15. Mai 2025

Demokratie in Bewegung: Auf den Spuren Matthias Erzbergers in Biberach

Landtagspräsidentin Aras mit Jugendlichen auf der Straße

Heute Nachmittag durfte ich gemeinsam mit 150 Menschen einen Spaziergang durch diese schöne Stadt unternehmen, auf den Spuren von Matthias Erzberger. 

„Demokratie in Bewegung“ heißt dieses Dialogformat des Landtags. Dabei begeben wir uns an verschiedenen Orten im Land auf die Spuren von Wegbereitern der Demokratie – um im wahrsten Sinne des Wortes beiläufig mit Demokratie in Berührung zu kommen. Wenn wir Augen und Ohren offenhalten, ist unsere Demokratiegeschichte ja überall in unserem Land sichtbar. Und die Stadt Biberach hat viel dafür geleistet, sie sichtbar zu machen. Dass der Platz vor diesem Rathaus seit Oktober nach Matthias Erzberger benannt ist, ist ein großartiges Beispiel dafür. 

Wie Sie wissen, ist Matthias Erzberger vor 150 Jahren geboren worden. Deshalb möchte der Landtag ihn dieses Jahr besonders würdigen. Ihn und die 150 Jahre hin zu unserer heutigen Demokratie. 150 Jahre, zelebriert von 150 Menschen: Ein Zufall, aber ein sehr schöner Zufall.

Spaziergänge wie dieser, die an den Etappen zu unserer Demokratie entlangführen, erinnern daran, dass Demokratie eben keine Selbstverständlichkeit war und ist. Und sie inspirieren zum Dialog, wie wir unsere Demokratie im Hier und Heute stabilisieren. 

 

Meine Damen und Herren,

Matthias Erzbergers Geschichte verrät uns viel über unsere Geschichte. Widersprüche, Umbrüche, der Konflikt politischer Ideen: alles vereint in einer Person. 

Da war ein junger Publizist, der Kolonialskandale aufdeckte, aber dann glühender Verfechter von Annexionen wurde. 

Da war ein junger Ausnahmepolitiker, der 1914 noch kriegswütig war. Der mit dem Ersten Weltkrieg „Feuer vom Himmel“ regnen lassen wollte. Und dann vom Kriegsbefürworter zu einer wichtigen Stimme des Friedens wurde. Der sich später für den Völkerbund einsetzte, und für Abrüstung. Der nach Jahren des Gemetzels, des Giftgases und der Grausamkeit mit seiner Unterschrift einen Weltkrieg beendete.

Es ist eine blutige Geschichte über den Frieden. Über einen Menschen, der zu der Einsicht gelangte, wie kostbar dieser Frieden ist. In welche Abgründe der Nationalismus führt. Und wie hell die Idee von Demokratie und Völkerverständigung nach Jahren der Düsternis strahlt.

Die Geschichte von Matthias Erzberger ist keine reine Heldengeschichte. Er hat gestritten, er hat gelernt, er hat Fehleinschätzungen korrigiert – auch wenn es vielleicht unbequem war, Fehler zuzugeben. Er war immer ein überzeugter Parlamentarier. Und zum Ende seines Lebens hin einer der überzeugendsten Demokraten.

„Allein die Demokratie kann die Zukunft und Rettung des deutschen Volkes verbürgen.“ 

Das war seine Verlautbarung, seine Gewissheit, kurz vor seinem Tod. Wie schrecklich richtig er damit lag, war zu diesem Zeitpunkt, noch gar nicht zu ermessen: Bevor sich der Nationalismus in Rassenwahn steigerte, und die Welt erneut mit Krieg überzog. Dem verheerendsten in der Geschichte.

Dieser Tage haben wir der Millionen von Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges gedacht, der vor 80 Jahren endete. Ein Krieg, der seit 80 Jahren Auswirkungen hat auf jedes Leben in diesem Land, bewusst oder unbewusst!

Als alles in Schutt und Asche lag, als Deutschland das Unheil einholte, das es über die Welt gebracht hatte, mussten wir erneut zur Einsicht gelangen, dass allein in der Demokratie eine sichere Zukunft liegt! Und dass wir die Fehler der Weimarer Republik niemals wiederholen dürfen.

Unsere erste Demokratie hätte genauso eine Erfolgserzählung werden können wie die Bundesrepublik. Aber es gab keine Blaupause. Und der Frieden hatte Feinde. Die Anhänger der Monarchie versuchten mit aller Gewalt und Perfidie, die Zeit zurückzudrehen. Die Vergangenheit zu verzerren. Ausgerechnet den Advokaten des Friedens gaben sie die Schuld am verlorenen Krieg. Sie gaben den Kriegsgegnern und Demokraten all die Schuld an all dem Leid, das nach dem Krieg die Menschen umtrieb. Die Hetzkampagnen kosteten auch Matthias Erzberger die Karriere - und später das Leben.

Diese Erzählung von der sogenannten Dolchstoßlegende – eigentlich sei das Heer siegreich und ungeschlagen gewesen, nur die Demokraten hätten das deutsche Volk verraten – gehört mit zu den tödlichsten Lügen der Geschichte. Denn darauf baute der Aufstieg der Demokratiefeinde und Nationalsozialisten auf, die zwölf Jahre nach Erzbergers Ermordung an die Macht kamen und die Welt mit einem erneuten Weltkrieg ins Verderben stürzten.

Die junge Demokratie der Weimarer Republik war damals von vielen Seiten torpediert worden. Sie wurde von rechts angegriffen und auch von links zerrieben. Und so versank sie in Terror und Tumult. 

Matthias Erzberger versuchte in dieser Gemengelage, für Stabilität zu sorgen. Als konservativer Demokrat, als solidarischer Katholik. Er wusste, dass er Feinde hatte: „Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen.“ Das sagte er seiner Tochter Maria, nachdem er mehrere Mordanschläge überlebt hatte. Dass Matthias Erzberger dennoch öffentlich für die Demokratie einstand, wohlwissend, was und wer ihm drohte, zeugt von grenzenlosem Mut. 

Im August 1921 ging Erzberger gerade spazieren, als ihn die Kugeln der Rechtsterroristen trafen. Mit zwei Kopfschüssen aus nächster Nähe löschten sie sein Leben aus. 

Seine Ermordung erschütterte die Republik. Am Tag seiner Beisetzung demonstrierten Menschen in hunderten Städten. Eine halbe Million Menschen allein in Berlin. Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten zeigten sich solidarisch mit dem Konservativen, der um ein demokratisches Miteinander geworben hatte.

Heute Nachmittag standen wir an Matthias Erzbergers Grab, hier in Biberach. 

Und bei der Kranzniederlegung dachte ich mir: Was ist das für ein Geschenk, dass wir heute in einer der sichersten, friedlichsten, freiheitlichsten und stabilsten Demokratien der Welt leben dürfen!

Aber, meine Damen und Herren, wir wissen, wie unstet die Zeiten nun sind. Die Vergleiche mit der Weimarer Republik häufen sich. Und die Gefahr durch den Rechtsextremismus wächst und wächst. Alle 13 Minuten erfasst die Polizei inzwischen eine rechtsextreme Straftat. Und eine rechtsextreme Partei ist in manchen Umfragen stärkste Kraft.

Die KZ-Überlebende Margot Friedländer, die wunderbare, unglaubliche Margot Friedländer, die vor wenigen Tagen verstorben ist, hat uns ebenfalls gewarnt: „So hat es damals auch angefangen.“

Die Zeiten sind zwar ganz andere als zur Weimarer Republik – natürlich, und zum Glück! Aber das heißt nicht, dass uns die Demokratie garantiert ist. 

In der Weimarer Republik war Deutschland gezeichnet vom Ersten Weltkrieg. Daraus konnten die Nazis Kapital schlagen. Heute dürfen wir in Frieden und Wohlstand leben.

Deshalb müssen Populisten eine Notlage erfinden. Sie brauchen die Lüge vom Staatsversagen. Sie überzeichnen die Probleme bis zum Unheil, um sich als Heilsbringer aufzuspielen. Und diese Lüge treibt giftige Blüten. 

Der Rechtsextremismus und Antisemitismus, der nie gänzlich verschwunden war, tritt immer offener zutage. Und wieder werden Menschen in der Öffentlichkeit eingeschüchtert und bedroht.

Die Bundesregierung spricht von mindestens 115 Todesopfern rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung. Die Dunkelziffer ist sicherlich noch deutlich höher. Darunter waren die Opfer von Hanau. Die Opfer von Halle. Und die Opfer der NSU-Morde, deren Ermittlung eine einzige Schande bleibt. 

Und unter den Opfern war auch Dr. Walter Lübcke. Ein konservativer Politiker, der den Rechtsstaat vertrat, der einstand für Anstand, und dafür auf seiner Veranda hingerichtet wurde – mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe. Auch nach seinem Tod demonstrierten im ganzen Land Menschen gegen rechte Gewalt. 

Dr. Lübckes Mörder hatte sich im Netz radikalisiert, durch rechtsextremistische Propaganda. Auch heute sind es wieder Lügen- und Hetzkampagnen, die der Gewalt den Boden bereiten. 

Morddrohungen kommen inzwischen täglich vor: gegenüber Mandatsträgern, Journalisten, Staatsanwälten, Lehrern und allen anderen, die sich der Menschenfeindlichkeit in den Weg stellen. 

Ich selbst habe viele Morddrohungen erhalten und bringe sie konsequent zur Anzeige. Aber während mir erfahrene Juristinnen und Juristen zur Seite stehen, haben viele Menschen in der Kommunalpolitik diese Hilfe nicht. Daher hat Baden-Württemberg Angebote geschaffen, dass engagierte Menschen Unterstützung erhalten können, wenn sie bedroht werden.

Doch zunehmend gibt es in Deutschland Menschen, die sich nicht mehr in die Politik trauen. Die sich aus der Öffentlichkeit und Ämtern zurückziehen, weil sie oder ihre Familien bedroht werden.

 

Sehr geehrte Damen und Herren: 

Diese Entwicklung gehört aufgehalten!

Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie, braucht Menschen wie Sie hier im Saal, die sich demokratisch engagieren, haupt- oder ehrenamtlich.

Ihnen gilt unser Rückhalt, unser Schulterschluss und mein allergrößter Dank!

Es muss jeder und jedem bewusst sein: Wer Demokratiefeinde stärkt, wer Rechtsextreme wählt, bringt Menschen in Gefahr. Nachbarn, Freunde, Kollegen, Mitschüler. Denn die Demokratiefeinde ziehen ihre ganze Kraft aus der Vorstellung, dass Menschen eben nicht gleich an Würde und Rechten geboren sind. Demokratiefeinde fühlen sich von Gleichheit bedroht und bekämpfen sie mit aller Macht.

Niemand kann sagen, er habe von nichts gewusst. Wissen und Gewissen hängen zusammen. Was leitet sich aber daraus ab; DAS ist die Frage!

Unser Grundgesetz dient dazu, die Menschenwürde zu wahren und ein Miteinander in Freiheit und Gleichheit zu ermöglichen. Es gibt allen Demokratinnen und Demokraten den glasklaren Auftrag: Seid wehrhaft gegen die Menschenfeinde! 

Werden wir diesem Auftrag gerecht? 

Stellen wir uns vor, wir schauen in zehn Jahren auf die kommenden Monate zurück. Haben wir alles unternommen, um die Lawine zu stoppen?

Nehmen wir an, die Rechtsextremen kommen auch bei uns an die Macht. Nehmen wir an, sie tun, was sie ankündigen zu tun: das Parteiensystem abschaffen. Millionen von Menschen mit Migrationshintergrund vertreiben. Den freien Journalismus unterwandern. Mit „wohltemperierter Grausamkeit“ „ein paar Volksteile verlieren“. „Wir werden sie jagen.“ 

Nehmen wir an, auch die Gefolgsleute tun, was sie in unzähligen Morddrohungen und sonstigen Hasskommentaren ankündigen: Menschen „an die Wand stellen“. Gaskammern reaktivieren. 

Wenn all das geschieht, wie schauen wir in der Zukunft auf uns heute zurück? Auf unser Zögern, unser Zaudern, unsere Zahnlosigkeit? 

Darauf, dass wir denen, die sowieso immer eine Täter-Opfer-Umkehr inszenieren, lieber einmal zu viel die Bühne bereiteten, damit sich ja niemand von ihnen beschwert? 

Wie schauen wir darauf, dass wir unsere Wehrhaftigkeit von Umfragen abhängig machten?

Dass wir so taten, als ginge es den Lügnern um Fakten, um das bessere Argument?

Dass wir jahrelang so taten, als wären alle, die demokratisch gewählt sind, auch automatisch Demokraten, egal wie sehr sie das Grundgesetz verachten? Als wäre der parlamentarische Arm auch von Neonazis und Reichsbürgern ein rechtmäßiger Teil des demokratischen Spektrums?

Dass wir ihre aggressive Sprache und Forderungen übernahmen, egal wie oft bewiesen war, dass das sie allein stärkt und niemanden sonst?

Dass wir ihnen Zugriff zu nachrichtendienstlichen Informationen gaben?

Dass wir immer wieder das alte Argument brachten: „Lasst sie doch an die Macht! Sie werden sich schon entzaubern! Sie lassen sich schon bändigen!“… Als sei das jemals gutgegangen ... Als sei unsere Demokratie eine Spielwiese für derlei Experimente …

Werden wir uns bei all diesen Betrachtungen nicht schämen für unsere Feigheit? Schämen, dass wir uns derartig vorführen und benutzen ließen, mit allem Wissen und allen Mitteln ausgestattet, um all das nie wieder geschehen zu lassen?

 

Meine Damen und Herren,

was wir brauchen, ist Mut! 

Ich sagte es zu Beginn und ich sage es zum Schluss: 

Matthias Erzbergers Geschichte verrät uns viel über unsere Geschichte.

Wenn es eine Lehre aus der Weimarer Republik und aus dem Mord von Matthias Erzberger gibt, dann diese: politische Gewalt und politischer Fanatismus müssen rechtzeitig im Keim erstickt werden. Es gilt, klare rote Linien zu ziehen, bevor es zu spät ist.

Das gilt zum einen für die Zivilgesellschaft. Und dass in den letzten Jahren die größten Demonstrationen der Bundesgeschichte genau diese Botschaft vertreten haben, ist ein wichtiges Signal. Es gilt aber vor allem auch für die Institutionen des Staates und der Öffentlichkeit.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben unsere Demokratie wehrhaft gegen ihre Feinde gemacht. Aber eine Demokratie ist nur wehrhaft, wenn sie sich auch wehrt! 

80 Jahre, nachdem die Alliierten die Reichsflaggen verbrannten, die Hakenkreuze sprengten und die NSDAP endlich verboten wurde, gibt es heute erneut eine akute Gefahr, die es zu bannen gilt. 

Dieses Mal haben wir die Blaupause! 

Dieses Mal haben wir die Einsicht, es besser zu machen!

Nur in der Demokratie liegt die sichere Zukunft. 

Und die gilt es zu verteidigen.