06. Februar 2025

Demokratie unter Druck

Landtagspräsidentin Muhterem Aras im Gespräch

Liebe Gäste,

ich freue mich sehr, heute bei Ihnen hier in Heilbronn zu sein. 

[Begrüßung]

Gerade in Zeiten eines sich zuspitzenden Wahlkampfes finde ich es sehr wichtig, die große Frage unseres demokratischen Zusammenlebens nicht aus den Augen zu verlieren. Ein großes Dankeschön deshalb an die Württemberger Gesellschaft für die Organisation des heutigen Abends.

[Begrüßung]

Liebe Gäste,

„Es besteht ein Gefühl der außenpolitischen Bedrohung. Im Zeitalter der Automatisierung fühlen sich Menschen potenziell überflüssig, Sie fühlen sich als potenzielle Arbeitslose. Supranationale Blöcke schränken die Bewegungsfreiheit von Nationalstaaten ein. Rechtsradikale Kräfte antizipierten den ökonomischen Rückschlag. Alt- und Neufaschismus sind heute quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt.“ Das war die Analyse Theodor Adornos in seiner Rede an der Universität Wien, am 6. April 1967. Die EU hieß damals noch EWG, die Sorge einer Auflösung der nationalen Identität und Selbstbestimmung besteht aber weiterhin. Die außenpolitische Bedrohung war der kalte Krieg, heute führt Russland Krieg an der EU-Außengrenze. Damals wurde die Automatisierung in der Produktion von Magnetbändern und Lochkarten angetrieben – heute von künstlicher Intelligenz.

So ähnlich die Herausforderungen zwischen damals und heute sind: die Reaktion der extremen Rechten gleicht sich noch viel mehr. Adorno bemerkt zum Vergleich der NPD und NSDAP: „Es ist erstaunlich, wie wenig zu dem alten Repertoire an Neuem hinzugekommen ist, wie sekundär und aufgewärmt es ist.“ So auch heute. Forderte die NPD in den 60ern einen „Schluss mit dem Schuldbekenntnis“, ist es bei Björn Höcke die „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!“ Gestern wie heute beruft sich der rechte Rand – Zitat Adorno – „auf die wahre Demokratie und schilt die anderen antidemokratisch.“

 

Meine Damen und Herren, 

unsere liberale Demokratie steht nicht zum ersten Mal unter Druck. Sicherlich haben wir dann aus der Geschichte gelernt? Dieser Frage würde ich heute gerne mit Ihnen nachgehen.

Am 27. Januar – dem Internationalen Holocaust-Gedenktag – wird in Deutschland den Opfern des Nationalsozialismus gedacht. So auch in diesem Jahr – dem 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz Birkenau. Wir kennen die unfassbaren Zahlen von Opfern dieses menschenverachtenden Regimes. Wir kennen von vielen der Ermordeten die Lebens- und Leidensgeschichte: Ihnen wurde das Recht auf Leben, das Recht auf das Mensch-sein – aberkannt, weil die NSDAP dies als Rassenlehre ‚predigte‘ und in Gesetze goss. Die Mehrheit der Bevölkerung fügte sich, unterstützte, akzeptierte, widersprach nicht.

Wir kennen die Anfänge des NS-Regimes, wir kennen das Ende der Weimarer Republik. Wir wissen, wie Demokratien sterben. Wir sagen: „nie wieder!“ Und doch fühlen wir alle, dass gerade etwas ins Rutschen kommt!

Wir hören die Geschichtsverdreher, die die NS-Herrschaft als „Vogelschiss“ relativieren. Die sagen, dass Hitler ein Linker gewesen sei. Wir hören die Geschichtsvergessenen, die NS-Parolen wieder gesellschaftsfähig machen, die einen Schlussstrich unter das Erinnern ziehen wollen. Und wir hören die, die das Öl des Populismus in den gesellschaftlichen Diskurs gießen, bis Hass und Hetze wieder Funken schlagen.

Eine Studie der Universität Amsterdam, die letzte Woche veröffentlicht wurde, belegt: Abgeordnete von rechtspopulistischen Parteien verbreiten mit sechsfacher Wahrscheinlichkeit mehr Misinformationen als Abgeordnete anderer Parteien. Es ist ihre Nahrung, es ist das Fundament, auf dem sie ihre Politik aufbauen. Es sind ihre Lügen. Vor allem die Lüge vom Staatsversagen ist elementar für die Demokratiefeinde. Denn: erst in einer Katastrophe – braucht es einen Retter, einen Heilsbringer, einen starken Führer. Die Taktik ist jedoch leider weltweit erfolgreich. 

Nach Adorno ist es schon die „Antizipation des Schreckens“, die den Zulauf der extremen Rechten anschwellen lässt. Diesen vermeintlichen ‚Schrecken‘ schüren die Polarisierungsunternehmer – um einen Begriff des Soziologen Steffen Mau zu nutzen – wo immer möglich. Den Schrecken vor dem wirtschaftlichen Abstieg, vor der Migration, vor dem Zerfall alter Werte, vor einer ungewissen Zukunft.

Liebe Gäste,

falls es einen ‚volonté géneral‘ tatsächlich gibt, einen ‚Willen der Gemeinheit‘, einen Willen, der über den anderen aggregierten Einzelinteressen steht, dann sollte es wohl der Wille zur liberalen Demokratie sein. In der Nachkriegszeit gab es lange einen vielerseits respektierten Konsens: In Krisenzeiten kommt nicht gleich die ganze freiheitlich-demokratische Grundordnung auf den Prüfstand. Wir sind eine Gesellschaft, in der die liberale Demokratie – um ihrer selbst willen – geachtet, geschützt und verteidigt wird. Sind wir das? Waren wir das? Sind wir gerade dabei, diesen Konsens zu verlieren?

Nach einer aktuellen Erhebung der More in Common-Organisation sieht der Status Quo heute folgendermaßen aus: 56 % der Deutschen unterstützen die liberale Demokratie bedingungslos. Das sind kaum mehr als die Hälfte. 44 % binden ihre Unterstützung daran, ob sie Vorteile aus dem System ziehen, ob Demokratie ‚liefert‘. Die Politikwissenschaft weiß, dass sich politische Systeme über den Input – also Partizipation – und den Output – wie Problemlösungen –legitimieren. Beim Output geht es jedoch nicht nur um die direkten staatlichen Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger, wie den klassische Behördengang, die Rente oder die Bereitstellung von Infrastruktur.

Es geht auch um die in-direkten Vorteile, um Leistungen, die wir – 80 Jahre nach Kriegsende – als selbstverständlich hinnehmen: Das sind die garantierten, die einklagbaren Freiheitsrechte: Eine freie Gesellschaft, die Minderheiten schützt, Uns alle schützt: das Grundgesetz, unsere Demokratie, unser Rechtsstaat. In der Bestandsaufnahme sehen wir jedoch weiterhin, dass nicht nur die Zustimmung zur Demokratie schwindet, sondern ihre grundlegen Prinzipien aktiv missachtet und angegriffen werden.

Die Akzeptanz für Gewalt, Drohungen und Desinformation steigt immer weiter an. Das macht mir Sorgen, und das macht sicherlich auch vielen von Ihnen Sorgen! Was können wir – die wir die Demokratie lieben – also tun? Die Zeiten der vermeintlich einfachen Lösungen sind vorbei. Polykrisen bestimmen die Entwicklungen weltweit!

Immer mehr Herausforderungen wie der Umgang mit dem menschengemachten Klimawandel, die Sozialen Medien und geopolitische Verwerfungen müssen aufwendig international verhandelt und gelöst werden.

Theodor Heuss sagte: „Man muss das als gegeben hinnehmen: Demokratie ist nie bequem!“ Ich möchte ergänzen: Demokratie ist anstrengend, oft auch langwierig. – weil man Kompromisse schmieden und Mehrheiten erarbeiten muss. Verlockend erscheinen da Manchen die einfachen Scheinlösungen vermeintlich schneller Entscheidungen und alter Erfolgsrezepte: geschlossene Grenzen, eine homogene sogenannte ‚Volksgemeinschaft‘ die Rückkehr zur D-Mark.

Mal abgesehen von allen rechtlichen und humanitären Fragen: der Schaden für uns als Exportnation wäre groß. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat letztes Jahr in einer breiten Studie ermittelt, dass sich die Wirtschaftsleistung von Ländern mit populistischer Regierung auf 15 Jahre 10% schlechter entwickelt als die Wirtschaftsleistung von Ländern mit nicht-populistischen Regierungen. Schuld daran sind eine wirtschaftliche Abschottung und die Erosion des Rechtsstaates: Entwicklungen, deren Anfänge wir gerade in den USA beobachten können.

Die Wahl von Rechtspopulisten und ihrer ‚Lüge vom Staatsversagen‘ ist insofern eine selbsterfüllende Prophezeiung: Wer die Erzählung vom Abstieg wählt, der bekommt den Abstieg. Und mit dem Abstieg ein vergiftetes, gesellschaftliches Klima. Denn schon Adorno stellte 1967 fest: „In rechtradikalen Bewegungen macht die Propaganda die Substanz der Politik aus.“ Als Folge sehen wir heute, dass die Opfergruppen des NS-Regimes wieder in Angst in Deutschland leben, dass die politisch motivierten Gewalttaten von Rechts auch letztes Jahr wieder angestiegen sind. Ist das dieses „Nie wieder!“? „Nie wieder!“ ist nicht nur eine Mahnung, es ist auch ein Appell! Denn: Es darf nicht nur passiv heißen: Nie wieder darf es geschehen! Sondern: Nie wieder dürfen wir es geschehen lassen! 

 

Meine Damen und Herren,

wenn wir in zehn Jahren auf das Hier und Jetzt zurück-blicken, können wir dann von uns guten Gewissens behaupten, ALLES für eine friedliche, demokratische Gesellschaft unternommen zu haben? Oder haben wir leichtfertig gefordert: „Lasst die Demokratiefeinde doch mit-regieren, lasst sie sich selbst entzaubern?“ Oder haben wir uns an den ständigen Tabubruch in der Sprache gewöhnt? Ja, haben wir ihn vielleicht auch selbst übernommen? Oder haben wir die populistischen Scheinlösungen unwidersprochen im Raum stehen lassen?

Liebe Gäste,

der erste Schritt, um die unsere Demokratie zu schützen, ist die Erkenntnis, dass Jede und Jeder etwas tun kann. Dass Jede und Jeder Verantwortung übernehmen kann. Dass wir uns gegenseitig stärken und unterstützen– in der Nachbarschaft wie in der Gesellschaft. Lassen wir uns als Gesellschaft nicht spalten. Spielen wir nicht die Schwächsten gegeneinander aus. Sparen wir nicht bei den Ärmsten. Gewähren wir denen Zuflucht, die sie brauchen – ganz im Sinne unseres Rechts- und Sozialstaats, ganz im Geiste des Grundgesetzes. Wir müssen miteinander sprechen, uns gegenseitig zuhören in den Parlamenten, in den Kirchengemeinden, im Beruf, in den Vereinen. Dort lebt Demokratie! Sie lebt in der Stadt und auf dem Land! Sie lebt in Veranstaltungen wie heute Abend hier in Heilbronn. Erst, wenn es diese sicheren Räume gibt, sehen und erleben wir die Menschen hinter den politischen Positionen. Im direkten Kontakt erleben wir, was Demokratie wirklich bedeutet: Das Aufstehen für eine Idee, das Aufeinander-Zugehen, Kompromisse im Sinne der Gemeinschaft. Das erleben wir nicht im digitalen Raum. Das erleben wir nur in der Demokratie vor Ort! Aufstehen für die Demokratie bedeutet auch Haltung zeigen, – immer und überall: am Arbeitsplatz, beim Familienfest, in der Schule in der Gemeinde. Besonders dann, wenn die Menschenwürde angegriffen wird.

Es gibt immer weniger Zeitzeugen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs, des Krieges, der Vernichtung. Jetzt ist es an uns, die Erinnerung hoch zu halten. Hoch zu halten und im Heute zu verankern. Deshalb sind Initiativen – wie die rund um den KZ-Friedhof Neckargartach – so wichtig! 

Anfang des Jahres beschloss der Gemeinderat Heilbronn, den Friedhof und das ehemalige Arbeitslager an der Böllinger Straße im Stadtbild sichtbarer zu gestalten. Bislang hatten sich Ehrenamtliche um den fast vergessenen Ort hinter einem Firmengelände gekümmert. Die geplanten Bauten und Markierungen im Gewerbegebiet sind ein Fingerzeig im Alltag an alle Bürgerinnen und Bürger: Die Grausamkeiten der NS-Zeit waren nicht irgendwo und irgendwann. Sie waren auch hier, wo wir heute in Frieden leben und arbeiten. Und sie können wieder passieren. Wir wissen das. Und in diesem Sinne sage ich Ihnen ganz deutlich: Wer Demokratiefeinde stärkt, wer Rechtsextreme wählt, bringt Menschen in Gefahr: Nachbarn, Freunde, Kollegen, Mitschüler. Denn die Demokratiefeinde ziehen ihre ganze Kraft aus der Vorstellung, dass Menschen eben NICHT gleich an Würde und Rechten geboren sind. Demokratiefeinde wollen nicht an die Macht, um Menschen zu helfen, oder um dafür zu sorgen, dass es uns als Bundesrepublik insgesamt besser geht. Sie verkaufen nur ein Gefühl von Heimat, sie verkaufen das Gefühl, dass sie zuhören. Doch: sie haben keinerlei Lösungen im Angebot. Im Gegenteil, ich hatte die wirtschaftlichen schlechten Auswirkungen populistischer Regierungsparteien bereits erwähnt. Und ihre Rhetorik des Spaltens, das kontinuierliche Heraufbeschwören von Katastrophen, vergiftet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Schon zu oft wurden aus Worten des Hasses Taten der Gewalt! Wer fahrlässig Rechtsextreme wählt, kann nachher nicht sagen, er oder sie habe davon nichts gewusst: Wissen und Gewissen hängen zusammen.

Die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger für die Demokratie gilt umso mehr für die Abgeordneten in unseren Parlamenten. Es ist wichtig, dass gewählte Abgeordnete die Instrumente der wehrhaften Demokratie – die ihnen die Verfassung an die Hand gibt – auch nutzen. Doch: bevor Parteien verboten werden, müssen Parteien der demokratischen Mitte den Wählerinnen und Wählern ein echtes politisches Zuhause bieten. Sie müssen Antworten finden auf den Wunsch nach Veränderung. Demokratische und rechtstaatliche Antworten. Sie dürfen das Vertrauen zwischen Parteien und Wählerschaft, ihre Verantwortung und ihre Glaubwürdigkeit niemals aus den Augen verlieren. Wortbrüche und Symbolpolitik stärken nur die extremen Ränder, stärken die Politikverdrossenheit.

Die Parteien der demokratischen Mitte müssen – wenn es darauf ankommt – aufeinander zugehen, ihre parteitaktische Denke beiseitelegen, Kompromisse finden und miteinander arbeiten.

Im Januar 2025 bekam in Österreich ein Rechtsextremist den Regierungsauftrag, weil demokratische Parteien so verantwortungslos darin versagten, sich aufeinander zu-zubewegen – wohlwissend, was sonst droht! Ein Rechtsextremist, der sich – wie Hitler einst –als „Volkskanzler“ bezeichnet, der von ‚Systempresse‘, Systemparteien‘ und ‚Volksverrätern‘ spricht: durch und durch NS-Jargon. Seine Absichten versteckt er nicht! Und dennoch nahmen die Parteien der Mitte die Gefahr einer rechtsextremen Regierung in Kauf. Sie nahmen sie in Kauf, anstatt ihre Differenzen zu überwinden. Die Demokratie ist nur dann stark, wenn Demokratinnen und Demokraten sie verteidigen. 

Gehen wir alle am 23. Februar wählen: Wählen wir Parteien, die auf dem Boden der Verfassung stehen! Zeigen wir uns und der Welt, dass die Demokratinnen und Demokraten immer noch in der Mehrheit sind. Ich freue mich auf die Debatte mit Ihnen.

Vielen Dank!