24. Oktober 2024

Demokratie in Europa – Von der Vision zum gelebten Miteinander

Landtagspräsidentin Muhterem Aras am Rednerpult

Was ist Europa? Vor 24 Jahren nahmen 80.000 Schülerinnen und Schüler aus allen Mitgliedstaaten an einem Wettbewerb teil: Das Ziel: Ein Motto für die EU zu entwickeln. Das Ergebnis kennen wir heute alle. Die Antwort aus der Feder der Jugendlichen war: „In Vielfalt geeint“, „Unie dans la diversité“. Dass die Verantwortlichen damals für das Motto keine PR-Agentur engagierten, war kein Marketing-Stunt. Denn: Europa ist ein Projekt für die Zukunft. Und wer ist besser geeignet ein Zukunftsprojekt mitzubestimmen, als die zukünftige Generation selbst?

Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie heute zu einer weiteren Veranstaltung der Reihe „Wertsachen – was uns zusammenhält“ begrüßen zu dürfen. Seit 2017 organisieren wir sie, zu unterschiedlichen Artikeln des Grundgesetzes, immer in verschiedenen Städten Baden-Württembergs. 

Die Verfassung und ihre Werte sind unser Wertefundament – wir dürfen sie nicht als selbstverständlich hinnehmen. Die Werte des Grundgesetzes sind zeitlos, doch die Zeiten ändern sich. Immer wieder werden unsere Werte auf die Probe gestellt oder aktiv angegriffen. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind unsere Wertsachen, wir müssen gemeinsam auf sie aufpassen! Heute wollen wir, hier in Kehl, den Fokus auf das Thema richten: Demokratie in Europa – Von der Vision zum gelebten Miteinander. 

Liebe Gäste, Sie alle sind herzlich willkommen. Einige Gäste möchte ich namentlich begrüßen. Aus dem Landtag begrüße ich Herrn Abgeordneten Bernd Mettenleiter (Grüne). Ich begrüße Herrn Oberbürgermeister Britz – ein herzliches Dankeschön für die Gastfreundschaft in Kehl und die tolle Zusammenarbeit in Vorbereitung dieser Veranstaltung. Ein herzliches Willkommen der Bürgermeisterin von Straßburg, Frau Barseghian: Liebe Jeanne, danke, dass du – als Präsidentin des Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau –heute Abend mit dabei bist. Ich begrüße Herrn Stephan Preiß, Kreisvorsitzender der Jungen Europäischen Föderalisten Kehl. Ich begrüße sehr herzlich Frau Thelen, die Direktorin der Landeszentrale für Politische Bildung und ihren Stellvertreter, Herrn Professor Weber. Vielen Dank für die wunderbare Zusammenarbeit.

Vor allem begrüße ich die vielen jungen Menschen im Saal: die Schülerinnen und Schüler, Auszubildende und Studierende. Stellvertretend für euch alle begrüße ich Julia Göbel vom sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Gymnasium Kehl, die gleich auf dem Podium platznehmen wird. Ihre Klasse hat heute mit Martin Speer in einem Workshop Zukunftsvisionen von Europa erarbeitet – auf die Ergebnisse bin ich schon sehr gespannt.

Ich freue mich sehr, Sie begrüßen zu können, lieber Herr Speer! Dank Ihrer Initiative „Free Interrail“ konnten seit 2018 mehr als 300.000 Jugendliche – im Rahmen von „DiscoverEU“ – Europa und seine Menschen kennen lernen: Ein unschätzbarer Beitrag zur europäischen Integration. Danke, dass Sie den Tag mitgestalten. 

Ebenfalls begrüße ich Herrn Frey, Präsident des Euro-Instituts Kehl, Herrn Professor Dr. Beck, Rektor der Hochschule Kehl, Herrn Dr. Schuber, Geschäftsführer des Europa-Zentrums BW sowie Herrn Godonaise, Président Les Jeunes Européens.

Ein herzliches Willkommen auch allen internationalen Gästen aus Straßburg. „International“ klingt nach einer langen Reise, dabei hatten Sie wahrscheinlich eine der kürzesten Anfahrten. Vielleicht mit der gerade im Song erwähnten Tram-Linie D.

Meine Damen und Herren, als ich 2016 zum ersten Mal zur Landtagspräsidentin gewählt wurde, habe ich versprochen, mich mit ganzer Kraft für den Erhalt unserer Grundwerte einzusetzen. Denn unsere Grundwerte sind das, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Die ein Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft ermöglichen. Und seit 75 Jahren haben wir das auch schriftlich: Denn vor 75 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft. Das Grundgesetz ist die Antwort auf die grausame NS-Zeit, auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Nie wieder darf so ein Menschheitsverbrechen geschehen.

Deshalb steht ganz vorne im Grundgesetz, in der Einleitung, unter den ersten Worten - „Europa“. Da heißt es: Wir geben uns dieses Grundgesetz, „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Wir haben also lange von einem vereinten Europa geträumt, bevor es die EU überhaupt gab. Und wir wollten am Frieden in Europa mitwirken, nachdem unser Krieg den Kontinent verwüstet hatte.

Das war die Vision, die die Gründungsmütter und-väter vor 75 Jahren hatten. Und heute? Haben wir es geschafft, diese Vision mit Leben zu füllen? Ich sage: Ja, das haben wir! 2012 erhielt die EU den Friedensnobelpreis. Nächstes Jahr werden wir auf 80 Jahre Frieden, 80 Jahre keinen Krieg innerhalb des Staatenverbundes zurückschauen können. Achtzig Jahre! Im Vergleich: In den 80 Jahren vor 1945 gab es mehr als 25 kriegerische Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der heutigen EU. Einschließlich der zwei verheerenden Weltkriege. Der zweite UN-Generalsekretär, Dag Hammerskjöld, sagte einmal über die Vereinten Nationen: „Die Vereinten Nationen wurden nicht gegründet, um uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu retten!“ Im Gegensatz dazu hat die EU noch sehr viel mehr geleistet, als Kriege zu verhindern.

Denn die EU ist mehr als ihre Verträge. Die EU ist mehr als ein Wirtschaftsblock. Die EU ist – vor allem zwischen der Region Grand Est und Baden-Württemberg – Alltag! 23.000 Menschen pendeln hier täglich über die Grenze. Jugendliche konnten diesen Sommer mit dem Deutschlandticket auch in der Region Grand Est, beziehungsweise dem Pass jeune in Baden-Württemberg reisen. Mehr als 2.000 Städtepartnerschaften verbinden Frankreich und Deutschland. Allein 460 Verbindungen gehen von baden-württembergischen Kommunen aus. In der Eurométropole verwalten wir gemeinsam, im Universitätsverbund EUCOR forschen wir zusammen, über ARTE informieren wir miteinander, auf dem Rhein patrouilliert eine deutsch-französische Wasserschutzpolizei, und heute startet am Oberrhein die grenzüberschreitende Katastrophenschutzübung „Magnitude“.

Das ist die Grundlage für ein gutes Zusammenleben, das ist die Grundlage für gegenseitiges Verständnis, das ist die Grundlage für unseren Wohlstand, das ist Europa, meine Damen und Herren!

Vor dem Hintergrund dieser Erfolge erstaunt – und entsetzt – das Erstarken demokratiefeindlicher und europa-skeptischer Kräfte umso mehr! Nach der letzten Europawahl haben die drei europa-skeptischen Fraktionen einen Sitzanteil von 26 Prozent im Parlament! In sieben Mitgliedstaaten sind nationalistische Parteien an der Regierung beteiligt. Und in sieben weiteren Ländern sind sie aktuell nach Umfragen stärkste oder zweit-stärkste Kraft. Die Gründe dafür sind von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt. Zum einen geriet das Wohlstandsversprechen der Regierungen und der EU durch die hohe Inflation ins Wanken. 

Zum anderen werden die zentralen Werte der EU – Menschenrechte, Würde, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit – seit 2015 mit der zunehmenden Migration zum ersten Mal wirklich auf die Probe gestellt. Das zeigt sich auch im Alltag: Aktuell führen acht Mitglieder des Schengenraums wieder Grenzkontrollen durch – an den deutschen Grenzen seit Mitte September und in Frankreich ab 1. November ebenfalls. Meine Damen und Herren, geschlossene Grenzen entsprechen nicht dem europäischen Geist! Egal, ob es eine bürokratische, eine rechtliche oder eine technische Grenze ist: Die beste Grenze innerhalb der EU ist die, die nicht vorhanden ist. Die EU ist dazu da, Hürden abzubauen, nicht, um neue Hindernisse zu errichten. 

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die EU und viele Mitgliedstaaten – auch nach neun Jahren – das Dilemma zwischen Humanität gegenüber Migranten und sicheren europäischen Grenzen aus Sicht ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht zufriedenstellend gelöst haben. Das gibt rechtsextremen und populistischen Kräften Auftrieb: Und sobald diese eine kritische Masse erreicht haben, schränken sie neben den Rechten von Migrantinnen und Migranten bald auch die Rechte weiterer Gruppen ein: Wie Einschränkungen im Abtreibungsrecht in Polen und Italien, wie Einschränkungen von Gerichten, Medien und Wissenschaft in Ungarn.

Damit alle Europäerinnen und Europäer gleichermaßen von den Rechten profitieren, die ihnen die Charta der Grundrechte und die EU-Verträge garantieren, braucht es auch in Zukunft eine starke EU! Wie unsere Demokratie muss Europa eine wehrhafte Einheit nach innen und nach außen sein. Wie unsere Demokratie ist das Projekt Europa nicht selbstverständlich. Wir müssen für sie werben und sie stetig weiterentwickeln, damit auch die nachfolgenden Generationen in Frieden und Wohlstand leben können.

Liebe Jugendliche, liebe junge Erwachsene, ich wünsche euch und Ihnen ein starkes Europa! Mit einem starken Europa habt ihr so viel mehr Gestaltungsraum für euer Leben, für eure Träume und Ziele. Die aktuelle Shell-Studie stellt fest, dass ihr viel politischer seid als Gleichaltrige vor ein paar Jahrzehnten. Und ihr engagiert euch auch mehr. Ihr wollt viel mehr gestalten, weil ihr dem Staat und unserer Demokratie vertraut, weil ihr mehrheitlich optimistisch in die Zukunft schaut. Ich hoffe, ihr findet euch darin wieder, denn: diese Studienergebnisse machen mir Mut.

Die Europawahl dieses Jahr war die erste, bei der junge Menschen bereits ab 16 Jahren wählen durften. Eine Entwicklung, die ich sehr begrüße. Das Wahlergebnis selbst hat mich jedoch nachdenklich gemacht: 23 Prozent der unter 30-Jährigen wählten eine populistische, europaskeptische Partei. Es gibt einen geringen, aber sehr verdrossenen Teil der jungen Generation. Und dieser Teil der Verdrossenen ist laut Studie besonders anfällig für populistische Hetze und Heilsversprechen! Mit den vielen Krisen steigen – verständlicherweise – auch bei euch die Sorgen. Und ja: Demokratie kann verdammt zäh – manchmal auch enttäuschend, wenn andere sich durchsetzen. Auf die vielen Krisen gibt es auch nicht die eine, perfekte Lösung. Und auch die Politik ist nicht perfekt, es geschehen Fehler, die man ansprechen und kritisieren muss.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Politik ist das Entscheiden im Dilemma. Die perfekte Lösung, die für alle zufriedenstellende Antwort, gibt es nicht. Gleichzeitig drängen politische Fragen so sehr, dass Entscheidungen unausweichlich zur Demokratie dazu. Davon dürfen wir uns nicht entmutigen lassen. 

Demokratie garantiert ein Leben in Freiheit, das heißt, wir können unsere Meinung frei äußern, wir können jeden Beruf ergreifen, wir können lieben, wen wir wollen. Die Demokratie garantiert, dass alle an der Gestaltung des Zusammenlebens aktiv mitwirken können.

Wenn eure Generation jetzt sagt, dass ihr mehr Gehör verdient, einen festen Platz in der Diskussion, dann habt ihr Recht! Im Umkehrschluss habt ihr eine Mitverantwortung als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten und die Krisen gemeinsam angehen. Deshalb mein Appell: Bewahrt euch den Grundoptimismus, bewahrt euch das Engagement, und bewahrt euch das Grundvertrauen in die Demokratie und in Europa!

Liebe Gäste, seit einem guten Monat steht im Garten der zwei Ufer, hier in Kehl, die „Babbelbank“. Sie soll Menschen dazu ermutigen, untereinander ins Gespräch zu kommen. Dazu ist auch der Abend heute gedacht:

Herr Oberbürgermeister Britz: Sie haben das Wort.