Zum vierten Mal Tag behinderter Menschen im Landtag

Präsident Peter Straub: Menschen mit Behinderungen müssen chancengleich in alle Bereiche des Lebens einbezogen werden Es gilt das gesprochene Wort! Stuttgart. Diskussionsforen und Gespräche mit Abgeordneten stehen im Mittelpunkt eines Tages behinderter Menschen, der am heutigen Donnerstag, 16. Oktober 2003, im Stuttgarter Landtag stattfindet. Aufgegriffen werden unter anderem die Themen Gleichstellung, behindertengerechtes Bauen, Arbeitsplätze für Behinderte und Selbsthilfemöglichkeiten. Landtagspräsident Peter Straub (CDU) begrüßte die rund 150 Gäste mit folgenden Worten: >>Der „Tag behinderter Menschen im Parlament“ ist keine Eintagsfliege, die wir aus Anlass des „Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen“ kreiert haben. Der „Tag behinderter Menschen im Parlament“ findet hier im Landtag von Baden-Württemberg bereits zum vierten Mal statt. Trotzdem möchte ich nicht von einer Tradition sprechen. Denn Tradition bedeutet allzu oft Ritual. Diese Veranstaltung soll aber gerade kein Ritual sein. Die heutige Auflage ist daher nicht – wie es in der Bürokratensprache heißt – „nach Vorgang“ geplant und organisiert worden. Wir haben vielmehr auf die gemachten Erfahrungen und auf die geäußerte Kritik reagiert und speziell zwei Punkte – glauben wir - verbessert. So sollte eine breite öffentliche Ankündigung über die Presse, das Internet und die Wahlkreisbüros der Abgeordneten unterstreichen, dass nicht nur die Repräsentanten und Mitglieder der Verbände eingeladen sind, sondern dass uns auch an der Teilnahme und Mitwirkung von – wie man so sagt – „Nichtorganisierten“ sehr gelegen ist. Zudem lässt das Programm – verglichen mit den früheren Veranstaltungen - mehr Zeit für Diskussionen und Gespräche. Damit wird einem Wunsch entsprochen, den bei Nachbetrachtungen beide Seiten geäußert haben - sowohl die externen Teilnehmer wie auch meine Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen. Diese Vorbemerkungen mögen Ihnen, meine Damen und Herren, zeigen, dass wir den heutigen Tag wichtig nehmen und dass wir uns auf ihn freuen. Und deshalb möchte ich Sie alle auf das Herzlichste begrüßen – wobei ich selbstredend keinen Unterschied mache zwischen den „Nichtorganisierten“ und denen, die im Namen oder als Mitglied eines Verbandes hier sind. Denn wieder einmal hat die Zahl der Anmeldungen unsere Kapazitäten überschritten. Jede und jeder von Ihnen ist daher gebeten, die persönlichen Erfahrungen einzubringen und bewusst auch für andere zu sprechen. Willkommenheißen möchte ich natürlich ebenso meine Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen aus den vier Landtagsfraktionen sowie die Vertreterinnen und Vertreter der Presse, die ich – bei allem Respekt vor der Pressefreiheit – bitte, dem, was heute gesagt und erarbeitet wird, eine große Resonanz zu verleihen. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ - durch den „Tag behinderter Menschen im Parlament“ bekennt sich der Landtag zu dem Auftrag, den er 1995 – dem Grundgesetz folgend – in die Landesverfassung geschrieben hat. Und ich habe bewusst den Begriff „Auftrag“ verwendet. Denn von einem Diskriminierungsverbot zu sprechen, ist zwar rechtstechnisch richtig – der Terminus verwässert aber im allgemeinen Bewusstsein die Tragweite dieser Verfassungsbestimmung. Zweifellos geht es auch darum, behinderte Menschen wirksamer zu schützen gegen Zurücksetzungen oder Anfeindungen und speziell gegen die „Ellenbogen“, die im zunehmenden Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt immer härter eingesetzt werden. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ – das reicht aber weiter: Das spricht die Verpflichtung aus, Menschen mit Behinderungen chancengleich in alle Bereiche des Lebens einzubeziehen und in ihrer oft spezifischen Leistungsfähigkeit gezielt zu fördern. Dieser Verfassungsauftrag verlangt also zum Beispiel, dass wir die Aussichten auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz verbessern. Denn wer erwerbstätig ist, hat ein soziales Gefüge; und selbst verdientes Geld macht überdies unabhängig. Vor allem fordert dieser Verfassungsauftrag, dass wir Barrieren abbauen, und zwar Barrieren jeglicher Art. Die Barrieren, die das Mobilsein einschränken – von den Bordsteinkanten über die Bahnsteige und die Fahrzeuge des öffentlichen Personenverkehrs bis zu den Zugängen und der Ausstattung von Gebäuden. Mit Barrieren gemeint sind auch die Hindernisse, die das Kommunizieren erschweren: Das Gespräch in Behörden, das Übermitteln amtlicher Dokumente, die Nutzung des Internetangebots öffentlicher Stellen, die Stimmabgabe in Wahllokalen – bei alledem sollen Menschen mit Sinnesbehinderungen soweit wie möglich nicht auf fremde Unterstützung angewiesen sein. Und deshalb freue ich mich sehr, dass die Landtagsverwaltung drei kleine Mosaiksteinchen zu dieser großen Aufgabe beitragen kann: Zum einen gibt es wiederum eine Hörkassette mit allen wichtigen Informationen unseres Kurzführers „Willkommen im Landtag“; die Kassette ist erhältlich beim Blinden- und Sehbehindertenverband Ost-Baden-Württemberg in Stuttgart. Zum anderen wird auch der neue Informationsfilm über den Landtag mit Untertiteln für Hörgeschädigte versehen – und dafür möchte ich der Paulinenhilfe in Winnenden von dieser Stelle aus noch einmal herzlich danken. Und zum dritten ist eine Gruppe Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen unter uns, um über die heutige Veranstaltung einen akustischen Beitrag anzufertigen und so die schriftliche Dokumentation zu ergänzen, die von der Landtagsverwaltung natürlich wieder erstellt werden wird. Am wichtigsten, weil nachhaltig wirkend ist es freilich, jene Barrieren zu tilgen, die entstehen durch vorauseilende und damit ausgrenzende Fürsorge, durch abwertendes Mitleid oder wohlmeinende Bevormundung. Denn das sind die Barrieren, die der gleichberechtigten Teilhabe im Sinne von Selbstbestimmung, politischer Einflussnahme und praktischem Mitgestalten entgegenstehen. Teilhabe heißt, sich ganz selbstverständlich einbringen zu können. Teilhabe heißt, nicht nur auf die politische Diskussion reagieren zu müssen, sondern selbst und damit authentisch Themen setzen zu können. Und Teilhabe heißt, über Verbände und in ihrer Stellung gestärkte Selbsthilfeorganisationen echten Einfluss zu haben auf die Weiterentwicklung der Hilfsangebote und auf die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen. Ein Signal und ein Impuls für eine so umfassend verstandene Teilhabe soll der „Tag behinderter Menschen im Parlament“ sein. Und diese Teilhabe muss sich auch in schwierigen Zeiten bewähren. Deswegen ist es gewiss hilfreich, dass Politiker und Betroffene gerade jetzt ganz konkret diskutieren über die praktische Tragweite des Verfassungsauftrags „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Dabei gilt es beispielsweise zu erörtern, wo und ab wann die Pflicht, Aufzüge einzubauen, unverhältnismäßig erscheint. Es gilt zu diskutieren, inwieweit der Landtag dadurch zum Handeln gezwungen ist, dass der Bund Zeichen gesetzt hat - speziell mit dem „Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen“ sowie daneben mit dem „Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter“ und mit dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches. Und wir sollten darüber sprechen, wie die stetig steigenden Kosten der Behindertenhilfe zwischen Bund, Ländern und Kommunen gerechter verteilt werden können und ob ein vom Bund finanziertes Behindertengeld dafür als gangbarer Weg erscheint. Angesichts dieser - von mir skizzierbaren - Themenfülle ist die Prognose einfach: Bei diesem „Tag behinderter Menschen im Parlament“ wird es – mehr noch als bei den Vorgängerveranstaltungen – intensiv zur Sache gehen. Das zeigen schon die Thesenpapiere, die als Grundlage für die Vormittagsforen erarbeitet worden sind. Und deshalb möchte ich der substanziellen Arbeit nicht länger im Wege stehen. Allerdings liegen mir noch drei Punkte am Herzen: Nämlich erstens: Bei aller Ernsthaftigkeit soll ein auflockerndes Element nicht fehlen. Deshalb wird die Mittagspause von der Band „Handicap“ eingeleitet. Und die Band freut sich natürlich, wenn wir alle pünktlich um 12.15 Uhr zu ihrem Auftritt in der Eingangshalle kommen. Dass das verabredete Zeitschema eingehalten wird, ist auch ein Wunsch derjenigen, die es übernommen haben, die Diskussion und Ergebnisse der Foren aufzuzeichnen und - mit Hilfe der Mitarbeiterinnen des Stenographischen Diensts - Protokolle zu erstellen, die dann als Grundlage für das abschließende „Schlaglicht“ zur Verfügung stehen sollen. Als zweites möchte ich allen herzlich danken, die an der Organisation und inhaltlichen Vorbereitung der Veranstaltung beteiligt gewesen sind. Meine besondere Anerkennung gilt dabei den Autorinnen und Autoren der erwähnten Thesenpapiere, die sozusagen den Humus für einen fruchtbaren Verlauf der Vormittagsforen geliefert haben. In den Thesenpapieren steckt viel gedankliche Vorarbeit; und sie lassen ahnen, wie viel Erwartungen und Hoffnungen gerade an diesen „Tag behinderter Menschen im Parlament“ geknüpft sind – Hoffnungen und Erwartungen, die nicht enttäuscht werden dürfen. Und last but not least möchte ich allen, die sich zu den Nichtbehinderten zählen dürfen, speziell eines empfehlen – nämlich: Demut. Denn nicht behindert zu sein ist kein eigenes Verdienst, sondern ein glückliches Schicksal, das sich schon in der nächsten Minute wenden kann. Es geht genau genommen um mehr als einen Verfassungsauftrag – es geht um die Frage, wie stark unsere menschliche Selbstachtung ausgeprägt ist: Denn was wir behinderten Menschen verweigern, verweigern wir uns selbst!