D.Dr. Eugen (Karl Albrecht) Gerstenmaier

Verfolgung
30.11.1934
Gerstenmaier ist Student und »Fachschaftsleiter Theologie« an der Universität Rostock. Er und weitere Studenten fordern im November 1934 den nationalsozialistischen Reichsbischof Ludwig Müller in einem öffentlichen Schreiben zum Rücktritt auf. In der Folge wird Gerstenmaier am 30. November 1934 in »Schutzhaft« genommen und von der Rostocker Gestapo verhört. Nach wenigen Tagen wird Gerstenmaier wieder aus der Haft entlassen. In einem anschließenden Disziplinarverfahren der Universität Rostock wird er am 21. Februar 1935 freigesprochen.
1938
Gerstenmaier habilitiert sich 1938 an derUniversität Rostock zum Thema »Die Kircheund die Schöpfung«. Aufgrund seiner »politischen Unzuverlässigkeit« wird ihm jedoch eine Lehrerlaubnis und eine Dozentur von den NS-Behörden verwehrt.
1942
Gerstenmaier schließt sich 1942 der Widerstandsgruppe »Kreisauer Kreis« um Helmuth James Graf von Moltke an und nimmt an zwei Kreisauer Treffen teil. Gerstenmaier unterstützt das von der Gruppe geplante Attentat auf Adolf Hitler. Am Tag des Attentatsversuchs, dem 20. Juli 1944, kommt Gerstenmaier - wohl fälschlich in der Annahme, dass das Attentat geglückt sei - in den Berliner Bendlerblock, Sitz des Allgemeinen Heeresamtes und Zentrum der Verschwörer. Dort wird er verhaftet und zunächst im Gestapo-Hauptquartier in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, später im Gefängnis an der Lehrter Straße, dann im Gefängnis Tegel inhaftiert. Am 11. Januar 1945 wird Gerstenmaier vom Volksgerichtshof in Berlin unter Vorsitz des Richters Roland Freisler wegen Hoch- und Landesverrat zu sieben Jahren Haft verurteilt. Im Februar 1945 - mit Intensivierung der Luftangriffe auf Berlin - wird Gerstenmaier in das Gefängnis St. Georgen in Bayreuth verlegt. Dort wird er am 14. April 1945 von vorrückenden US-Truppen befreit.
Biografie
Sohn eines Betriebsleiters einer Klavierfabrik
Realschule
1921
Kaufmännische Lehre in einer Textilfabrik
1931
Abitur am Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart
1931
Studium der Philosophie, Germanistik und evangelischen Theologie in Tübingen, Rostock und Zürich
Sommer 1933
Im Kirchenkampf stellt sich Gerstenmaier auf die Seite der Bekennenden Kirche, die eine Gleichschaltung und Kontrolle der Evangelischen Kirche durch das NS-Regime ablehnt. Als der Rostocker NS-Studentenführer Trumpf im Mai 1933 die Wahl Friedrich von Bodelschwinghs als Reichsbischof kritisiert und stattdessen die Einsetzung des nationalsozialistischen Pfarrers Ludwig Müller fordert, tritt Gerstenmaier Trumpf öffentlich entgegen: Er organisiert eine Unterschriftenaktion und eine Diskussion im Rahmen einer Fachschaftssitzung, außerdem äußert er sich in einer studentischen Vollversammlung.
September 1933
Gerstenmaier nimmt Ende September 1933 Kontakt mit dem Theologen Martin Niemöller auf und erklärt sich zum Engagement für die Bekennende Kirche bereit.
Herbst 1935
Promotion über das Thema »Schöpfung und Offenbarung. Systematische Untersuchung zu einer Theologie des ersten Artikels«
November 1935
Vikar im württembergischen Gailsdorf
April 1936
Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kirchlichen Außenamtes der Deutschen Evangelischen Kirche in Berlin
1939
Dienstverpflichtet in der kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes
August 1945
Aufbau und Leitung des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland
1946
Mitbegründer und Herausgeber der wöchentlich erscheinenden Zeitung »Christ und Welt«
1950
Mitglied der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion)
1950
Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates
1954
Präsident des Deutschen Bundestags (Rücktritt, nachdem er wegen Inanspruchnahme von Wiedergutmachungsleistungen in die öffentliche Kritik geraten und seine Beteiligung beim Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 in Zweifel gezogen worden war)
1956
Präsident der Deutschen Afrika-Gesellschaft
Rezeption
1952
Ehrendoktor der Universität Münster
1955
Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland
1956
Ehrendoktor der Wittenberg University (USA)
1965
Ehrendoktor der Universität Seoul (Korea)
1980
Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg
Literatur
Eugen Gerstenmaier: Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1981.
Horst Ferdinand: Eugen Gerstenmaier, in: Baden-Württembergische Biographien, 1, 1994, S. 106-112.
Andreas Meier: Eugen Gerstenmaier, in: Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Wolf-Dieter Hauschild, Gütersloh 1998, S. 185-201.
Daniela Gniss: Der Politiker Eugen Gerstenmaier 1906-1986. Eine Biografie, Düsseldorf 2005.
Rolf-Ulrich Kunze: Eugen Gerstenmaier und der 20. Juli 1944, in: Portraits zur Geschichte des deutschen Widerstands, hrsg. von Matthias Stickler, Rahden 2005, S. 139-155.