachfahren der Streikführer des Mössinger Generalstreiks von 1933.
Die Landtagspräsidentin informierte sich über aktuelle Themen der Gedenkstättenarbeit und würdigte die oft ehrenamtliche Arbeit der Menschen, die eine lebendige Erinnerungskultur pflegen, um Demokratie und Grundwerte auch heutzutage zu wahren und zu verteidigen. „Ich danke allen Ehren- und Hauptamtlichen, die die Gedenkarbeit maßgeblich tragen und oft einen sehr langen Atem benötigt haben, bis sie gesellschaftliche wie politische Unterstützung erhalten haben. Der Landtag von Baden-Württemberg steht mit großer Mehrheit hinter den Gedenkstätten im Land, was sich auch in einem über das letzte Jahrzehnt etwa verzehnfachtem Etat ausdrückt.“ Aras sprach sich dafür aus, sich für den weiteren Ausbau der Unterstützung einzusetzen, gerade um den Generationenwechsel in den Vereinen zu unterstützen. Sie zeigte sich erfreut, dass schon jetzt viele junge Menschen in der Gedenkarbeit tätig sind, u. a. als vom Landkreis Tübingen oder von der Landeszentrale für politische Bildung ausgebildete Jugendguides.
So diskutierten junge Ehrenamtliche auf Einladung der Stadt in einer öffentlichen Abendveranstaltung am 12. Juli mit dem Tübinger Kreisarchivar Hon. Prof. Wolfgang Sannwald, Dr. Ines Mayer von der KZ-Gedenkstätte Bisingen und der Mössinger Museumsleiterin Dr. Franziska Blum darüber, wie die Zukunft des Erinnerns an die NS-Zeit zukünftig gestaltet werden kann.
Zuvor war am Nachmittag die städtische Ausstellung „Vor 90 Jahren – Generalstreik in Mössingen“ in der Kulturscheune Mössingen sowie der Erinnerungskubus im Rathaus Mössingen besucht worden. Allein in Mössingen war man am 31. Januar 1933 einem reichsweiten Aufruf zum Generalstreik gefolgt, um gegen die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zu protestieren. „Es hat mich unglaublich beeindruckt und berührt, wie schnell die Mössingerinnen und Mössinger Widerstand geleistet haben“, bekannte Aras. Die Landtagspräsidentin nahm Bezug auf die Aufarbeitung des Streiks vor 90 Jahren, die erst Jahrzehnte später begonnen hatte und vor Ort kontrovers diskutiert worden war. Auch wenn es lange gedauert habe, sei sie froh, dass inzwischen an den Widerstand erinnert werde, sagte Aras. Die Auseinandersetzung der Gemeinde mit der eigenen Geschichte sei notwendig für ein aufrichtiges Zusammenleben. Mössingen könne stolz auf den frühen Widerstand gegen Hitler sein.
Der Donnerstag, 13. Juli, begann in der Forschungs- und Archivstelle Artur und Felix Löwenstein in Mössingen. Der Löwenstein-Forschungsverein e. V. (gegr. 2007) erforscht die Familiengeschichte der Brüder Artur und Felix Löwenstein, die 1919 das Textilunternehmen „Pausa“ in Mössingen gegründet hatten. Die „Löwenstein’sche Pausa“ propagierte seit 1921 nach eigener Aussage den „modernen Stil“ und arbeitete seit 1928 mit dem Bauhaus zusammen, indem u. a. Studentinnen aus Dessau in Mössingen Praktika absolvierten. 1936 wurde das jüdische Unternehmen von Nationalsozialisten enteignet, ihre Besitzer Artur und Felix Löwenstein wurden mit ihren Familien vertrieben. 73 Jahre danach kamen 2009 auf Initiative des Vereins erstmalig Nachkom¬men der Firmengründer nach Mössingen. Zehn Jahre später rief der Verein zusammen mit den Nachkommen und mit Unterstützung der Stadt Mössingen sowie des Landkreises Tübingen die „Forschungs- und Archivstelle Artur und Felix Löwenstein“ ins Leben. „Ich danke dem Löwenstein-Forschungsverein dafür, dass er die Erinnerung an den Mössinger Generalstreik, die Familie Löwenstein und damit auch das jüdische Erbe in Mössingen aufrechterhält“, sagte Landtagspräsidentin Aras.
Weiter ging es in der ehemaligen Synagoge und auf dem Jüdischen Friedhof in Rexingen. In Rexingen ist das Zusammenleben von Christen und Juden ab 1516 bezeugt. Die Synagoge wurde 1837 eingeweiht. Von den knapp 1.000 Einwohnerinnen und Einwohnern waren 1933 etwa ein Drittel jüdisch. 41 Rexinger Männer, Frauen und Kinder schlossen sich 1938 einer im Deutschen Reich einzigartigen Gruppen-auswanderung nach Palästina an. Sie gründeten im britischen Mandatsgebiet die Siedlung Shavei Zion. Am 9. November 1938 wurde die Synagoge Rexingen geschändet. Über 120 Personen wurden deportiert, nur drei überlebten. 1952 richtete die evangelische Pfarrgemeinde Horb-Dettingen eine Kirche in dem Gebäude ein, in dem seit 1997 der Rexinger Synagogenverein seinen Sitz hat. Landtagspräsidentin Aras zeigte sich beindruckt vom großen Engagement der Vereinsmitglieder, die Gedenkstätte zu erhalten, intensive Beziehungen nach Shavei Zion und den Nachfahren der Rexinger Jüdinnen und Juden zu gestalten sowie mit Schulen anhand des jüdischen Erbes zukunftsorientierte Erinnerungsarbeit zu leisten. So pflegen regelmäßig Schülerinnen und Schüler den Jüdischen Friedhof Rexingen. Dieser wurde 1760 angelegt und gehört mit mehr als 1.100 Gräbern zu den größten jüdischen Friedhöfen in Baden-Württemberg. Der Verein „Ehemalige Synagoge Rexingen“ leistet unter anderem Erinnerungsarbeit mit einer digitalen Datenbank, die auf über 100.000 jüdische Namen verweist.
Die KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen, nächste Station auf der Gedenkstättenreise, erinnert an die 601 jüdischen Häftlinge, die 1944/45 im KZ-Außen-lager Hailfingen/Tailfingen Zwangsarbeit leisten mussten, um den damaligen Nachtjägerflugplatz auszubauen und instandzuhalten. Aras besuchte das Dokumentationszentrum in Gäufelden-Tailfingen, das der 2010 für die Betreuung und Entwicklung der Gedenkstätte gegründete Verein „KZ Gedenkstätte Hailfingen Tailfingen e. V.” als Lernort für die regionale NS-Geschichte betreibt sowie das Mahnmal der KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen in Rottenburg am Neckar-Hailfingen. Das Mahnmal am westlichen Ende der ehemaligen Startbahn des Nachtjägerflughafens Hailfingen erinnert seit Juni 2010 an die 601 KZ-Häftlinge und hält ihre Namen fest. Es wurde von dem Ellwanger Künstler Rudolf Kurz aus Aluminium, dem Material des Flugzeugbaus, und aus Beton geschaffen und von der Stadt Rottenburg finanziert. Ein Gedenkpfad führt entlang dieser Spuren, vorbei an zwölf Stationen mit Informationstafeln und einem Audioguide. Auf dem Tailfinger Friedhof liegen 75 Häftlinge des KZ-Außenlagers begraben, ihre Namen konnten ihnen wiedergegeben werden.
„Es berührt mich sehr, wie würdevoll von der Leidensgeschichte und dem Widerstand der ehemaligen Häftlinge erzählt wird und wie der Verein und die beteiligten Städte sich damit auch gegen das Vergessen und für die Förderung der Demokratie heute einsetzen. Es stimmt mich hoffnungsfroh, dass junge Menschen eine aktive Rolle dabei einnehmen“, so Aras im Gespräch mit einem Jugendguide, der die Landtagspräsidentin über das Gelände führte und von einem Besuch in Israel ein bewegendes Audiovermächtnis des letzten noch lebenden Häftlings mitgebracht hatte.