Rede des Landtagspräsidenten beim Festakt zum 50. Landesjubiläum am 27. April 2002
Peter Straub: Länderparlamente benötigen wieder mehr originäre Gestaltungsrechte Stuttgart. Um die Länder im föderalen System zu stärken, müssen die Entscheidungskompetenz und die Gestaltungsspielräume der Länderparlamente wieder größer werden. Dies hat Landtagspräsident Peter Straub beim Festakt anlässlich des 50-jährigen Bestehens Baden-Württembergs am 27. April 2002 in Stuttgart als zentrale Botschaft des Landtags zum Landesjubiläum bezeichnet. In seiner Ansprache im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater sagte der Präsident wörtlich: >>12.30 Uhr - die am 25. April 1952 so bedeutsame Stunde ist verstrichen; und wir haben schon drei brillante Ansprachen gehört, aus denen sicher noch lange zitiert werden wird. Als vierter Redner möchte ich mich deshalb an Wilhelm Buschs Ratschlag orientieren "Sage klar und angenehm, was erstens, zweitens, drittens käm". Da uns jedoch ein besonderes Jubiläum zusammenführt, sei es mir trotz der vorgerückten Uhrzeit gestattet, - abschließend und hoffentlich abrundend - nicht nur drei, sondern noch fünf Gedanken beizusteuern. Nämlich erstens: Im Landtag von Baden-Württemberg gab es zu keiner Zeit eine Baden- und eine Württemberg-Fraktion. Auch nicht am Beginn - was man gerade da den heute bisweilen arg gescholtenen Volksparteien und ihrer Integrationsfunktion gutschreiben darf. Walter Krause, der als SPD-Fraktionsvorsitzender, Innenminister und Landtagsvizepräsident das politisch-parlamentarische Leben unseres Bundeslandes wie Wenige beeinflusst hat, beschrieb am 25-jährigen Landesjubiläum die Atmosphäre in der Verfassunggebenden Landesversammlung jedenfalls so: "Der Anfang war vor allem deshalb schwierig, weil zunächst kaum jemand die Verhältnisse in allen Teilen des Landes wirklich kannte und zu beurteilen vermochte. Doch gerade diese Tatsache nötigte uns alle zur umfassenden Information und zum Nachdenken über gemeinsame Lösungen. Wir machten uns an die Arbeit mit dem festen Willen, das größere Ganze zu gestalten und für einen gerechten Ausgleich zwischen allen Teilen zu sorgen." Zweitens: Schon wegen dieser Einstellung verdienen die 121 Frauen und Männer, die zunächst die Verfassunggebende Landesversammlung und dann den 1. Landtag von Baden-Württemberg bildeten, unsere bleibende Hochachtung - wir sollten sie jedoch nicht vordergründig glorifizieren und damit das parlamentarische Handeln von uns Heutigen abwerten. Die ersten Abgeordneten hatten staatspolitisch wie faktisch höchst anspruchsvolle Grundsatzaufgaben zu bewältigen - was natürlich die Akteure und ihr Tun prägte. Heute gilt es, ein hochkomplexes, leistungsfähiges, vielleicht in Teilen überfordertes Gemeinwesen Schritt für Schritt weiterzuentwickeln. Das sind völlig verschiedene Aufgaben, und das muss sich auch in einem völlig anderen Erscheinungsbild von Politik niederschlagen. Zudem: Auch vor fünfzig Jahren waren Menschen aus Fleisch und Blut am Werk. Denken wir nur an den erwähnten 25. April 1952, den Tag unserer Landesgründung: Der frisch gewählte Ministerpräsident Reinhold Maier verblüffte nicht bloß die Öffentlichkeit, indem er umgehend eine vollständige Kabinettsliste präsentierte und erklärte, dass der Zusammenschluss der drei südwestdeutschen Länder zu einem Bundesland erfolgt sei. Was dann geschah, kommt uns aus frischer Erinnerung nicht unbekannt vor: Die Wogen schlugen hoch; Gebhard Müller protestierte lautstark; ein Rechtsbruch wurde beklagt. Auch damals also gehörte beides zum politischen Geschäft: - einerseits Machtwille und die Bereitschaft, sich durchzusetzen, - und andererseits öffentliches Emotionalwerden. Drittens: Die "innere Einheit" Baden-Württembergs ist in Wahrheit vor allem durch den nachhaltigen Abbau des Stadt-Land-Gefälles hergestellt worden. Denn Baden und Württemberg ähnelten sich vor fünf Jahrzehnten zumindest in einem: dass es hier wie dort Gebiete gab, in denen sich die sprichwörtlichen Füchse und Hasen gute Nacht sagten - oft sogar über die alten Landesgrenzen hinweg. Die Entwicklung des gegliederten Schulwesens ist ein eindrucksvoller Beleg: Schon lange ist kein Kind mehr schulisch benachteiligt, weil es im Ländlichen Raum - zum Beispiel auf der Schwäbischen Alb, im Hotzenwald oder in "Badisch Sibrien" - lebt. Oder denken wir an die Karte mit den Arbeitslosenquoten, die ein vergleichsweise homogenes Bild bietet und nicht nur um die Landeshauptstadt herum gut aussieht. Für den Landtag kann man dabei feststellen: Die besondere, aus dem Kampf um den Südweststaat herrührende Sensibilität für eine ausgewogene Landesentwicklung wirkte und wirkt als Treibsatz für ein wohltuend pragmatisches, ergebnisorientiertes Politikverständnis. Baden-Württemberg hat den Weg ganz nach oben geschafft auch dank seines nie erlahmenden Glaubens an die eigenen Möglichkeiten. Und deshalb sagen wir: Der fraglos notwendige Ordnungs- und Wettbewerbsrahmen der EU darf nicht verbieten, dass Regionen ihre strukturpolitischen Notwendigkeiten selbst definieren und diesen mit eigenen Mitteln Rechnung tragen. Viertens: Aus drei mach eins - die Landesgründung war eigentlich eine Fusion, und sie wurde genutzt als Gelegenheit, auf Bewährtes zurückzugreifen und doch moderne Gestaltungsformen zu schaffen. Ein herausragendes Beispiel ist unsere vom Landtag 1955 verabschiedete Gemeindeordnung: Die - württembergischer Tradition - entsprechende Direktwahl des Bürgermeisters; dessen herausgehobene, ja mächtige Stellung innerhalb des Rathauses wie nach außen; das Panaschieren und Kumulieren bei der Wahl der Gemeinderäte - die teils übernommenen, teils innovativen Spezifika unserer Kommunalverfassung erwiesen sich als gesetzgeberische Glücksgriffe - und wurden zu inzwischen andernorts gerne importierten Blaupausen. Gleiches gilt übrigens für das schon vor 50 Jahren in der Landesverfassung verankerte Anhörungsrecht der Kommunen in den Gesetzgebungsverfahren, die sie berühren. Im Landtag ist daher unbestritten: Dass Baden-Württemberg so gut dasteht, beruht ganz wesentlich auf der Leistung der Kommunen. In den Kommunen wird nicht nur die inzwischen zur Metapher gewordene "Graswurzel" der Demokratie gepflegt. Die Kommunen produzieren unsere Lebensqualität; und sie sind mit die wichtigsten Strukturpolitiker. Gerade der Landtag zollt deswegen allen besonderen Respekt, die in den vergangenen fünf Jahrzehnten in den Städten und Gemeinden haupt- oder ehrenamtlich Verantwortung getragen haben. Die - neudeutsch gesagt - Performance der baden-württembergischen Kommunen ist im Übrigen das beste Argument dafür, die kommunalen Belange auch auf EU-Ebene verfassungsrechtlich zu gewährleisten. Fünftens: Die Neugliederung des deutschen Südwestens fand statt aufgrund und vor allem im Rahmen unseres Grundgesetzes. Wir sehen uns deshalb - mit einem gewissen Recht - als Anwalt für jenen Föderalismus, den das Grundgesetz eigentlich will - - nämlich einen Gestaltungsföderalismus, der Kreativität und Lebenskraft freizusetzen sucht und der damit den angesprochenen Glauben an die eigenen Möglichkeiten fördert; - also keinen Beteiligungsförderalismus, der hauptsächlich nach Angleichung und bundeseinheitlichem Konsens trachtet und fast zwangsläufig nivellierend wirkt. Der Landtag von Baden-Württemberg wird sich jedenfalls nicht damit abfinden, dass die Länderparlamente in den vergangenen Jahrzehnten originäre Gestaltungsrechte verloren und dafür die Landesregierungen über den Bundesrat Beteiligungsrechte bekommen haben. Das Landesjubiläum muss für den Landtag daher Anlass und Forum sein, den Blick der Bürgerinnen und Bürger dafür zu schärfen, dass es einen wesentlichen Unterschied macht, ob Baden-Württemberg nur im Bundesrat durch seine Regierungsvertreter abstimmen kann oder ob der Landtag von Baden-Württemberg Spielraum hat, selbst Regelungen zu treffen. Die Diskussion über die Reform des Föderalismus ist kein abstrakter Diskurs. Zur Debatte steht nicht zuletzt, wie viel das Wahlrecht als Bürgerin oder als Bürger Baden-Württembergs wert ist und wie sehr sich politisches Engagement hier im Land lohnt. Die zentrale Botschaft des Landtags am 50. Landesjubiläum lautet daher: Der Föderalismus wird gestärkt, wenn die Entscheidungskompetenz und die Gestaltungsspielräume der Länderparlamente wieder größer werden. Und das heißt: Die Neudefinition der EU-Kompetenzen und Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen müssen zusammen gesehen werden: Der Rückbau von EU-Kompetenzen bringt den Länderparlamenten nichts, solange wiedergewonnene Spielräume vom Bund ausgefüllt werden. Und es nutzt den Landesparlamenten wenig, wenn die Gesetzgebungskompetenz des Bundes dort zurückgeschnitten wird, wo die Regelungen aus Brüssel kommen. Der Föderalismus lebt nicht in erster Linie von den Bundesratsinitiativen der Landesregierungen; der Föderalismus lebt hauptsächlich von den gestaltenden Entscheidungen der Länderparlamente - und nur so hat er eine Zukunft. Dabei geht es - wie gesagt - nicht bloß ums Prinzip: Dass Deutschland als Ganzes die vom Grundgesetz ursprünglich gewollten Möglichkeiten des Föderalismus nicht nutzt, ist sicher einer der Gründe, warum Deutschland nicht als Hort der Reformfreudigkeit angesehen werden kann und in internationalen Vergleichen immer öfter nur einen Mittelfeldplatz belegt. Meine Damen und Herren, dass an Jubiläen historische Erfahrungen und Entwicklungslinien herausgearbeitet werden, sollte man nicht als Ritual abtun. Denn das Heute im Kontext der Zeit zu sehen, befähigt zum rationalen Analysieren, sicheren Beurteilen und erfolgreichen Handeln. Ich bin sicher, unsere Festveranstaltung darf für sich in Anspruch nehmen, in diesem Sinne zu wirken. Umso herzlicher möchte ich Sie daher einladen, anschließend mit ins Haus des Landtags hinüberzugehen und dort in großer Runde auf das Wohl Baden-Württembergs anzustoßen.