Präsidentin Aras: Gedenken ist Gradmesser für Werteverständnis unserer Gesellschaft
Stuttgart/Neckarzimmern. 80 Jahre nach der Deportation jüdischer Bürgerinnen und Bürger in das südfranzösische Internierungslager Gurs hat Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) dazu aufgerufen, das Erinnern an die von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Menschen wachzuhalten. „Für alle Demokratinnen und Demokraten ist die Erinnerung wichtig und notwendig“, sagte Aras am Sonntag, 18. Oktober 2020, bei einer Gedenkveranstaltung am Mahnmal für die nach Gurs deportierten Juden in Neckarzimmern. Gedenken und wie wir es lebten sei auch ein Gradmesser für das Werteverständnis unserer Gesellschaft. Ursprünglich war geplant, dass Präsidentin Aras am 25. Oktober für das Land Baden-Württemberg auch an der zentralen Gedenkfeier in Gurs teilnimmt, die nun aber wegen der Corona-Pandemie entfällt.
Im Oktober 1940 deportierten die Nationalsozialisten mehr als 6.500 Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das Internierungslager Gurs in Südfrankreich. Ab März 1942 wurden diese in aus Viehwagen zusammengestellten Deportationszügen in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor gebracht. Die meisten der Deportierten wurden dort noch am Tag ihrer Ankunft ermordet.
Die Landtagspräsidentin erinnerte daran, dass nicht nur die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern im Mittelpunkt der Erinnerung stehen dürfe, sondern auch der Umgang mit den Überlebenden nach Ende der NS-Diktatur. So nannte Aras die Gurs-Überlebende Hanna Meyer-Moses als Beispiel, die schrieb: „Wir wurden immer wieder aufgefordert, unsere Verfolgungs- und Lagerzeit zu beweisen, auch die unserer Eltern! Einmal warf man mir sogar vor, neun Monate Entschädigung für die Lagerhaft meiner Eltern zu viel verlangt zu haben.“ Diese „zweite Geschichte“ der NS-Zeit sei für unsere Gesellschaft ebenso relevant und aktuell wie das Gedenken an die NS-Verbrechen selbst, betonte Aras.
Zu dieser Zeit habe der Mehrheitsgesellschaft der Holocaust weit weg erschienen. „Dass das heute anders ist, dass etwa junge Menschen in dutzenden Gemeinden Erinnerungssteine gesetzt haben, zeugt von einem Reifeprozess unserer Demokratie.“ Dies lasse sich auch am politischen Engagement für Gedenkkultur ablesen. Die Präsidentin dankte den Abgeordneten des Landtags, die die Mittel für Gedenkarbeit seit 2011 verzehnfacht hätten. Auch die Arbeit der Gedenkstätte in Gurs habe der Landtag gefördert.
Präsidentin Aras rief allerdings auch in Erinnerung, dass es gegen diese Entscheidung Widerstand gegeben habe. So sei im Finanzausschuss ein Antrag gestellt worden, diese Gelder für Gurs zu streichen. „Es gibt politische Kräfte, die einen Schlussstrich fordern. Diese Kräfte legen damit die Axt an die Wurzeln unserer Verfassung.“ Um dieses Wertefundament zu schützen, bräuchten wir ein Gedenken, das den Bezug zum Hier und Jetzt herstellt.
Der Gedenkort Neckarzimmern setze diesen Anspruch beispielhaft um. Das Mahnmal stehe für eine klare Ausrichtung von Gedenken auf die junge Generation. Er sei Teil einer Jugendbegegnungsstätte und ein Ort, der es Schulen ermögliche, Geschichte konkret erfahrbar zu machen. „Wenn wir die Erinnerung als Fundament begreifen, um den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen, dann hat Gedenken ein ganz wichtiges Ziel erreicht“, so die Landtagspräsidentin.
„Nie wieder“ heiße heute konkret, unsere Gesellschaft zu verteidigen gegen Versuche, sie in verfeindete Gruppen aufzuspalten. Es heiße für Zusammenhalt einzustehen und damit den populistischen Parolen „Wir gegen die“ den Nährboden zu entziehen. „Es heißt aufzustehen gegen die Abwertung und Ausgrenzung von Mitmenschen aufgrund ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Identität und anderer äußerer Merkmale. Gedenken heißt, sich einzusetzen für eine liberale, offene Gesellschaft“, sagte Muhterem Aras abschließend.
Organisiert wurde die Gedenkveranstaltung von der Evangelischen Landeskirche Baden. Neben Aras sprachen unter anderem Landesrabbiner Moshe Flomenmann und Landesbischof Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh.