Rechtsstaat muss wehrhaft sein gegen Rassismus, Antisemitismus, Intoleranz und Menschenfeindlichkeit

Es gilt das gesprochene Wort!

Stuttgart/Freiburg. Den zentralen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat der Landtag von Baden-Württemberg am Mittwoch, 27. Januar 2010, in Freiburg begangen. Im Mittelpunkt der Veranstaltung im Konzerthaus Freiburg stand die Gedenkrede von Landtagspräsident Peter Straub (CDU). „Der Rechtsstaat muss wehrhaft sein gegen Rassismus und Antisemitismus, Intoleranz und Menschenfeindlichkeit“, erklärte Straub. Im Einzelnen führte der Landtagspräsident aus: >>Heute vor 65 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Einer der wenigen Überlebenden beschreibt das so: „Die erste russische Patrouille tauchte gegen Mittag des 27. Januar 1945 in Sichtweite des Lagers auf. Es waren vier junge Soldaten zu Pferde. Vorsichtig ritten sie mit erhobenen Maschinenpistolen die Straße entlang, die das Lager begrenzte. Als sie den Stacheldraht erreicht hatten, hielten sie an um sich umzusehen, wechselten scheu ein paar Worte und blickten wieder, von einer seltsamen Befangenheit gebannt, auf die durcheinanderliegenden Leichen, die zerstörten Baracken und auf uns wenige Lebende. Wir lagen in einer Welt der Toten, um uns und in uns war die letzte Spur von Zivilisation verschwunden.“ Der Verfasser der Schilderung gehörte zu den rund 7.000 Menschen, die am 27. Januar 1945 in dieser Hölle auf Erden noch lebend gefunden wurden. 58.000 andere waren kurz zuvor auf einen der berüchtigten Todesmärsche getrieben worden. Der 27. Januar 1945 steht nicht für die finale Erlösung vom Nazi-Gräuel. In Auschwitz jedoch hatte der Horror ein Ende. Ab 1941 waren hier über eine Million Menschen bestialisch gequält und barbarisch ermordet worden. Auschwitz – eine Stadt in Polen, gelegen zwischen Kattowitz und Krakau: Ihr Name steht seitdem für das Schlimmste, was Menschen angetan werden kann. „Auschwitz“ – Synonym für gigantische Verbrechen. „Auschwitz“ – Inbegriff für die Schoah: den Versuch, alle europäischen Juden zu ermorden. Die Nazi-Tyrannei war eine Despotie gegen Humanität und Moral. Hitler begnügte sich nicht, den totalen nationalsozialistischen Staat mit einer völlig gleichgeschalteten Gesellschaft zu schaffen. Hitler wollte mehr: die globale Führungsrolle Deutschlands und die Germanisierung Europas bis zum Ural – erzwungen mit Vernichtungskriegen und industriell organisiertem Völkermord. „Auschwitz“ bildete nur einen Teil der Schreckens- und Mordmaschinerie des Dritten Reichs. Nach den Überfällen auf Polen und auf Russland wurden im Osten planmäßig Tötungsfabriken errichtet. Zuvörderst die Vernichtungslager Sobibor, Majdanek, Kulmhof, Treblinka. Auch einige Konzentrationslager im Reichsgebiet hatten Gaskammern: Mauthausen, Sachsenhausen, Ravensbrück oder Neuengamme zum Beispiel. Das Netz der Terrorstätten war flächendeckend. Eine eigene Geografie mit dem ausschließlichen Zweck, Menschen zu schinden, zu peinigen, auszulöschen. Menschen, denen Menschenwürde und Lebensrecht entzogen waren, – weil sie als undeutsch galten; oder weil sie unbeugsam an ihrem Glauben oder ihrer Weltanschauung festhielten; – oder weil sie nicht der perversen Fiktion des Herrenmenschen entsprachen; – oder weil sie aus irgendeinem Grund durch das abartige Raster des NS-Staates fielen. Wir gedenken heute aller von den Nationalsozialisten drangsalierten und ermordeten Menschen: Juden, Sinti und Roma, Slawen, Zeugen Jehovas, Zwangsarbeiter, Homosexuelle, Kranke, Behinderte. Und wir gedenken jener, die eingekerkert und hingerichtet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder bedrängte Menschen schützten. An den singulären Verbrechen der Nazis erschüttern uns nicht allein das Ausmaß des Mordens und die Intensität des Quälens. Fassungslos machen uns zudem die technische Rationalität, die perfekten bürokratischen Verfahren, das scheinlegale Triumphieren, das biedere und zugleich zynische Außerkraftsetzen der ethischen Grundwerte. Das Geschehene lässt sich in seinen Abläufen detailliert rekonstruieren. Letztlich verstehen können wir es nicht. Genau darin liegt eine zentrale Herausforderung für uns und die Generationen nach uns. Die ärgsten Feinde der Erinnerung sind das Verdrängen und das Leugnen. Kaum weniger gefährlich sind indes bequeme Vordergründigkeit, geschäftsmäßiges „Aufarbeiten“ und jene Pseudo-Betroffenheit, die ohne wirkliches Engagement lediglich die äußere Form zu wahren sucht. Dass wir die Menschheitsverbrechen der Nazis analysieren, reicht nicht. Wir müssen – als Nation und als Einzelner – innerlich bereit sein, mit dieser negativen Identität zu leben. Nur wenn wir unsere immerwährende Verantwortung für DIE moralische Katastrophe in unserer Geschichte willentlich übernehmen, werden wir die Zukunft dauerhaft menschlich gestalten. Damit nachhaltige Läuterung entsteht, muss sich das Faktenwissen verbinden mit dem Einfühlen in das Leid der Opfer. Aller Opfer. Wer Opfer vergisst und so erlittenes Unrecht relativiert, der stellt sich auf die Seite der Täter. „Auschwitz“ in eine konkrete Beziehung zur Gegenwart und Zukunft zu setzen – dem dient der heutige Gedenktag. Wir verneigen uns in Trauer, Scham und Demut vor den Opfern. Und wir halten inne um unserer selbst willen. Uns eint das Anliegen, die Grundlagen unseres Daseins in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu festigen. Die Bundesrepublik Deutschland wurde gegründet als Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Unrechtsstaat. Und als Bollwerk gegen dessen Wiederkehr! „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – der Artikel 1 unseres Grundgesetzes formuliert DIE Antwort auf die Erfahrungen der Nazi-Diktatur. Er verpflichtet uns zu Humanität und Toleranz, zu Solidarität und Gemeinsinn. Wir sind gefordert, die Werte zu leben, die eine freiheitliche und soziale Demokratie prägen. Und das lohnt sich. Alle in unserem Land sollten das Erreichte schätzen: ein historisch einzigartiges Maß an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, an Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung, an sozialer Sicherheit, an Meinungs- und Glaubensfreiheit. Wir haben viel zu verlieren. Prüfen wir deshalb ständig, wie wir unser individuelles Verhältnis zum Gemeinwesen gestalten – was wir vom Staat erwarten und was wir für ihn zu tun bereit sind. Der Rechtsstaat muss wehrhaft sein gegen Rassismus und Antisemitismus, Intoleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Aber Gesinnungen lassen sich nicht einfach verbieten. Und sie können geschickt getarnt werden. Die Neo-Nazis treten nicht mehr als ewiggestrige Hitler-Verehrer, als Radaubrüder mit Springerstiefeln und Bomberjacke auf. Fachleute sprechen von „taktischer Zivilisierung“: Die modernen Braunen geben sich betont bürgerlich und versuchen, die sozialen Probleme unserer Zeit für sich zu nutzen. Sie greifen gezielt Themen auf, die uns in der Mitte unserer Gesellschaft bewegen – etwa die Auswirkungen der Globalisierung und damit verbundene Verlustängste. Ihnen spielt dabei in die Hände, dass der Markt nicht alles automatisch zum Guten richtet – wie wir in den vergangenen achtzehn Monaten exemplarisch erfahren haben. Die Arbeit an einer besseren Weltfinanz- und Weltwirtschaftsordnung hat begonnen. Sie muss handfeste Ergebnisse zeitigen. Wir brauchen strenge Regeln, die den Kasino-Kapitalismus effektiv bändigen. Und es stellt sich die Frage, wie die mit Staatsgeldern gerettete Finanzbranche am Sanieren der verschuldeten Staatskassen beteiligt werden kann. Trotz der stärksten Rezession in sechs Jahrzehnten ist die Arbeitslosigkeit hierzulande nur moderat gestiegen. Der Staat hat mit zwei Konjunkturprogrammen und mit dem Ausweiten des Kurzarbeitergeldes entschlossen auf die Krise reagiert. Verlässlich Arbeit zu haben gehört zum Kern sozialer Teilhabe. Möglichst alle Menschen müssen erfahren, dass sie gebraucht werden. Das erhöht die Resistenz gegen Infizierungen von rechts außen. Und von links außen. Ungeniert und unverschleiert werden antisemitischer Hass und rassistische Hetze über das Internet verbreitet. Das dürfen wir nicht achselzuckend dulden. Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. Nationale Lösungen sind allerdings ungenügend. Sie werden dem Internet als globalem Medium nicht gerecht. Die EU hat gottlob die notwendigen Impulse gegeben zur Harmonisierung der Strafvorschriften über das Verbreiten von Hass. Das öffentliche Aufstacheln zu Hetze und Gewalt aus rassistischen oder fremdenfeindlichen Motiven und das Leugnen des Nazi-Völkermords müssen europaweit gleichermaßen sanktioniert werden. Wenigstens europaweit! Rechtsextreme Ideen entstehen nicht in der virtuellen Welt des Internets; sie entstehen in den Köpfen der Nutzer. Deshalb dürfen wir den Kampf gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in der wirklichen Welt nicht vernachlässigen. Uns muss immer präsent sein: Menschen können dazu verführt werden, ihren Mitmenschen aus rassistischen oder ideologischen Gründen die elementare, universelle Menschenwürde und damit das persönliche Existenzrecht abzusprechen. Und wird das Menschsein erst einmal gedanklich relativiert, ist der Sprung zur Tat nur kurz. Die Tat beginnt im Denken. Sagen wir deswegen klar: Die braune Despotie kam nicht aus heiterem Himmel. Die Nazis konnten vor dem 30. Januar 1933 und danach auf hergebrachte, weitverbreitete Vorurteile bauen. In besonderer Weise galt das für die Juden. Erst die jahrhundertealte Stigmatisierung als „Mörder Jesu“, dann der moderne Antisemitismus, der im Deutschland des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts Teil nationalistischer Strömungen war. Oder das systematische Ermorden der geistig oder körperlich Behinderten, von den Nazis verharmlosend „Euthanasie“ genannt: Es wurzelte im sozialdarwinistischen Denken des 19. Jahrhunderts und in der von Medizinern propagierten aktiven „Eugenik“, die das Heranzüchten eines starken, konkurrenzfähigen, – wie es damals hieß –„erbgesunden“ Volkes anstrebte. Ähnlich die Verfolgung der Sinti und Roma: Von Beginn an wurden die im 15. Jahrhundert eingewanderten Sinti als verachtenswerte „Zigeuner“ betrachtet, als umherziehende Gauner, „Zieh-Gauner“, denen man böswillig Negatives andichtete von der Kriminalitätsneigung bis zur Unsauberkeit. Eine lange Geschichte der Diffamierung lässt sich ebenso für andere Opfergruppen nachzeichnen: für die Homosexuellen, die Zeugen Jehovas, die sogenannten „Asozialen“ und für die als Zwangsarbeiter versklavten Polen und Russen. Pauschal gesprochen: „Auschwitz“ – dieser Zivilisationsbruch gebietet uns auf ewig, unsere Wachsamkeit gegen die Abgründe des menschlichen Gehirns immer wieder neu zu schärfen. Unser Erinnern darf sich nicht im Abstrakten und Akademischen verlieren. Denn nicht statistische Gruppen wurden erniedrigt, geschunden und ermordet – sondern einzelne Menschen. Menschen wie „du und ich“. Ihr Lebensglück endete jäh in Folter, Elend und Tod, bloß weil sie – ich wiederhole mich – nicht in ein Schema passten. Ihrer zu gedenken gibt uns die Kraft und den Mut, bewusst zu einem friedlichen, toleranten Miteinander beizutragen und dort nicht in Gleichgültigkeit zu verharren, wo alte oder neue Formen von Rassismus, Antisemitismus und Extremismus aufscheinen. Unsere persönliche Verantwortung ist groß, weil unsere persönliche Freiheit groß ist. Die Ehrfurcht vor dem Leben und der Menschenwürde darf nie wieder verloren gehen. Vier Sätze von Berthold Brecht bringen es auf den Punkt:
„Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer. Diese Abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben. Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde.“<<