11. Juli 2024

Grußwort der Präsidentin „Erinnern für die Zukunft“ zur Gedenkstättenreise 2024

Landtagspräsidentin Aras im Gespräch mit einer Moderatorin

Sehr geehrter Herr Fass, herzlichen Dank für Ihre Worte und vor allem für die Gastfreundschaft der Schule Schloss Salem! Es ist großartig, dass wir heute Abend an diesem Ort verbringen dürfen – vielen Dank dafür!

Sehr geehrter Herr Landtagsabgeordneter Hahn, meine Damen und Herren, liebe Jugendliche, das Wort „Geschichte“ beschreibt einen Prozess: einen Prozess, in dem sich Epoche um Epoche, Zeitschicht um Zeitschicht ablagert und übereinanderlegt. Jede Zeitschicht wiederum besteht aus Millionen von Geschichten, von Ereignissen und Biografien. Manche dieser Geschichten wirken unscheinbar, wie ein Sandkorn im See, andere kommen einem Erdrutsch gleich. Aber sie alle formen unsere Vergangenheit. Erinnern bedeutet, den Schichten von Geschichten auf den Grund zu gehen, sie freizulegen und aufzuwirbeln. Es bedeutet, aus unzähligen Erzählungen herauszuarbeiten, was wirklich war. Und was wir alle daraus ableiten können: für unsere Gegenwart und Zukunft.

Meine jährliche Gedenkstättenreise führt mich an Orte im Land, an denen engagierte Menschen Gedenkarbeit leisten: Haupt- und vor allem Ehrenamtliche, die die Erinnerung wachhalten, die die Vergangenheit vergegenwärtigen. Ich möchte ihre Arbeit kennenlernen, wertschätzen und vor allem: unterstützen. Denn ich bin sicher: Gedenken ist elementar für unsere Demokratie. Und ich bin allen Menschen, die diese wichtige Arbeit in den Gedenkstättenvereinen leisten, unendlich dankbar!

Die Gedenkstättenreise führt immer auch zur Frage: Worin liegt für uns die Zukunft des Erinnerns? Darüber nachzudenken und zu sprechen, das ist die Leitidee des heutigen Abends. Und ich freue mich sehr, dass Sie so zahlreich hergekommen sind, dass vor allem viele Jugendliche hergekommen sind! Ich heiße Sie und euch alle herzlich willkommen! Liebe Schülerinnen und Schüler aus Ravensburg, Überlingen und Salem, nicht nur habt ihr mich vorhin auf der Gedenkstättenreise begleitet. Ich weiß, dass ihr teilweise auch schon bei Stolperstein-Putzaktionen mitgemacht habt. Oder dass ihr euch einbringt an einer Schule gegen Rassismus – Schule für Courage wie dieser hier. Ich finde dieses Engagement wirklich großartig! Auf das Gespräch mit euch freue ich mich schon sehr, und auf eure Sichtweisen auf das Erinnern bin gespannt.

Für den heutigen Fachvortrag und das anschließende Gespräch haben wir eine Pionierin gewonnen, die für das Thema Erinnerungskultur steht wie wohl keine andere Wissenschaftlerin in diesem Land. Liebe Frau Prof. Assmann, tausend Dank, dass Sie hier sind, auch Ihnen ein besonders herzliches Willkommen! Jahrzehnte lang sind Sie (gemeinsam mit Ihrem Mann, Jan Assmann) den Fragen nachgegangen: Was bedeuten Erinnern und Vergessen für uns als Gesellschaft? Inwiefern prägt ein kulturelles Gedächtnis unser Selbstbild? Und mit aktuellen Bezügen auf das Friedensprojekt Europa, auf „Menschenrechte und Menschenpflichten“, auf unser heutiges Verständnis von Nation zeigen Sie immer wieder: Es geht nicht darum, die eigene Landesgeschichte zu beschönigen. Sondern darum, offen mit den eigenen Vergehen und Verbrechen umzugehen, um es fortan besser zu machen. Ich freue mich auf Ihren Vortrag und Ihre Gedanken, wie uns das auch in Zukunft gelingt!

Liebe Gäste, bei der diesjährige Gedenkstättenreise zum Bodensee muss ich ganz buchstäblich an die verschiedenen Schichten von Geschichte denken. Denn auf dem Boden des Bodensees liegt eine Schicht von Geröll, die dort eigentlich nicht hingehört. Es handelt sich um den Aushub des Goldbacher Stollens, um aus dem Felsen gesprengtes Gestein. Die Nationalsozialisten ließen es in den Bodensee kippen, um den Bau des Stollens zu verbergen. Damit sie ihre Rüstungsindustrie bombensicher unter Tage verlegen konnten, zwangen sie rund 800 Gefangene, den Stollen zu errichten, unter unmenschlichen Bedingungen. 243 Zwangsarbeiter starben. Für die Rüstungsproduktion wurde der Stollen nie genutzt. Es ist eines von etlichen Beispielen für das sinnlose Grauen, für die Menschenverachtung der NS-Diktatur.

Der Stollen und das dazugehörige Lager Aufkirch waren eine Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau: eines der zahlreichen Vernichtungslager für politische Gefangener, Sinti und Roma, Jüdinnen und Juden. Ihre Ermordung mahnt uns, nie wieder Menschenfeinde an die Macht zu lassen. Sie mahnt uns, die Menschenwürde in den Mittelpunkt unseres Miteinanders zu stellen. Auch dazu dienen heutige Erinnerungsorte wie der Goldbacher Stollen. Viele in diesem Saal haben ihn heute Nachmittag besichtigt. Er ist eine von vier Gedenkstätten im Zuge dieser Reise.

Auch die Theresienkapelle in Singen ist ein Ort historischer Schichtung: Dort, wo einst die Nazis Zwangsarbeiter in ein Lager pferchten, entstand nach dem Krieg ein Lager für deutsche Kriegsgefangene. Unter französischer Besatzung ließ man sie die Kapelle bauen, auf einem ehemaligen Bunker. Auch hier: Schichten von Geschichten. Wo in Gailingen einst eine Synagoge stand, steht heute das Jüdische Museum. Es erinnert an Jahrhunderte jüdischen Lebens, das über Jahrhunderte zum Ort gehörte, bevor es die Nazis verfolgten, vertrieben und vernichteten. Ohne die Orte des Gedenkens wären solche Zeitschichten verschüttet und irgendwann vergessen. So aber wissen wir um die Verluste der jüdischen Kultur in unserem Land und können daran mitwirken, diese Kultur wieder sichtbar zu machen. Das ist ein erklärtes Ziel des Landtags von Baden-Württemberg.

Auch die Gedenkstätte des jüdischen Dichters Jacob Picard und der jüdische Friedhof in Öhningen-Wangen erinnern an diese Kultur. An eine einst fest verwurzelte jüdische Landgemeinde, die vertrieben worden ist. Jacob Picard konnte den Nazis entkommen und seine Exilerfahrung zu Papier bringen. Aus dem Exil schrieb er immer wieder sehnsuchtsvoll über seine Heimat, seine Wurzeln. Erst im Alter kehrte Picard nach Deutschland zurück – in ein demokratisches Deutschland. Und das ist der entscheidende Punkt all jener Geschichten, die all jene Gedenkstätten bewahren: Wo einst Diktatur und Menschenverachtung vorherrschten, ist heute unsere Demokratie. Und dafür können wir nicht dankbar genug sein!

Meine Damen und Herren, unser Grundgesetz, unsere Bundesrepublik, unsere Demokratie sind dieses Jahr 75 Jahre alt geworden. Das Grundgesetz selbst ist die direkte Antwort auf das finsterste Kapitel der Geschichte. Und es ist älter geworden als jedes andere deutsche Verfassungsdokument. Die Gedenkstätten zeigen aber auch: Geschichte ist unbeständig. Oder wie Bundeskanzler Willy Brandt sagte: „Die Geschichte kennt kein letztes Wort.“ Das heißt, wir dürfen unsere Demokratie nicht für selbstverständlich halten. Und auch nicht unsere Erinnerungskultur, die Geschichte, wie wir sie uns erzählen. Auch sie ist im Wandel.

Jahrzehnte lang schien die Bundesrepublik die Vergangenheit versenken zu wollen wie altes Geröll im Bodensee. Es brauchte viel Zeit und Engagement aus der Bevölkerung, um die Erinnerung zu bergen und zu bewahren. Liebe Frau Assmann, Sie haben diesen Prozess vielfach beschrieben und sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Erinnerung von unten“, von einer „Wende vom Vergessen zum Erinnern“. Ich bin überzeugt: Diese Wende ist eine der wichtigsten Geschichten unseres Landes. Vielleicht sogar eine der besten. Leider gab es und gibt es Akteure, die Geschichte umschreiben wollen. Die die NS-Zeit als „Vogelschiss“ verharmlosen, die wieder einen Schlussstrich fordern, um wieder zum Nationalismus überzugehen.

Der Rechtsextremist und verurteilte Volksverhetzer Björn Höcke forderte vor Jahren eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Das ist nichts anderes als eine demokratische Geisterfahrt. Höcke bezeichnete auch das Denkmal der ermordeten Juden Europas als „Denkmal der Schande“. Für dieses Denkmal haben Sie, Frau Assmann, vor Jahrzehnten mitgekämpft und tagelang Unterschriften gesammelt. Es sind doch gerade solche Orte der Erinnerung, die uns warnen vor Hassrednern wie Höcke. Die uns aufhorchen lassen, wenn Rechtsextremisten wieder Deportationspläne schmieden. Wenn sie ihre Gegner bedrängen, bedrohen und verwunden. Wenn der Antisemitismus aufflammt. Wenn die Demokratiefeinde Zuspruch und Zulauf erhalten wie seit 75 Jahren nicht, und ein Menschenfeind wie Höcke womöglich im September ein Bundesland in seine Macht bekommt.

Millionen von Menschen protestierten Anfang des Jahres gegen Vertreibungspläne der Rechtsextremisten. Sie fühlten sich zurecht an die NS-Zeit erinnert und aufgerüttelt. Das beweist, dass unsere Gedenkkultur auch ein Warnsystem ist. Deshalb bedrohen die Demokratiefeinde aber auch unsere Gedenkkultur. Gedenkstättenvereine sorgen sich in manchen Bundesländern vor Kürzungen und Zensur, sollten die Rechtsextremen dort an die Macht kommen. Und nicht zuletzt werden viele Mitarbeitende in Gedenkstätten von Rechtsextremen beschimpft und bedroht. Das ist absolut inakzeptabel und ein Fall für die volle Härte des Rechtsstaates!

Aber auch hier ist es nicht nur die Aufgabe des Staates, sondern aller Demokratinnen und Demokraten, Haltung zu zeigen, dagegenzustehen, und unsere Demokratie zu verteidigen! Die Geschichte mag zwar kein letztes Wort kennen, aber doch haben wir alle ein Wörtchen mitzureden. Für den Landtag von Baden-Württemberg kann ich versichern: Die Gedenkstättenvereine haben von allen Parteien auf dem Boden der Verfassung die absolute Rückendeckung! Deshalb haben wir in den letzten Jahren die Mittel der Gedenkstättenförderung des Landes stetig erhöht. Insbesondere hat der Landtag zuletzt die Unterstützung für die kleinen und mittleren Gedenkstätten und -initiativen verstärkt.

Mir ist bewusst, dass es damit nicht getan ist. Nicht zuletzt fehlt es den Vereinen auch an Nachwuchs. Umso dankbarer bin ich den Menschen, die die Gedenkarbeit schultern. Ich möchte stellvertretend besonders den Menschen hier im Saal danken, die mir die Gedenkstätten dieser Reise näherbringen: Frau Dr. Appel und Frau Heuer vom Jüdischen Museum Gailingen, Herr Burger vom Stollenverein Überlingen, Frau Dr. Scheide vom Förderverein der Theresienkapelle Singen sowie Frau Overlack und Herr Wolf von der Gedenkstätte Jacob Picard: Herzlichen Dank für die Begegnungen und für Ihren Beitrag!

Meine Damen und Herren, wir als wehrhafter Rechtsstaat und als Zivilgesellschaft brauchen die Erinnerung so dringend wie nie. Erinnern wir uns heute, und für die Zukunft: Damit wir im Anbetracht der Vergangenheit nicht einen Schlussstrich ziehen, sondern die richtigen Schlüsse ziehen! Und der einzig richtige Schluss heißt: Bewahren wir uns die Demokratie! Bewahren wir uns diese Geschichte.