Sperrfrist: Sonntag, 27. Januar 2008, 13 Uhr

Landtag erinnert in Mannheim an die Opfer des Nationalsozialismus Landtagspräsident Straub: Gedenktag bestärkt uns gegen Wegsehen, innere Distanz und Gleichgültigkeit Stuttgart/Mannheim. Mit einer Gedenkfeier hat der Landtag von Baden-Württemberg am Sonntag, 27. Januar 2008, in Mannheim im Schloss und im Jüdischen Gemeindezentrum an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Gedenkrede von Landtagspräsident Peter Straub (CDU). Der Präsident bezeichnete den 27. Januar als Tag, an dem das Gespür für Rassismus, Extremismus und Inhumanität geschärft werden müsse, an dem entschlossen bekundet werde, die Menschenwürde gegen jegliche Bedrohungen zu verteidigen, und an dem das Bemühen um Verständigung und Versöhnung besonders ausgeprägt sei. „Der Gedenktag bestärkt uns gegen das Wegsehen, gegen die innere Distanz und gegen Gleichgültigkeit“, so Straub. Im Einzelnen führte er aus: >>Der Schriftsteller Heinrich Mann wurde einmal gefragt, was aus seiner Sicht der Kern der Demokratie sei. Er antwortete: „Die Anerkennung, dass wir, sozial genommen, alle füreinander verantwortlich sind.“ Ich meine: Dieser Gedanke eignet sich hervorragend, um die unterschiedlichen Facetten des heutigen Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus zu verbinden und unserem Erinnern ein Leitmotiv zu geben. Denn der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz ist ein Tag der Trauer, der Scham und des Erschreckens darüber, was der Mensch dem Menschen antun kann. Der 27. Januar ist damit ein Tag, • an dem wir unser Gespür für Rassismus, Extremismus und Inhumanität schärfen, • an dem wir unsere Entschlossenheit bekunden, die Menschenwürde gegen jegliche Bedrohungen zu verteidigen, • an dem wir uns in besonderer Weise um Verständigung und Versöhnung bemühen. Und das wiederum heißt: Das Datum ist – auch – eine Aufforderung, gemeinsam zu reflektieren, welche Werte und Prinzipien unsere Gesellschaft zusammenhalten und was wir aktuell für ein gedeihliches Miteinander tun müssen. Unsere Gesellschaft wird nicht nur heterogener, sondern auch gegensätzlicher, gleichgültiger und rücksichtsloser. Es sieht so aus, als ob das Fundament verbindender Überzeugungen erodiert, als ob das Vulgäre Konjunktur hat, als ob Eigenverantwortung immer häufiger mit Egoismus verwechselt wird. Eine instabile Gesellschaft – das ist es jedoch, worauf Radikale jeder Couleur warten. Und sie sitzen längst nicht mehr in irgendwelchen dunklen Hinterzimmern. Sie organisieren sich professionell. Sie nutzen alle Möglichkeiten. Zuvörderst das Internet. Und fast noch schlimmer: Mit gespielter Harmlosigkeit dringen sie unauffällig in den Alltag vor – durch Freizeitangebote für Jugendliche, durch Hausaufgabenbetreuung für Schüler, durch Hilfen bei der Lehrstellensuche. Die Protagonisten des Ungeistes predigen wieder. Sie leugnen die von Deutschen begangenen Verbrechen, sie beleidigen und verfolgen Fremde, sie schänden Friedhöfe und Mahnmale, sie schüren Hass und bereiten den Boden für neue Verbrechen. „Nie wieder Faschismus“ – dieses Postulat steht wohlweislich im Stammbuch unserer Demokratie. Es drückt die Furcht aus, dass sich Geschichte wiederholen könnte. Vielleicht nicht genau so wie zwischen 1933 und 1945. Aber nach analogen Mustern. Der diesjährige Opfergedenktag liegt nahe bei einem anderen bedrückenden Datum: Am 30. Januar vor 75 Jahren wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Fackelerleuchtete Gesichter, Stiefelhämmern, Trommelwirbel – mit ihren Triumphzügen feierten die Nazis am Abend dieses verhängnisvollen Tages mehr als einen Sieg: Sie weideten sich mit ätzendem Zynismus an den Schwächen der erbeuteten Demokratie. Und schon am nächsten Morgen gingen sie kaltblütig ans Werk. Erinnern wir uns an das scheinlegale Außerkraftsetzen der Verfassungsordnung; an das Beseitigen des föderalen Staatsaufbaus; das Gleichschalten der Presse und der Gewerkschaften; an das Installieren von Kommandostrukturen. Erinnern wir uns an das pseudowissenschaftliche Ingangsetzen des Rassenwahns; an die stetig gesteigerte Willkür; an das Errichten der Terrorstätten. Hitler war das Leben nicht heilig. Er erhob sich über das universelle Tötungsverbot der Zehn Gebote. Er betrachtete diese grundlegende zivilisatorische Schranke als Degeneration des menschlichen Geistes. Er erklärte stattdessen eine animalische Primitivität zur Staatsräson. Und er missbrauchte dabei so alte Tugenden wie Loyalität, Patriotismus, Gesetzestreue. Wer nicht ins absurde Schema passte, galt als Fremdkörper und wurde gedemütigt, enteignet, vertrieben, getötet. Der als höherwertig definierten arischen Rasse standen im abartigen Menschenbild der Nazis die „Minderwertigen“ gegenüber. Dieses stupide Denken in den Kategorien „Herrenmenschen“ und „Untermenschen“ führte zur systematischen Ermordung der Juden, der Sinti und Roma, der slawischen Völker, der russischen Kriegsgefangenen; der Homosexuellen; der Zeugen Jehovas; der polnischen Intelligenz; der Behinderten; der Gewerkschafter; aller, die an ihren politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen bis zur letzten Konsequenz festhielten. Man raubte den Opfern alles: Name, Identität, Würde – das Menschsein. Zivilisationsbruch ist ein viel zu blasses Wort dafür. Die Verbrechen wurden vor der Öffentlichkeit abgeschirmt. Aber sie lagen nicht im Dunkeln. Angesichts der Stigmatisierung durch den Judenstern und des Ausschlusses der Sinti und Roma aus den Schulen und dem Arbeitsleben durfte eigentlich niemand in Arglosigkeit verharren. Angesichts der brennenden Synagogen, des Terrors gegen Ladenbesitzer und der Plünderungen konnte eigentlich jeder sehen, dass der Staat zum Kriminellen geworden war. Angesichts der Deportation von Menschen mussten eigentlich alle merken, dass Ungeheuerliches stattfand. Die Phantasie mochte für Art und Ausmaß der Verbrechen nicht ausreichen. In der damaligen Realität aber ergänzten sie sich beide: die Inhumanität der Nazis und die Duldsamkeit allzu vieler. Zu unserer besonderen Verantwortung gehört damit als Erstes, wach zu bleiben, die Demokratie zu stärken und zu handeln, wo Menschen diskriminiert werden, wo Hass geschürt wird, wo Unrecht geschieht – und zwar gerade dann, wenn wir scheinbar selbst nicht berührt sind. Beunruhigen muss uns daher, dass immer mehr Menschen ihr Urteilen und ihr Handeln vorrangig an den Erwägungen ausrichten: Was ist effizient? Und was habe ich davon? Demoskopen sagen: Ein Drittel der Erwachsenen ist der Ansicht, man könne sich „wenig nützliche Menschen“ und „menschliche Fehler“ nicht mehr leisten; ein Viertel hält moralisches Verhalten für einen Luxus, ja für eine Fehlinvestition. Das offenbart eine gefährliche Entwicklung, an deren Ende Menschen ihre Würde einbüßen. Unsere Gesellschaft ist also nicht gefeit vor gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beispielsweise gegen Behinderte, Langzeitarbeitslose und andere, die unsere Unterstützung benötigen. Die Feinde der Demokratie sehen es mit diabolischer Freude. Oder nehmen wir die Verwahrlosung, die Verrohung, die alltägliche Gewalt. Unser Rechtsstaat muss die Urfunktion eines Gemeinwesens – die Hilfs- und Schutzfunktion – erfüllen. Sonst verliert er schleichend an Akzeptanz. Gewalt auf unseren Straßen, in unseren öffentlichen Verkehrsmitteln, in unseren Schulen trifft alle, die hier leben. Der „Landfrieden“ muss ein gemeinsames Anliegen sein – unabhängig von Herkommen oder Staatsangehörigkeit. Es löst zu Recht diffuse Ängste aus, wenn ein Rentner zusammengeschlagen wird, der in der U-Bahn von jungen Männern elementarste Regeln der Höflichkeit eingefordert hatte. Es zermürbt, wenn Bürger sich überlegen, ob sie zu bestimmten Zeiten noch die S-Bahn benutzen, wenn Schüler sich fragen, welchen Teil des Pausenhofes sie noch gefahrlos betreten können. Ebenso unerträglich und für ein weltoffenes Land zutiefst schändlich ist, wenn Menschen, etwa mit schwarzer Hautfarbe, abgeraten werden muss, bestimmte Orte zu besuchen. Zaghaftigkeit beim Schutz von Leben und Freiheit ist in jeder Richtung verhängnisvoll. Die elementaren Normen des friedlichen Zusammenlebens ertragen kein Relativieren. Umso präziser sollten wir diagnostizieren: Jugendkriminalität ist primär eine Frage des gesellschaftlichen Umfelds, in dem die Kinder und Jugendlichen aufwachsen. Hat ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund die gleich guten Bildungschancen wie ein deutscher und stimmt bei ihm das soziale Gefüge, dann wird er genauso wenig zur Gewalt neigen. Wer dagegen als Jugendlicher – mit oder ohne Migrationshintergrund – gelernt hat, dass Schläge Konflikte am besten lösen, der kann mit Begriffen wie Toleranz, Solidarität, Mitmenschlichkeit nichts anfangen, der ist nicht zu gewinnen für die „Goldene Regel“ aller Religionen: „Was Du nicht willst, das man Dir tu´, das füg´ auch keinem andern zu.“ Schauen wir bei den Problemen im Übrigen auf die gesamte soziale Skala: Lieblosigkeit, Desinteresse, mangelndes Kümmern um die eigenen Kinder sind auch ein Wohlstandsphänomen. Eine Gesellschaft, in der Wochenende für Wochenende Jugendliche gewerbsmäßig zu Alkoholexzessen verführt werden; in der sich Kinder jeden Nachmittag mit Gewalt am PC oder an der Spielkonsole zuschütten – eine solche Gesellschaft darf sich nicht wundern, wenn ihre Jugendlichen nicht begreifen, welche Werte wichtig sind. Bildungs- und Betreuungsangebote helfen am besten, wenn sie auch bei den Eltern ein Echo finden. Deswegen ist Elternverantwortung in sämtlichen Hochkulturen eine zentrale Maxime. Alle Eltern müssen ihre Kinder zum Schulbesuch anhalten und sie beim Lernen unterstützen. Versöhnung und ein echtes Miteinander beginnen mit dem Wandel falscher Einstellungen und mit dem Widerlegen von Klischees. Vorurteile lassen sich indes nicht einfach durch Wissensvermittlung aus der Welt schaffen. Hinzu kommen muss die persönliche Begegnung mit dem vermeintlich Fremden. Erst dadurch entwickelt sich echte Toleranz. Toleranz ist eine anspruchsvolle Tugend. Toleranz bedeutet nicht bloß, das Andere zu dulden – Toleranz verlangt, das Andere zu wollen. Allerdings darf es sich dabei nicht um eine Einbahnstraße handeln. Erst im Austausch werden Fremdheit und Vielfalt als Bereicherung empfunden und nicht als Bedrohung. Den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gibt es seit 1996. Und wenn er so begangen wird wie heute hier in Mannheim, dann bestärkt er uns gegen das Wegsehen, gegen die innere Distanz, gegen Gleichgültigkeit. Denn wahres Gedenken entsteht durch Empathie. Und Empathie entsteht, • indem wir mit den Opfern und ihren Angehörigen zusammentreffen; • indem wir unmittelbar hören, was sie zu sagen haben; • indem wir mit den Repräsentanten der Opfergruppen diskutieren; • indem wir über die Sprache der Kunst Impulse mit Tiefenwirkung empfangen; • indem wir die einstigen Tatorte aufsuchen und uns bewusst machen, auch hier ist es geschehen; • indem wir ein geistiges Klima fördern, das geprägt ist von Respekt und Neugier, von Offenheit und kultureller Wertschätzung; • indem wir Einladungen annehmen und uns – buchstäblich – begeistern lassen. Ich finde: Unser Programm spiegelt das Entscheidende wider – nämlich das Bewusstsein, dass es auf jeden Einzelnen ankommt. Und deshalb danke ich allen Mitwirkenden auf das Herzlichste. Eine besondere Ehre ist, dass ein Künstler von Weltrang diese Feierstunde bereichert und dem Gedenken heute Abend durch ein Konzert einen großartigen individuellen Akzent verleiht. Ganz herzlichen Dank, Ferenc Snétberger, für Ihr intensives, imponierendes Engagement! Leider kann der zweite Teil, sprich der kommunikative und damit genauso wichtige Teil unseres Programms nicht wie ursprünglich vorgesehen im RomnoKher der Sinti und Roma stattfinden. Auch ich bedauere das sehr. Die beeindruckende Tradition und Kultur der Sinti und Roma haben mitten in der zweigrößten Stadt Baden-Württembergs ein neues Zuhause und eine Adresse, von der alle wissen, dass die Tür offen steht für alle Interessierten, für alle Menschen guten Willens. Als weitere Keimzelle einer guten Zukunft ist das RomnoKher ein substanzieller Gewinn für unser ganzes Land. Ein respektvolles Dankeschön sage ich der Jüdischen Gemeinde Mannheim, dass sie relativ kurzfristig eingesprungen ist und ihr Gemeindezentrum zur Verfügung gestellt hat. Machen wir regen Gebrauch von den Infoständen der Opfergruppen, die uns dort erwarten. Die Organisation oblag der Landeszentrale für politische Bildung, der ich herzlich danke. Eine besondere Quelle der Hoffnung werden die Beiträge der Schülerinnen und Schüler aus sechs Mannheimer Schulen sein. Die Szenischen Lesungen in dieser Feierstunde und die Präsentationen im Jüdischen Gemeindezentrum sind das Ergebnis vorbildlicher Erinnerungsarbeit. Sie dokumentieren den Willen, nicht zu vergessen. Und sie zeigen: Die historische Schuld ist ein Erbe, das auch die nachfolgenden Generationen nicht ausschlagen dürfen. Ganz herzlichen Dank den Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrerinnen und Lehrern. Schon Seneca schrieb: „Alles Leiden kommt vom Menschen.“ Lernen wir also jederzeit miteinander zu leben, nicht gegeneinander! Ehren und schützen wir die Freiheit! Arbeiten wir für den inneren Zusammenhalt und den äußeren Frieden! Festigen wir das Fundament unseres Rechts- und Sozialstaats – jeder an seiner Stelle und mit seinen individuellen Möglichkeiten! Damit sich die Geschichte nicht wiederholt!