Vortrag des Landtagspräsidenten bei der 10. Panzerdivision in Sigmaringen
Straub: Eigenverantwortlichkeit der Länder und ihrer Parlamente muss gestärkt werden Sigmaringen. Eine Reform des Föderalismus, die den Ländern und ihren Parlamenten auf Bundes- und Europaebene mehr Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ein-räumt, hat Landtagspräsident Peter Straub (CDU) am Montag, 14. Oktober 2002, in Sigmaringen gefordert. Straub war zu einem Informationsbesuch bei der 10. Panzerdi-vision nach Sigmaringen gekommen, wo er am Abend bei einer Vortragsveranstaltung anlässlich des 50-jährigen Landesjubiläums in der Graf-Stauffenberg-Kaserne sprach. Wörtlich führte der Präsident aus: >>Ich freue mich bei Ihnen in Sigmaringen zu sein und möchte Ihnen, sehr geehrter Herr Ge-neral Oerding, sehr herzlich für die Einladung zum heutigen Informationsbesuch bei der 10. Panzerdivision danken. Meine regelmäßigen Besuche bei der Bundeswehr sind mir ein wichtiges Anliegen, um die enge Verbundenheit des Landtags mit der Bundeswehr zum Ausdruck zu bringen und Dank und Anerkennung zu sagen für den Einsatz, den unsere Soldatinnen und Soldaten nicht nur bei der Landes- und Bündnisverteidigung sondern auch zunehmend bei Auslandseinsätzen erbringen. Besonders danken möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr General Oerding, und Ihren Solda-tinnen und Soldaten für den hervorragenden Einsatz bei der Bewältigung der Flutkatastrophe in Ostdeutschland. Die Soldatinnen und Soldaten haben Seite an Seite mit den Technischen Hilfswerken, Feuerwehren, Rotem Kreuz und anderen Organisationen bis zur Erschöpfung „geschuftet“, um den Opfern zu helfen und den Schaden zu begrenzen. Wir können stolz sein auf unsere Armee, die zur Stelle ist, wenn sie gebraucht wird. Den Dank und die Anerkennung der Politik und der Öffentlichkeit verdient der Einsatz der Bundeswehr jedoch nicht nur in Katastrophenfällen. Die Südwestpresse hat in den Tagen der Flut zu Recht in einem Kommentar festgestellt, dass die Bundeswehr nicht die olivgrüne Aus-gabe des Technischen Hilfswerks ist. Sie ist eine Armee, die in erster Linie dafür da ist, Frie-den und Freiheit zu sichern. Vor allem dafür braucht die Bundeswehr Rückhalt und Unterstüt-zung. Meine Damen und Herren, unser Land Baden-Württemberg feiert in diesem Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag. Die 50jährige Erfolgsgeschichte unseres Landes ist ein guter Anlass darüber nachzudenken, wie es um die Zukunft des deutschen Föderalismus in einem vereinigten Europa bestellt ist. Das Thema ist von hoher Aktualität, tagt doch derzeit der europäische Verfassungskonvent, der die Weichen stellen soll für die Zukunft Europas. Aber zunächst ein Blick nach innen auf unseren Föderalismus in Deutschland. Der Födera-lismus hat sich als zentrales Strukturprinzip der Bundesrepublik in den vergangenen fünfzig Jahren seit Bestehen des Grundgesetzes außerordentlich gut bewährt. Die Gliederung des Bundes in Länder dient der Teilung und Kontrolle staatlicher Macht und sichert damit die Freiheit gegenüber dem einzelnen Bürger und verbessert die Möglichkeiten demokratischer Partizipation: Politik wird bürgernäher, besser kontrollierbar und nachvollziehbarer für den einzelnen Bürger. Der Föderalismus dient aber nicht nur der Bändigung und Kontrolle der Macht. Er lässt Vielfalt zu, ohne die Einheit zu gefährden, er gibt Spielräume für Autonomie und Eigenverantwortung. Das Beispiel unseres Landes belegt dies eindrucksvoll. Vor allem die eigene Kraft, die eige-nen Anstrengungen, der Glaube an die eigenen Möglichkeiten haben Baden-Württemberg zu einem der leistungsstärksten deutschen Länder gemacht. Nicht verhehlen möchte ich jedoch auch, dass es Fehlentwicklungen gibt, die dazu geführt haben, dass Deutschland hinter den Möglichkeiten zurückbleibt, die ihm der Föderalismus eigentlich bietet. Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hat sich in den Beziehungen zwischen Bund und Ländern vieles gewandelt. Durch die zunehmende Verlagerung von Gesetzgebungskompe-tenzen auf den Bund hat ein schleichender Erosionsprozess der eigenständigen Gestal-tungsmöglichkeiten der Länder stattgefunden, der insbesondere zulasten der Landesparla-mente geht. Zwar sind die Landesregierungen dafür durch die Beteiligung an der Politik des Bundes über den Bundesrat entschädigt worden. Es ist jedoch ein wesentlicher Unterschied, ob Baden-Württemberg nur im Bundesrat durch seine Regierungsvertreter abstimmen kann oder ob der Landtag Spielraum hat, selbst Regelungen zu treffen. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass sich die Funktion der Länder verändert hat, was seinen sichtbaren Ausdruck in dem Funktionswandel der Landesparlamente findet. Diese sind nicht mehr im überwiegenden Teil ihrer Tätigkeit Gesetzgeber. Die Gesetzgebungszu-ständigkeiten der Länder beschränken sich heute im Wesentlichen auf die Bereiche Bildung, Kultur, Innere Sicherheit und Kommunalwesen. Ansonsten verbleibt ihnen vor allem der Voll-zug von Gesetzen. Die zunehmende Zentralisierung und der hohe Grad von Politikverflechtung ist nicht nur eine bloße Machtfrage. Durch die zunehmende Verflechtung von Bund und Ländern leidet die Demokratie: Der Bürger kann nicht mehr klar nachvollziehen, wem er Erfolg oder Misserfolg zuordnen soll, wer die Verantwortung für Fehlentwicklungen trägt. Zudem verhindert der Ver-lust von politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Länder, dass die eigentliche Stärke des Föderalismus hinreichend zum Tragen kommt: Föderalismus lebt nur dort, wo die Länder eigenverantwortlich Landespolitik gestalten, wo sie zum Wohle der Menschen im produktiven und kreativen Wettstreit um die besten Lösungen zueinandertreten können. Allzu sehr ist in Vergessenheit geraten, dass es vor allem der Wettbewerb ist, der Wohlstand schafft und zur Leistung anregt. Darüber braucht man sich jedoch nicht zu wundern, solange man für eigene Fehler über einen wettbewerbshemmenden Finanzausgleich andere zum Zahlmeister machen kann. Der mangelnde Wettbewerbsföderalismus ist aus meiner Sicht mit ein Grund, warum Deutschland in internationalen Vergleichen - von der Bildungspolitik bis zur Wirtschaftspolitik - immer öfter nur einen Mittelfeldplatz belegt. Wir brauchen deshalb dringend eine Reform des Föderalismus, um die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Länder und ihrer Parlamente zu stärken. Nun ist Deutschland nicht gerade als Hort der Reformfreudigkeit bekannt. Inzwischen wächst jedoch die Einsicht, dass wir eine Neugestaltung der Bund-Länder-Beziehungen brauchen. So haben die Regierungschefs von Bund und Ländern eine Verhand-lungskommission eingesetzt, die bis Ende 2003 entsprechende Vorschläge ausarbeiten soll. Die Landtage selbst werden ihre Vorschläge im Rahmen eines Föderalismus- Konvents der Präsidenten und Fraktionsvorsitzenden der Landesparlamente im Frühjahr nächsten Jahres vorlegen. Es wird darauf ankommen, dass wir als Vertreter der Landesparlamente konkret darstellen, wie die Autonomie der Länder zu vergrößern ist, wie die Aufgaben, die Ausgaben und die Einnahmen entflochten werden können, wie mehr Wettbewerb und mehr Subsidiarität entste-hen sollen. Nicht nur die Entwicklung in Deutschland, sondern auch der zunehmende europäische Integ-rationsprozess stellen für die Länder und ihre Parlamente und damit für die föderale Grund-struktur der Bundesrepublik eine existenzielle Herausforderung dar. Denn auch auf der euro-päischen Ebene gibt es eine starke Tendenz einer Zentralisierung. Unter Hinweis auf den gemeinsamen Markt und den Euro hat die Europäische Union eine Vielzahl von Regelungs-gegenständen normiert und die eigenen Kompetenzen ausgeweitet. In vielen Politikbereichen bestimmt Brüssel inzwischen den Gesetzgebungstakt. Rund 50 % der Gesetze, mit denen sich Bundestag, Bundesrat oder Landtage befassen, vollziehen ledig-lich die Umsetzung von in Brüssel gesetztem Recht. In der Umweltpolitik werden sogar rund 90 % der Entscheidungen von Brüssel bestimmt. Mit der fortschreitenden europäischen Integration sind Kompetenzverluste der Mitgliedstaaten verbunden, die nicht nur den Bund, sondern auch die Länder betreffen und die zu einem Be-deutungsverlust für die Länder und deren Landesparlamente führen. Um nicht missverstanden zu werden: Grundsätzlich muss die Tatsache, dass gemeinschaftli-che Aktivitäten, die im Übrigen häufig auch von den nationalen Regierungen initiiert sind, Rückwirkungen auf die föderale Struktur eines Bundesstaates haben, akzeptiert werden. Schließlich beruht die Europäische Union gerade auf dem Transfer von Hoheitsgewalt von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft. Selbstverständlich gibt es genügend Probleme, für die wir ein starkes Europa brauchen. Ich denke da beispielsweise an die Außen- und Sicherheitspolitik, die Verteidigungspolitik, den Binnenmarkt, die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Ich denke an den grenzüberschreitenden Umweltschutz oder an die Außenhandelspolitik, damit wir im Wettbe-werb mit den anderen Wirtschaftsgroßmächten mithalten können. Die Bürger erwarten ferner vor allem Schutz vor dem internationalen Terrorismus. Dies be-darf angesichts des Anschlags in New York im letzten Jahr keiner weiteren Ausführungen. Dies alles sind Felder, für die die Mitgliedstaaten wie auch die Länder und Kommunen das gemeinsame Dach Europa brauchen, um die Zukunft erfolgreich bewältigen zu können. Doch anstatt sich auf die wirklichen europäischen Kernaufgaben zu konzentrieren, verzettelt sich die Union häufig in Fragen, die viel besser und bürgernäher von den Ländern und der kommunalen Ebene geregelt werden können. So dirigiert seit den Achtzigerjahren die Regionalpolitik der Gemeinschaft zunehmend die Wirtschaftsförderung der Länder. Die europäische Beihilfenkontrolle lässt den Ländern immer weniger Spielraum für eigene Förderpolitik. Europäische Vorgaben für die Ausübung der Rundfunk- und Fernsehtätigkeiten, die Festlegung, welche Streuobstwiesen von Konstanz bis Tauberbischofsheim in die von der FFH (Fauna – Flora – Habitat) – Richtlinie geforderten Naturschutzgebiete fallen, Eingriffe in die öffentlich-rechtliche Struktur unserer Sparkassen oder auch Vorgaben zur Ausgestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs sind nur einige abschreckende Beispiele für eine allzu extensive Auslegung europäischer Kompetenzen. Ich möchte gerade in diesem Kreis noch ein Beispiel aus dem Bereich der Verteidigungspoli-tik nennen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass auch die Frauen inzwischen die Möglichkeit haben, sich für den Dienst an der Waffe oder in technischen und logistischen Einheiten zu entscheiden. Aber was mich stört ist, dass die Entscheidung über den Dienst von Frauen an der Waffe vom Europäischen Gerichtshof entschieden wurde, der sich dazu auf die europäi-sche Sozialpolitik gestützt hat, obwohl es tatsächlich um die Verteidigungspolitik ging. Und nach dem derzeitigen EG-Vertrag besitzt die Gemeinschaft gerade keine Regelungszustän-digkeit in diesem Bereich. Damit werden die Kompetenzregeln des EG-Vertrages glatt unter-laufen. Entstanden ist inzwischen ein Kompetenzgewirr und eine Vermengung der Zuständigkeiten mit der Folge, dass der Bürger überhaupt nicht mehr durchschaut, wer eigentlich in Europa für welche Entscheidungen die Verantwortung trägt. Man braucht sich deshalb nicht zu wun-dern, wenn das Unbehagen der Bürger an der Union wächst. Ich halte es für besorgniserregend, dass nach Umfragen die Zustimmung für Europa von frü-her 70 % bis 80 % auf rund 50 % gefallen ist. Das liegt nicht daran, dass die Bürger nicht erkennen würden, dass wir der europäischen Ei-nigung, aber auch dem Bündnis mit den USA, die längste Periode des Friedens in der jünge-ren deutschen Geschichte zu verdanken haben. Und bewusst ist auch, dass Europa entscheidend zum wirtschaftlichen Wohlstand in Deutsch-land und Baden-Württemberg beigetragen hat. Ohne den Binnenmarkt, der Absatzmärkte für unsere Export orientierte Wirtschaft geöffnet hat, wären wir nicht da wo wir heute stehen. Nein, die sinkende Zustimmung zu Europa hat nach meiner Überzeugung vor allem darin ih-ren Grund, dass die Europäische Union glaubt, sie müsse sich in Dinge einmischen, die viel besser von den Ländern oder gar den Städten und Gemeinden geregelt werden können. Mit meinen kritischen Hinweisen auf die Erosion regionaler Handlungsspielräume spreche ich mich nicht für eine Schwächung der europäischen Integration aus. Ich bin jedoch der Über-zeugung, dass die Stärke Europas in Wettbewerb und Vielfalt liegt. Gleichmacherei und Zent-ralismus schwächen nicht nur die Länder und Kommunen, sondern auch Europa selbst. Dies gilt erst recht angesichts der Herausforderung der bevorstehenden Erweiterung der Union auf bald 25 Mitgliedstaaten, nachdem die Europäische Kommission letzte Woche emp-fohlen hat, bis 2004 zehn Beitrittsländer aufzunehmen. Zu dieser Erweiterung, die die historische Chance bietet, die künstliche Teilung unseres Kon-tinents zu überwinden, gibt es keine Alternative. Aber man muss wissen, dass die Erweite-rung den Charakter der Europäischen Union nachhaltig verändern wird. Die Heterogenität im Innern wird dramatisch zunehmen. Das Wohlstandsniveau, die kulturellen Unterschiede, all das wird stärker als bisher divergieren. Die Europäische Union muss sich deshalb umso mehr auf die wirklich europäischen Kernauf-gaben beschränken. Eine erweiterte Union, die von Brüssel aus alle Lebensbereiche steuern wollte, wäre nach meiner Auffassung zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen deshalb eine grundlegende Reform der Union, die der gewaltigen Herausforde-rung der Erweiterung gerecht wird. Eine Reform, die vor allem zu einer klaren Aufgabenver-teilung führt, die die Verantwortungsbereiche der Europäischen Union und den Mitgliedstaa-ten, Ländern und Kommunen präzise voneinander abgrenzt und sich vom Modell der Zentra-lisierung verabschiedet. Aus Sicht der Landtage ist es deshalb zu begrüßen, dass die im Dezember 2000 in Nizza verabschiedete „ Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union“ der Staats- und Regie-rungschefs der EU-Mitgliedstaaten eine neue Reformrunde eingeläutet hat. Sie soll im Jahr 2004 in eine weitere Regierungskonferenz münden. In diesem Rahmen soll endlich auch die Frage der Kompetenzabgrenzung angegangen werden. Zur Vorbereitung dieser Konferenz wurde ein Konvent eingesetzt, der Ende Februar dieses Jahres seine Arbeit aufgenommen hat und bis zum Frühsommer 2003 Ergebnisse vorlegen soll. Mit diesem Konvent stehen wir vor einer Weichenstellung für die Zukunft Europas. Es geht darum, die Europäische Union auf die Grundlage eines Verfassungsvertrages zu stellen, mit dem eine Ordnung für ganz Europa geschaffen werden soll. Die Union muss, was ihre Institutionen und Kompetenzen angeht, neu strukturiert werden, damit das durch den Beitritt sich abzeichnende große Europa handlungsfähig bleibt. Der Konvent setzt sich aus 105 Vertretern der nationalen Regierungen, der nationalen Par-lamente, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission zusammen. Unter den 105 Mitgliedern befinden sich auch 39 Mitglieder aus den Beitrittsländern. So sehr ich es begrüße, dass gerade unser Ministerpräsident Erwin Teufel im Konvent als Vertreter des Bundesrates die Interessen der Länder mit großem Engagement verficht, um so mehr bedauere ich es aus demokratischen Erwägungen, dass der Bund der Forderung der deutschen Landtagspräsidentenkonferenz nach einer Mitgliedschaft von Vertretern der Lan-desparlamente im Konvent nicht entsprochen hat. Ich kritisiere dies umso mehr, als die Parlamente durch die geplante Neuordnung der Kompe-tenzordnung in der Europäischen Union unmittelbar betroffen sind. Hinzu kommt, dass gera-de die Landesparlamente, deren Abgeordnete mit den Bürgern vor Ort im Gespräch sind, nach meiner Überzeugung aufgrund ihrer Mittler- und Öffentlichkeitsfunktion den künftigen Reformschritten der Union ein höheres Maß an demokratischer Legitimität verleihen können. Die Landtage, wie auch die anderen Regionalparlamente in der Union, dürfen auf jeden Fall bei der Gestaltung der künftigen europäischen Ordnung, die derzeit vom Konvent erarbeitet wird, nicht übergangen werden. Ohne ihre Einbindung würde die politische Ordnung Europas eines Teils ihrer Legitimation entbehren. Die Landtagspräsidentenkonferenz versucht deshalb, ihre Positionen, die sie am 3./4. Juni dieses Jahres in einer Entschließung festgehalten hat, über die deutschen Mitglieder des Konvents einzubringen. Neben Ministerpräsident Teufel sind dies der Bundestagsabgeordne-te Prof. Meyer für den Bundestag sowie Prof. Glotz, der im Konvent die Bundesregierung ver-tritt. Ich möchte die zentralen Forderungen aus diesem Papier nennen: Das Fundament der künftigen Ordnung Europas sind vor allem die Städte, Gemeinden, Län-der und Regionen, und sie müssen es bleiben. Denn sie stehen den Bürgern am nächsten und sind für ihr alltägliches Leben entscheidend. Europa muss deshalb von unten nach oben und nicht umgekehrt aufgebaut werden. Das ist der eigentliche Kern des Subsidiaritätsprin-zips, da so oft beschworen wird, aber in der Praxis der EU noch immer nicht greift. Die künftige europäische Kompetenzordnung muss sicherstellen, dass die politischen Gestal-tungsspielräume der Mitgliedstaaten, Länder, Regionen und Kommunen erhalten bleiben. Deshalb muss sich Europa künftig stärker als bisher auf seine Kernaufgaben beschränken, die gemäß dem Subsidiaritätsprinzip von den Kommunen, Regionen, Ländern und Mitglied-staaten nicht selbst gelöst werden können. Aufgaben, wie regionale Wirtschaftspolitik, Schul- und Hochschulwesen, regionaler Umwelt- und Naturschutz oder auch der öffentliche Nahverkehr müssen, da sie vor Ort besser, billiger und problemnäher geregelt werden können, bei den Ländern und Kommunen verbleiben. Um diese Aufgaben vor Eingriffen der EU zu schützen, müssen deshalb die Zuständigkeiten der EU eindeutig festgelegt und begrenzt werden. Geschlossen werden müssen vor allem die Einfallstore, die zu Eingriffen der Union in die Ge-setzgebungszuständigkeiten der Länder geführt haben. Ich nenne hier zum einen den generalklauselartigen Charakter der Binnenmarktregeln, die zur Folge haben, dass Politikbereiche von der Binnenmarktkompetenz überlagert werden, für die die Union keine Zuständigkeit besitzt, wie etwa Rundfunk oder Sport. Die Union hat diese Bereiche an sich gezogen mit der Begründung, es gehe um den Binnenmarkt und den Wett-bewerb. Damit dies künftig verhindert wird, hat sich die Landtagspräsidentenkonferenz für eine Erset-zung der Klausel durch konkret beschriebene Einzelermächtigungen ausgesprochen. Ein zweites Einfallstor ist, dass Brüssel in einem Bereich, für den man nicht zuständig ist, Geld zur Verfügung stellt. Mit dieser Politik des goldenen Zügels aus Brüssel werden selbst überzeugte Föderalisten gelegentlich schwach. Dann sagt man: „Eigentlich ist die EU ja nicht zuständig, aber auf das Geld wollen wir natürlich auch nicht verzichten“. Aktueller Sündenfall ist der von der Europäischen Kommission vorgeschlagene neue Solidari-tätsfonds, mit dem die EU, vor dem Hintergrund der Flutkatastrophe, bei Naturkatastrophen künftig finanzielle Unterstützung in den betroffenen Mitgliedstaaten leisten will. Dieser Fonds soll jährlich mit 500 Millionen Euro ausgestattet werden. Tatsache ist aber, dass die Union bislang über gar keine Zuständigkeit im Katastrophen-schutz verfügt. In Deutschland ist dies Ländersache. Schon aus diesem Grund wende ich mich entschieden gegen einen solchen Fonds. Hinzu kommt, dass die Mittel der EU für den Fonds ja nicht vom Himmel fallen, sondern im Wesentlichen von den Mitgliedstaaten mit Steuermitteln der Bürger einbezahlt werden müs-sen. Deutschland als größter Nettozahler müsste die Hauptlast schultern. Ich halte dies an-gesichts unserer engen Haushaltslage und der hohen Steuerbelastung der Bürger in Deutschland für nicht vertretbar. Ich bin nicht gegen Solidarität. Aber ich bin dagegen, dass die EU an der Kompetenzordnung vorbei kostenträchtige neue Aufgaben an sich zieht. Gerade auch dieses Beispiel zeigt, dass wir Vorkehrungen brauchen, damit die Kompetenz-ordnung und das Subsidiaritätsprinzip in der Praxis auch tatsächlich eingehalten werden. Zwar können bereits jetzt die Mitgliedstaaten die Unzuständigkeit der Gemeinschaft und ihrer Organe rügen und kompetenzordnungswidrig erlassene Rechtsakte vom Europäischen Ge-richtshof für nichtig erklären lassen. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof bislang nur zweimal einen Rechtsakt wegen man-gelnder Zuständigkeit der EU für nichtig erklärt. In allen anderen Fällen dagegen hat der Ge-richtshof mit einer ausgesprochen gemeinschaftsfreundlichen Rechtsprechung eine Zustän-digkeit der Gemeinschaft für gegeben gehalten. Angesichts dieser Erfahrungen hat sich die Landtagspräsidentenkonferenz dafür ausgespro-chen, eine Art politische Kammer einzurichten, die bereits in der Entstehungsphase von Rechtsakten der Union die Einhaltung der Kompetenzordnung überwacht. Dieser Kammer sollen Vertreter des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, aber auch Ab-geordnete der Landtage angehören. Ich bin überzeugt, dass eine solche Kompetenzkammer aus Vertretern der Parlamente aller Ebenen wesentlich dazu beitragen kann, die Akzeptanz europäischer Entscheidungen bei den Bürgern zu erhöhen. Leider hat diese Forderung nach einer präventiven Kontrolle unter Einbeziehung der Landta-ge im Konvent bislang keine Resonanz gefunden. Zwar hat sich die Arbeitsgruppe „Subsidia-rität“ des Konvents in ihrem Schlussbericht vom 23. September 2002 September für eine Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente ausgesprochen, in Deutschland wä-ren dies der Bundestag und der Bundesrat. Den Landesparlamenten soll dieses Recht jedoch verweigert werden. Die Landtage werden darauf verwiesen, ihre Anliegen an den Bundesrat zu richten. Ich halte dies nicht für akzeptabel, da die Landtage in ihren Gesetzgebungs-zuständigkeiten in gleicher Weise von Rechtsakten der Europäischen Union betroffen sind, wie Bundestag und Bundesrat. Eine abschließende Entscheidung im Konvent ist noch nicht gefallen, so dass sich die Land-tage weiterhin mit aller Macht dafür einsetzen werden, damit unser Anliegen doch noch zum Zuge kommt. Darüber hinaus muss erreicht werden, dass den Ländern, wie bereits den Mit-gliedstaaten, zum Schutz ihrer Rechte auch ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichts-hof eingeräumt wird. Über die Neuordnung der Aufgabenverteilung hinaus halte ich die Verbesserung der demo-kratischen Legitimation der Union für eine ganz zentrale Aufgabe des Konvents. Dazu ist es wichtig, das Europäische Parlament, das direkt von den Bürgern gewählt wird, weiter zu stärken und es zum wirklichen Mitgesetzgeber in der EU zu machen. Dies allein reicht jedoch nach meiner Auffassung nicht aus, um das Defizit an demokratischer Legitima-tion in der Union zu beheben. Ich plädiere deshalb dafür, dass auch die nationalen Parlamen-te, aber auch die Landtage, stärker in den Integrationsprozess einbezogen werden. Eine Be-teiligung der Parlamente aller Ebenen ist notwendig, um der EU mehr Bodenhaftung zu ge-ben. Ich denke hier beispielsweise an den vom Präsidenten des Konvents, Giscard d’Estaing, kürzlich vorgeschlagenen Kongress, der sich aus den Vertretern des Europäischen Parla-ments und der nationalen Parlamente zusammensetzen soll. Dieser Kongress soll regelmä-ßig zusammenkommen, um die weitere Entwicklung der Europäischen Union zu diskutieren. Sollte es zu einem solchen Kongress kommen, müssen daran nach meiner Auffassung auch die Landtage beteiligt werden. Meine Damen und Herren, das Europa der Zukunft kann nach meiner Überzeugung nur gelingen, wenn es dem Prinzip Rechnung trägt: „Einheit wo nötig, Vielfalt wo möglich.“ Nur dann wird Europa Akzeptanz bei den Bürgern finden. Für die Europäische Union gilt dasselbe, wie für den deutschen Bundesstaat: Nicht in der Nivellierung und Zentralisierung liegt ihre Stärke, sondern in Vielfalt und Wettbe-werb. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.